„Wir“ und die „Anderen“. Erkundungen im Grenzgebiet von Postkolonialismus und Theologie

„Wir“ und die „Anderen“. Erkundungen im Grenzgebiet von Postkolonialismus und Theologie

Organisatoren
Britta Konz / Bernhard Ortmann / Christian Wetz / Dominik Gautier / Sabine Hübner / Theresa Pieper, Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.08.2016 - 06.08.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Dominik Gautier, Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die von NachwuchswissenschaftlerInnen der Oldenburger Theologie organisierte Tagung widmete sich der Rezeption postkolonialer Kritik in bibelwissenschaftlicher, kirchenhistorischer, systematisch-theologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive. Sie stellte die Frage, wie theologisches Denken in den geschichtlichen Nachwirkungen des Kolonialismus aussehen kann, die nicht zuletzt auch heute in der Rede vom „deutschen Wir“ und den „geflüchteten Anderen“ spürbar werden.

Der systematische Theologe MICHAEL NAUSNER (Reutlingen) ging in seinem Vortrag den Spuren einer postkolonialen Theologie nach, für welche die Frage nach Zugehörigkeit die zentrale Herausforderung darstellen muss. Gerade das Christentum kann sich Nausner zufolge nicht auf eine klare Zugehörigkeit zur Welt berufen, welche dann die Zugehörigkeit Anderer bestreitet. Vielmehr ist in postkolonialer Perspektive das Mehrfachzugehörige, Hybride an der christlichen Existenz zu betonen. Begründet ist diese Vorstellung für Nausner darin, dass ChristInnen sich nie nur als zu einer Nation zugehörig verstehen können, sondern sich immer auch als aus der Welt Herausgerufene begreifen müssen, die zu Gott gehören. Nausner versteht gerade diese Mehrfachzugehörigkeit als ein Friedenspotential, kann es doch nationalistischen Dynamiken entgegenwirken. Diese Auffassung von Hybridität stellte auch eine weitere Studierendenpräsentation heraus. In ähnlicher Weise unterstrich die Religionswissenschaftlerin THERESA PIEPER (Oldenburg) in ihrem Vortrag, dass poststrukturalistische Vorstellungen von nicht-abgrenzenden religiösen Identitäten ein Potential besitzen, gesellschaftliche Abgrenzungsdynamiken zu unterlaufen. Gerade damit werde nicht die Möglichkeit emanzipatorischer Politik unterwandert. Vielmehr würden so Freiräume für emanzipatorische Bewegungen unterschiedlich Marginalisierter geschaffen.

Nach allgemeinen Ausführungen über die wissenskonstruierende und herrschaftskonstitutive Funktion des Archivs, entwarf der Kirchenhistoriker GLADSON JATHANNA (Mangalore) eine postkoloniale Archivkritik am Beispiel des Hermannsburger Missionsarchivs. Er stellte heraus, dass die dortige Quellenanordnung die Perspektive der Missionierenden privilegiert und so eine Erzählung der Mission in Indien als Erfolgsgeschichte nahelegt. Um eine postkolonial ausgerichtete und damit vielschichtige Erzählung der Mission zu entwickeln, die nicht die Stimmen der Missionierten tilgt, bedürfe es einer ständigen Kritik von Archiven und einer Unterwanderung des Quellenbegriffs. Geschehen kann dies, so Jathanna, indem schriftliche, vor allem aber auch nicht-schriftliche Äußerungen der Missionierten (etwa Kunst, Lieder oder Tanz) als Quellen herangezogen werden, um so einseitige Geschichtsschreibung aus der Perspektive der deutschen Missionierenden zu irritieren. Vor diesem Hintergrund widmeten sich Theologiestudierende der Analyse von Missionsfotografien, die in den forschungsbasierten Seminaren der Kirchenhistorikerin SABINE HÜBNER (Oldenburg) entstanden sind. Hierbei stand die kritische Beobachtung im Mittelpunkt, dass viele Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts aus dem Archiv der Norddeutschen Mission weiße Missionierende in den Fokus rücken und schwarze Missionierte als Heilsempfangende erscheinen lassen. Darüber hinaus wurden aber auch Betrachtungsweisen vorgeschlagen, die Mehrdeutigkeiten oder auch Selbstbestimmungsstrategien Schwarzer deutlich werden ließen. Die Studierenden konnten damit aufzeigen, dass sich scheinbar koloniale Bilder immer auch vermeintlichen Hierarchien entziehen können.

Die Alttestamentlerin JANNEKE STEGEMAN (Amsterdam) zeigte anhand des Umgangs mit den biblischen Figuren Jesus und Tamar, in welcher Weise koloniale Deutungsmuster in der Rezeption der Bibel bis heute nachwirken. Jesus wird – entgegen seiner Geschichte als Kritiker und Opfer imperialer Gewalt – als weißer Christus gezeichnet, der seiner kritischen Seite entledigt und herrschaftsförmig gemacht wird: Ein Vorgang, den Stegeman parallel zur Bildung eines Männerbundes als „bonding“ beschreibt. Demgegenüber wird die in Genesis 38 dargestellte Tamar stets – in einem Prozess des „othering“ – als die „Andere“ konstruiert. Entgegen einer anderen Lesart, welche die körperliche Selbstbestimmung Tamars wahrnimmt und ihr Verhalten als einen Widerstand gegen ihren Ausschluss versteht, wird sie in abwertender Weise wahrgenommen: Als Frau, die sich verschleiert, damit unerkannt zum Geschlechtsakt „verführt“ und sich schließlich durch Schwangerschaft die Zugehörigkeit zu Juda „erschleicht“. Gegen diese dominanten Deutungen sprach sich Stegeman dafür aus, die Figuren gerade in ihrer subversiven Kraft wahrzunehmen, die sich nachwirkenden kolonialen Vereinnahmungen entziehen. Einer solchen Spur ging auch der Neutestamentler CHRISTIAN WETZ (Oldenburg) in seinen exegetischen Überlegungen zum Jesuswort von der „zweiten Meile“ (Mt 5,41) nach. Die Besatzungspolitik erlaubte es römischen Soldaten, die Unterworfenen dazu zu zwingen, das Gepäck der Soldaten eine Meile weit zu tragen. Jesu Weisung, nun eine weitere, zweite Meile mitzugehen, kann mit Homi Bhaba als Schaffen eines „Dritten Raumes“ verstanden werden, in dem der Soldat in die Entscheidung gerufen wird, die imperiale Logik, die er repräsentiert, zu hinterfragen. Dieser „Dritte Raum“ steht im Zusammenhang mit der matthäischen Rede vom Reich Gottes, die Wetz als ein Alternativmodell zu den imperialen Verhältnissen präsentierte.

Der Religionswissenschaftler MAGNUS ECHTLER (Bayreuth) beschäftigte sich mit der Geschichte der Nazareth Baptist Church in Südafrika, die 1910 von Jesaja Schembe begründet wurde und der seither von den Kirchenangehörigen als Messias verehrt wird. Echtler konnte dabei zeigen, dass diese Gemeinschaft, in der sich Christentum und nicht-christliche südafrikanische Religiosität miteinander verbinden, das vorherrschende Verständnis eines „richtigen“ – auf die Einzigkeit Jesu als Messias ausgerichteten – Christentums anfragt. Auch der Kirchenhistoriker BERNHARD ORTMANN (Oldenburg) wandte sich der Debatte zu, was als „akzeptable“ Religion gelten kann. In seinem Vortrag zur Bedeutung der Religionen für eine globale Wirtschaftsethik setzte er sich kritisch mit Peter Schmiedels Werk „Philosophie, Religion und Wirtschaft“ (Marburg 2015) auseinander. Schmiedel entwickelt seine interreligiöse Wirtschaftsethik über eine Abgrenzung vom Hinduismus als dem wirtschaftsethisch untauglichen „Anderen“. In einer Perspektive der Dekonstruktion machte Ortmann dagegen deutlich, dass der Hinduismus eine in sich vielgestaltige Religionsformation darstelle, die sich nicht als Abgrenzungsmodell vereinnahmen lasse. Mit diesen Überlegungen wies Ortmann nicht nur Schmiedels Wirtschaftsethik zurück, sondern machte auch darauf aufmerksam, dass das Projekt einer interreligiösen Wirtschaftsethik auf postkoloniales Bewusstsein angewiesen ist, wenn sie die Produktion neuer Ausschlüsse schwächen will.

Auch mit Blick auf die Diskussionen bleibt festzuhalten, dass an postkolonialer Theologie weiter zu arbeiten ist. Vor allem eine Haltung selbstkritischen Denkens gegenüber häufig unbemerkten Annahmen stellt eine Herausforderung für die Theologie dar: Welche Literatur wird gewählt, welche Stimmen werden für akzeptabel gehalten? Darüber hinaus ist danach zu fragen, welche Konsequenzen für die (religiöse) Bildung zu ziehen sind: Wie können die Einsichten postkolonialer Kritik in den Diskurs über religiöse Identitätsbildung eingeflochten werden? Wie lernen wir von denen, deren Wissen geschichtlich immer für nichtig gehalten wurde? Schließlich wäre das Gespräch mit postnationalsozialistischen Ansätzen hilfreich: Es könnte dann eine Theologie entstehen, die sich rassismus- und antisemitismuskritisch den unabgeschlossenen Geschichten von christlicher Dominanz, Kolonialismus und Nationalsozialismus stellt – und sich damit auch machtkritisch zu den Konstruktionen von „uns“ und den „Anderen“ heute verhalten kann.

Konferenzübersicht:

Theresa Pieper (Oldenburg): Religiöse Identität – Macht – Diskurs. Mögliche Potenziale poststrukturalistischer Theorien für das Identitätsverständnis in Religionswissenschaft und Theologie

Gladson Jathanna (Mangalore): Postcolonial Re-imaginations. Interrogating Archival Space in Indo-European Encounters

Janneke Stegeman (Amsterdam): Decoloniality, Theology and Bodies. Tamar and Jesus as Examples of Othering and Bonding

Christian Wetz (Oldenburg): Die zweite Meile. Mt 5,41 in postkolonialer Perspektive – eine exegetische Erprobung

Michael Nausner (Reutlingen): Wer darf dazugehören? Anstöße Postkolonialer Theologie im Kontext der Migration

Magnus Echtler (Bayreuth): Wie postkolonial ist der schwarze Messias?

Bernhard Ortmann (Oldenburg): Wege und Irrwege einer interreligiösen Wirtschaftsethik in postkolonialer Perspektive.
Eine Kritik an den Ausführungen zum Hinduismus in
 Peter Schmiedels „Philosophie, Religion und Wirtschaft“ (Marburg 2015)

Studierendenpräsentationen: Finja Balzerkiewitz, Alysha Burrichter, Bernd Enninga, Lisa-Anima Fuhr, Mathias Gerr, Nina Hasselbring, Hauke Lindschulte, Venja Lowack, Sarah Ponath, Michal-Sophie Reimer, Sarah Rossow, Isabell Weber, Knut Wormstädt (alle Oldenburg)


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts