Grundlagen der Digitalisierung

Grundlagen der Digitalisierung

Organisatoren
Teilprojekt A02 „Standardisierungskultur der Telekommunikation im Spannungsfeld der digitalen und neoliberalen ‚Doppelrevolution‘ seit den 1980er-Jahren“, Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“, Universität Siegen
Ort
Siegen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.11.2016 - 11.11.2016
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Von
Nicole Schäfer, Sonderforschungsbereich „Medien der Kooperation“, Teilprojekt A02, Universität Siegen

Im Rahmen des Workshops „Grundlagen der Digitalisierung“ wurden unter besonderer Berücksichtigung der 1970er- bis 1990er-Jahre, der Schwellenjahre der Digitalisierung, die Ursachen für den Wandel vom analogen ins digitale Zeitalter genauer betrachtet. Neben den technischen Voraussetzungen wurden die sozio-ökonomischen und politischen Begleitfaktoren der Digitalisierung thematisiert. Das Ziel des Workshops war eine Untersuchung der ursächlichen Faktoren des digitalen Wandels.

Der Workshop fand unter dem Dach des Sonderforschungsbereiches „Medien der Kooperation“ an der Universität Siegen sowie dem Teilprojekt A02 „Standardisierungskultur der Telekommunikation im Spannungsfeld der digitalen und neoliberalen ‚Doppelrevolution‘ seit den 1980er-Jahren“ statt. Digitale Medien werden hier als Infrastrukturen der Kommunikation betrachtet, wobei geklärt werden soll, inwiefern sich die Kooperation durch Digitalisierungsprozesse verändert hat.

Zu Beginn des Workshops führte CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen) in das Forschungsinteresse des Projekts A02 ein. Es sollen Prozesse der kooperativen Erarbeitung technischer Infrastruktur und die Interdependenzen zu institutionellen Wandlungsprozessen während der digitalen und neoliberalen 'Doppelrevolution' der 1980er¬-Jahre genauer betrachtet werden. Am Beispiel der ISDN- Standardisierung seit Mitte der 1970er-Jahre, soll geklärt werden, wie sich die Transformation der Telekommunikationsinfrastruktur vom analogen ins digitale Zeitalter vollzogen hat.

Die Sektion "Nationale Datenpolitiken der 1960er/70er Jahre" wurde eröffnet durch BENEDIKT NEUROTH (Berlin), dessen Vortrag zur Datenpolitik in den USA der 1960er und 1970er Jahre, die technischen Grundlagen der Datenschutzdebatte behandelte. Neuroth nahm eine Periodisierung vor, indem er von der "Frühphase der Digitalisierung" sprach, geprägt durch die Entstehung einer gesellschaftspolitischen Datenschutzdebatte. Neben der Verwendung von Computern in der Bundesverwaltung aus Gründen der Effizienzsteigerung wurde am Beispiel von Kreditreporten die Verwendung von Computern in der Wirtschaft erläutert. Neuroth stellte zusammenfassend fest, dass, verbunden mit der Einführung von Computern in Wirtschaft, Politik und Universitätswesen, ein Datenschutzdiskurs über informationelle Selbstbestimmung losgetreten wurde.

Da der Diskurs um Kreditreporte und Privacy Debatten in der Geschichte der Datenerhebung nicht neu war, wurde in der anschließenden Diskussion die zeitliche Rahmung des Forschungsgegenstandes reflektiert. Betrachtet man den Komplex des Datenschutzes nicht nur aus der gesellschaftlichen Perspektive, sondern der technologischen, lässt sich ein Diskurs über Datenschutz bereits zu Zeiten des Lochkartensystems ausmachen. Darüber hinaus wurde die sich stets wandelnde Rolle des Staates und die differenzierende Bedeutung von Staatlichkeit und Privatheit in Zusammenhang mit der Forschung Neuroths diskutiert.

Im nächsten Beitrag der Sektion referierte MICHAEL HOMBERG (Köln) zu Datenverarbeitungsförderprogrammen in der BRD und der DDR. Ausgelöst durch den deutlichen Rückstand deutscher und westeuropäischer DV-Industrie gegenüber den USA, vollzog sich in den 1960er- und 1970er- Jahren ein Wandel in der Innovations- und Technologiepolitik. Der Diskurs um die "technologische Lücke" im Komplex der Datenverarbeitung griff um sich und führte in der BRD zur Förderung von Datenverarbeitungstechnik. Zwischen der BRD und der DDR bestand ein deutliches Innovations- und Technologie-Gefälle, welches die Parteiführung durch Industriespionage zu verkleinern versuchte. Homberg argumentierte, dass der digitale Durchbruch in Deutschland im Wesentlichen durch Vermittlung zwischen den europäischen Akteuren zustande kam und stellte abschließend fest, dass die deutsch-deutsche "Innovationskultur" geprägt war von der Abhängigkeit von Mensch und Mikrochip.

Anschließend wurde die Frage nach den Gründen des europäischen Rückstandes debattiert, und es wurde deutlich, dass im Vergleich zur kapitalintensiven Förderung von Technologieforschung in den USA, in Europa Bemühungen in diesem Umfang nicht angestellt wurden. Im Kontext der Gegenüberstellung wurde der Einwand gemacht, dass das Scheitern auch immer vom Vergleichsmaßstab abhängt. Es wurde die Frage gestellt, ob die technologische Lücke als Problem angesehen werden muss, oder ob sie als eine technologische Lücke zu einer innovativen Lücke werden und weitere Bereiche einnehmen kann. Darüber hinaus wurde eingewandt, dass die Forschungsentwicklung auch aus der Perspektive der Nachfrage betrachtet und interpretiert werden kann.

Die zweite Sektion "Die Digitalisierung und die internationalen Organisationen" wurde gestaltet durch CHRISTIAN HENRICH-FRANKE (Siegen) und seinen Vortrag zum Weltpostverein und der Digitalisierung von Kommunikation. Henrich-Franke nahm darin die bisher wenig untersuchte Perspektive der Post auf die Digitalisierung der Nachrichtenübermittlung ein. Weshalb reagierte der Weltpostverein abwartend auf die Entwicklung zunehmender elektronischer Kommunikation? Henrich-Franke stellte fest, dass die zögerliche Reaktion seitens der Post darin begründet lag, dass die Post in ihrer Geschichte neben den Möglichkeiten der elektrischen Nachrichtenübermittlung stets separiert bestanden hatte und in erster Linie dem Ziel des Versorgungsauftrags des flächendeckenden physischen Postdienstes nachgekommen war.

Die strikte Trennung von Post- und Telekommunikationsdienst wurde im Anschluss an den Vortrag reflektiert und die Teletex – Datenübertragung in die Diskussion einbezogen, welche jedoch zum Vergleich mit dem physischen Postdienst ungeeignet war, da die Teletex-Übertragung hauptsächlich innerbetrieblich verwand wurde und nicht flächendeckend eingesetzt werden konnte. Zur Nachvollziehbarkeit der späten Reaktion seitens der Post auf die Zunahme der elektrischen Nachrichtenübermittlung wurde betont, dass sich die Post weniger mit Produktinnovationen als mit der Verbesserung der laufenden Prozesse befasste, da sie mit geringen finanziellen Mitteln dem Versorgungsauftrag nachzukommen hatte. Abschließend wurde die Rolle des Faxes als Grenzbereich und dessen Entwicklung als Konkurrent der physischen Nachrichtenübermittlung diskutiert.

Zum Auftakt der Sektion "Gestaltung der digitalen Anwendungen" ging MATTHIAS RÖHR (Hamburg) auf die westdeutsche Mailboxszene der 1980er-Jahre ein und fragte nach einer "Amerikanisierung der Telekommunikation von unten?", indem er das Aufeinandertreffen von Heimcomputern und dem deutschen Fernmeldemonopol genauer betrachtete. In den frühen 1980er-Jahren folgten NutzerInnen in Deutschland dem amerikanischen Vorbild und schlossen ihre Heimcomputer an das Telefonnetz an. Das von der links-alternativen Hacker- und Mailboxszene erkannte demokratische Potential stieß auf das staatliche Endgerätemonopol. Zu dessen Kritikern zählte der Hamburger Chaos Computer Club, welcher neben Gefahren wie Kontrolle und Manipulation durch den Staat auch das Potential von Computern, alternative politische Strukturen aufzubauen, erkannte. Röhr schlussfolgerte, dass Mailboxen exemplarisch für die Bedeutungszunahme von Endgerätefreiheit und der Bedeutungsabnahme der physischen Infrastruktur stehen.

Im Plenum wurde argumentiert, dass sich Vertreter der Mailbox- und Hackerszene wie des Chaos Computer Clubs weniger als Akteure des Diskurses um Datenschutz betrachten lassen, sondern als ein historisches Transformationsphänomen. Mit Blick auf die Konflikte zwischen Netzbetreibern und Industrie wurden die Wirtschaftsliberalisierung und deren Einfluss auf die Endgerätefreiheit ebenso diskutiert wie die Rolle Japans als Weltmarktführer und schließlich der sukzessive Preisverfall des Computers.

Die Sektion "Gestaltung der digitalen Anwendungen" wurde durch AXEL VOLMAR (Siegen) mit einem Beitrag zur „Rolle audio-visueller Dienstleistungen beim Ausbau von Telekommunikationsinfrastrukturen“ abgeschlossen. Volmar skizzierte zunächst seinen Forschungsgegenstand, audiovisuelle Telekommunikation, und warf die Frage auf, wie sich die Geschichte der Videokonferenz schreiben lässt. Er rahmte seine Untersuchung durch die Betrachtung der Nutzungspraxis vom Picturephone bis zur Videokonferenz. Im Zuge der Entwicklung des Picturephones rückte der Nutzer in den Vordergrund und die Bedeutung von Technikmentalität spielte bei diesem Medium eine große Rolle. Mit der Geschichte des Picturephones erzählte Volmar aber gleichzeitig die Geschichte eines Mediums des Scheiterns. Wenngleich die Vision der Übertragung von Bildern in der Telekommunikation schon in den 1950er-Jahren existierte, konnte sich das Picturephone aufgrund der erforderlichen hohen Bandbreite nicht am Markt durchsetzen. Anhand von Filmausschnitten veranschaulichte Volmar die Störanfälligkeit von Infrastrukturen, die nach spontaner „Uminfrastrukturierung“ verlangt sowie den Digital Divide und die Vermischung vom Alltag im Hintergrund mit der Videokonferenz. An diesen Beispielen wurde die starke Verknüpfung von realer und digitaler Welt deutlich. Im Zusammenhang mit Telekommunikationsinfrastrukturen wurde in der anschließenden Diskussion die Bedeutung von verschiedenen Technikmentalitäten betont.

In der Sektion „Digitalisierung und Verwaltung“ sprach GUIDO KOLLER (Bern) über die Digitalisierung der Schweizerischen Bundesverwaltung und erläuterte die Bedeutung von Verwaltungsapparaten im Komplex von digitalem Wandel am Beispiel des „Zentralen Ausländerregisters“ (ZAR) der Eidgenössischen Fremdenpolizei in der Schweiz, welches beispielhaft für die frühe Digitalisierung öffentlicher Verwaltungen steht. Das ZAR dokumentierte ab 1970 Daten zur Ein- und Abwanderung von Ausländern in der Schweiz. Während die erhobenen Daten der Personen zunächst auf analogem Wege mittels Lochkarten dokumentiert und dann vom Rechenzentrum des Eidgenössischen Amtes für Statistik auf Magnetbänder übertragen wurden, setzte man ab 1975 Computer ein, und stellte somit eine digitale Verbindung zwischen dem ZAR und dem Rechenzentrum her. Koller erläuterte abschließend das konzeptuelle Modell der frühen Digitalisierung im öffentlichen Verwaltungssektor. Es war Hintergrund der Einführung der elektronischen Datenverarbeitung und der damit verbundenen Hoffnung auf schnelle und effiziente Datenverarbeitung. Im Vordergrund des Konzeptes standen organisatorische Aspekte und weniger die Technikentwicklung, wie in der Diskussion betont wurde. Auch der Themenkomplex Datenschutz wurde im Plenum besprochen, denn mit der Sammlung von Daten in diesem Umfang und der Vernetzung von Datenbanken, wandelte sich die Kultur des Umgangs mit Daten. Um Vertrauen und Sicherheit zu vermitteln, entstanden Gesetzesentwürfe als Grundlage für Datenschutz.

Als zentrales Ergebnis des Workshops lässt sich zusammenfassen, dass zu den ‚Grundlagen der Digitalisierung’ nicht nur das eine Narrativ existiert, sondern verschiedene Narrative die Grundlagen aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Dass multiple Wege ins digitale Zeitalter führten, wurde in den gehörten Beiträgen deutlich, insbesondere weil die Ursachen der Digitalisierung aus den Blickwinkeln der Nutzer und Anbieter ebenso wie der Politik und Wirtschaft beleuchtet wurden. Soziotechnische Veränderungen und auch die Bedeutung von Technikmentalität dürfen bei der Erklärung der ‚Grundlagen der Digitalisierung’ nicht ausgeblendet werden, denn Digitalisierung stellt auch immer ein kulturgeschichtliches Phänomen dar. Bei der Untersuchung von Digitalisierungsprozessen scheint es nicht nur lohnenswert, zwischen angebots- und nachfragegenerierten Entwicklungen zu differenzieren, sondern auch zwischen den Bereichen ‚Endgeräte‘, ‚Netze‘ und ‚Dienste‘, um Digitalisierungsprozesse strukturiert durchdringen zu können.

Mit Blick auf zukünftige Forschungsperspektiven wurde festgestellt, dass die digitale Forschung ihren Schwerpunkt auf dem transatlantischen Raum hat und dringend einer stärkeren Betrachtung des asiatischen Raums bedarf. Zudem erscheint eine komparative Betrachtung der thematisierten Entwicklungsfaktoren der Digitalisierung mit denjenigen der Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts eine neue Perspektive zu eröffnen.

Konferenzübersicht:

Sektion: Nationale Datenpolitiken der 1960er/70er Jahre

Benedikt Neuroth (Humboldt Universität zu Berlin): Datenpolitik. Computer, Informationen und Privatsphäre in den 1960er und 1970er Jahren

Michael Homberg (Universität zu Köln): Innovation nach Plan? Die DV- Förderprogramme in der BRD und der DDR

Sektion: Die Digitalisierung und die internationalen Organisationen

Christian Henrich – Franke (Universität Siegen): Und die Post?...Der Weltpostverein und die Digitalisierung der Kommunikation

Sektion: Gestaltung der digitalen Anwendungen

Matthias Röhr (Universität Hamburg): ,Amerikanisierung' der Telekommunikation von unten? Die westdeutsche Mailboxszene der 1980er Jahre

Axel Volmar (Universität Siegen): Vom Picturephone zur Videokonferenz: Überlegungen zur Rolle audio-visueller Dienstleistungen beim Ausbau von Telekommunikationsinfrastrukturen

Sektion: Digitalisierung und Verwaltung

Guido Koller (Bern): Die Digitalisierung der Schweizerischen Bundesverwaltung

Abschlussdiskussion: Zukünftige Forschungsperspektiven


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