Aurel Kolnais „Krieg gegen den Westen“

Aurel Kolnais „Krieg gegen den Westen“

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V an der Technischen Universität Dresden
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2016 - 02.07.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Benjamin Werner, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung / Linda Fleck, Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung

Als eine der frühesten und umfassendsten zeitgenössischen englischsprachigen Analysen zum Nationalsozialismus gilt das 1938 in London veröffentlichte Buch „War against the West“ (WAW) von Aurel Kolnai (1900-1973). Auf der Grundlage eines breiten Studiums politischer Literatur im Umkreis des Nationalsozialismus setzte sich der österreichisch-britische Philosoph umfassend mit der NS-Ideologie auseinander und arbeitete ihre anti-westliche, gegen die zentralen Werte und Verfahrensregeln demokratischer Verfassungsstaaten gerichtete, Stoßrichtung heraus. Obwohl das Buch viele Leser fand, geriet es in den folgenden Jahrzehnten weitgehend in Vergessenheit. Erst in jüngster Zeit werden die Schriften Kolnais wieder vermehrt rezipiert. Im deutschsprachigen Raum erregte vor allem die 2015 erstmals in deutscher Sprache erschienene historisch-kritische Ausgabe neuerliches Interesse. Die Neuausgabe bot Anlass für eine international ausgerichtete Tagung, die am 1. und 2. Juli 2016 im Dresdner Hannah-Arendt-Institut stattfand. Forscherinnen und Forscher aus vier Ländern ordneten Kolnais Werk in die zeitgenössische Diskussion ein und fragten ebenso nach dessen Bedeutung für die heutige Forschung.

Die erste Sektion eröffnend, spürte UWE BACKES (Dresden) der Frage nach, in welcher Weise Kolnai den Nationalsozialismus zum Bolschewismus in Beziehung setzte. Als Maßstab diente u.a. die Totalitarismusdiskussion der 1920er- und 1930er-Jahre. Backes rekonstruierte das Kolnai’sche Verständnis des „Westens“ und suchte zu zeigen, dass die westlichen Werte (wie Menschenrechte, Gewaltenteilung, Pluralismus) vor allem als Kontrastfolie zur NS-Ideologie dienten, kaum hingegen als heuristisches Hilfsmittel zum systematischen Vergleich mit anderen Ideologien und Bewegungen. Zwar habe Kolnai neben dem faschistischen Italien auch einen Bezug zum bolschewistischen Regime hergestellt, jedoch keinem strukturellen Vergleich mit dem Nationalsozialismus unterzogen. Er, der „totalitäre Politik“ im Sinne des Konzepts vom „totalen Staat“ verstand, wie es NS-nahe Juristen entwickelt hatten, klammerte den Bolschewismus gleichsam aus der Sphäre des Totalitarismus aus. Backes stellte fest, Kolnai habe den Nationalsozialismus im Vergleich zum Bolschewismus als die ungleich stärker anti-westlich geprägte Strömung angesehen. Zwei Beweggründe lagen dieser Einordnung zugrunde: zum einen die Überzeugung, der Nationalsozialismus stelle die bei weitem größere Gefahr für den Bestand der westlichen Demokratien dar, zum anderen der Bruch des Nationalsozialismus mit dem moralischen Universalismus. Wie Backes zeigen konnte, hatte Kolnai den Bolschewismus in seinen ersten Schriften unnachsichtiger beurteilt als Mitte der 1930er-Jahre und auch bereits sehr früh systematische Vergleiche zwischen den antagonistischen Bewegungen gezogen. Erst im kanadischen Exil knüpfte er daran wieder an und entwickelte sich zu einem Totalitarismustheoretiker im umfassenden Sinne des Wortes. Bemerkenswerterweise habe Kolnai seine „pro-westliche“ Haltung über alle intellektuellen Wandlungen hinweg im Kern bewahrt.

RICHARD STEIGMANN-GALL (Kent) setzte sich mit Kolnais These von der Unvereinbarkeit zwischen Nationalsozialismus und Christentum auseinander. Kolnais Überzeugung vom Nationalsozialismus als einer genuin anti-christlichen und gleichsam heidnischen Bewegung, die sich dem Kampf gegen das Christentum verschrieben habe, sei in dieser Pauschalität nicht nur falsch, sondern leide auch an Inkohärenz. Denn einerseits behaupte Kolnai, das Christentum erfahre unter der Herrschaftsgewalt des Nationalsozialismus eine Abkehr von seinem „reinen“, ursprünglichen Glauben. Andererseits wurzele dieses wiedererstarkende Heidentum in der Geschichte des Christentums und habe Ursprünge etwa im Protestantismus. Kolnais katholischer Glaube bildete den Fluchtpunkt der Argumentation Steigmann-Galls. Dieser liege der Befangenheit Kolnais und seiner tendenziösen Darlegungen zum Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Christentum zugrunde. Auch lasse sich damit Kolnais Auffassung vom Totalitarismus als gleichsam „pathologischer“ Konsequenz der Moderne samt ihrer säkularen Erscheinungsformen wie Liberalismus oder Sozialismus erklären, an deren Ausgangspunkt auch der Nationalsozialismus zu verorten sei. Steigmann-Gall plädierte dagegen für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die dessen Beziehung zum Christentum differenzierter herausarbeite.

MICHA BRUMLIK (Berlin) warf in seinem Beitrag die Frage auf, welche Rolle der rassistische Antisemitismus der Nationalsozialisten im „Krieg gegen den Westen“ spielte. Kolnai, selbst jüdischer Herkunft, behaupte, der Antisemitismus sei eine Haltung gegen die normativ gesetzte „westliche“ Kultur, also vor allem ein den Faschismen immanenter Bestandteil, der der „westlichen Welt“ ermangele. Ferner habe es Kolnai vorgezogen, von Antijudaismus als von Antisemitismus zu sprechen und in der „jüdischen Natur“ das Produkt einer religiösen Überzeugung und nicht einer rassischen Prägung gesehen. Brumlik verglich Kolnais Antisemitismus-Analyse mit den Thesen Adornos und Horkheimers in der „Dialektik der Aufklärung“. Die Vertreter der Frankfurter Schule hätten durch ihre sozialwissenschaftliche Analyse gezeigt, dass der Antisemitismus zum Kernbestand westlichen Denkens gehöre. Kolnai hingegen habe die westliche Kultur von jeglicher Kritik freigehalten.

Die zweite Sektion diente dem Vergleich von Kolnais Studie mit anderen zeitgenössischen Analysen des Nationalsozialismus. DAN STONE (London) kam zu dem Ergebnis, dass sich Kolnai insbesondere durch eine für Briten ungewöhnliche Herangehensweise ausgezeichnet habe. Wohl wissend um die der NS-Doktrin inhärenten Charakteristika wie Amoralität und Inhumanität, habe Kolnai seinem Untersuchungsgegenstand dennoch eine gewisse intellektuelle Größe und Relevanz eingeräumt. Da Kolnai den Nationalsozialismus als intellektuelle Herausforderung ernst genommen habe, sei es ihm gelungen, die Anziehungskraft und Attraktivität nationalsozialistischer Ideen herauszuarbeiten. Als ein profunder Kenner der NS-Ideologie habe er sodann den Schluss gezogen, dass es keinerlei Kompromisse mit dem NS-Staat geben dürfe und der Faschismus zerschlagen werden müsse – eine Sichtweise, die sich in Großbritannien nur langsam durchgesetzt habe. Denn so sehr Kolnai insbesondere die Rassenideologie in den Mittelpunkt rückte, so wenig taten dies britische Autoren. Viele hätten die Weltanschauung bagatellisiert oder sie, wie Emily Lorimer in „What Hitler Wants“ (1939), dem Spott preisgegeben. Genau darin, so Stone, manifestierte sich der eklatante Unterschied zwischen Kolnais Ansatz und dem seiner britischen Kollegen. Darüber hinaus seien die seinerzeit in Großbritannien virulenten Rassentheorien verantwortlich dafür gewesen, dass viele britische Autoren paradoxerweise die Praxis der Nationalsozialisten verurteilten, das dahinterstehende Konzept jedoch nicht.

MICHAELA HOENICKE MOORE (Iowa City) behandelte in ihrem Referat die Wahrnehmungen und Interpretationen des Nationalsozialismus in den amerikanischen Debatten ab den frühen 1930er-Jahren. Wie in England seien es die Auslandskorrespondenten gewesen, die die nationalsozialistische Ideologie und Rhetorik ernst nahmen und frühzeitig vor der vom NS-Regime ausgehenden Kriegsgefahr warnten. Auch gebe es Parallelen im Blick auf die Unterschätzung des Antisemitismus. Von ähnlichen Beobachtungen wie Kolnai ging der Vansittartismus aus, der den Nationalsozialismus als Ausdruck eines tief in der deutschen Geschichte verwurzelten, durch aggressiven Expansionswillen gekennzeichneten Geistes beschrieb. Dieses ursprünglich britische Erklärungsmodell, das von der Regierung Roosevelt aufgegriffen worden sei, blieb aber in den USA bis 1944 stark umstritten. Warum sich die breite amerikanische Öffentlichkeit lange Zeit gegen die nicht selten als kriegstreiberisch stigmatisierten Postulate Kolnais, der US-Regierung und anderer Geistesverwandter – zuvörderst im linksliberalen Lager – sträubte, erklärte Moore mit der seinerzeit in der amerikanischen Gesellschaft vorherrschenden pazifistischen Einstellung und der grundsätzlichen Toleranz gegenüber abweichenden Ideologien.

Zum Abschluss der zweiten Sektion richtete ROLF ZIMMERMANN (Freiburg) den Blick auf Schnittpunkte zwischen Kolnais „War against the West“ und dem 1942/1944 erschienenen „Behemoth“ Franz Neumanns. Kolnais ideologiekritischer Ansatz nehme eine idealtypische Unterscheidung zwischen dem egalitären Universalismus des Westens und dem nationalsozialistischen Partikularismus der arisch-deutschen Volksgemeinschaft und Rassenhierarchie vor (Kolnai: "moralistic type" versus "imperial type"). Neumann baue in seiner Strukturanalyse insofern darauf auf, als er den Nachweis führe, dass die im Gefüge der NS-Herrschaft ausgebildeten Machtzentren (Partei, Armee, monopolistische Industrie, Bürokratie, charismatische Führerfigur) die klassische Souveränität des Staates auflösten und den Begriff eines „Unstaats“ ("Non-State") nahelegen, der für die Herrschaft der Gesetzlosigkeit stehe. Daher habe Neumann im Anschluss an Thomas Hobbes den Titel „Behemoth“ gewählt, dem souveränitätstheoretisch der „Leviathan“ als Ordnungsmacht gegenüberstehe. Was den Antisemitismus angehe, so stehe bei Kolnai die Einsicht in den normativen Antijudaismus des Nationalsozialismus als Anti-Universalismus im Vordergrund, während Neumann durch die später erlangten Kenntnisse zur Judenvernichtung zunehmend auf Fragen gestoßen sei, denen die sozialpsychologische Täterforschung bis heute nachgehe.

Zum Einstieg in die dritte Sektion konfrontierte WOLFGANG BIALAS (Berlin) das von Kolnai 1936 entworfene Bild des Nationalsozialismus mit der gegenwärtigen Forschung. Früh habe Kolnai das Rassenkonzept, das der „arischen Rasse“ einen „natürlichen“ Machtanspruch zuspricht, als ideologischen Kern des Nationalsozialismus begriffen. Vom Ausland zunächst nicht ernst genommen, wandelte sich die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Bewegung mit den ersten innen- und außenpolitischen Erfolgen Hitlers. Beispielhaft sei hier die gleichzeitige Zerschlagung und Integration der Arbeiterbewegung zu nennen, durch die Hitler den Klassenkampf für beendet erklärte und seine Machtposition sicherte. Die Auswirkungen der NS-Machtkonsolidierung seien allerdings Mitte der 1930er Jahre noch keineswegs klar vorhersehbar gewesen. Daher stelle sich die Frage nach der Intention Kolnais bei der Titelwahl "Krieg gegen den Westen". Aus Kolnais Sicht habe die Propagierung einer rassischen Überlegenheit den bürgerlichen Idealismus zerstört, die Errungenschaften der Aufklärung umgekehrt und sie durch die "natürlichen" Triebkräfte zur „Gesundung der Rasse“ ersetzt. Dies musste nach Kolnais Überzeugung – unabhängig von taktischen und strategischen Kalkülen und ungeachtet jeder denkbaren Entwicklung des Nationalsozialismus – zwingend zur Konfrontation mit dem Westen und zum Krieg führen.

GRAHAM McALEER (Baltimore) bemerkte, dass aktuellen politischen Debatten die notwendige grundsatzorientierte Auseinandersetzung fehlte. Exemplarisch nannte er dafür die neuerliche Gleichsetzung des IS mit den Nationalsozialisten ohne hinreichende Begründung innerhalb der Medien. Als links-konservativer Journalist in Österreich hatte Kolnai den Nationalsozialismus 1938 gegenüber dem Kommunismus als größere Bedrohung gewertet. Eine deutlich differenziertere Einschätzung sah McAleer in dem 1950 veröffentlichten Essay Kolnais "Three Riders of the Apocalypse“. Darin stellte Kolnai die These auf, dass nicht eine Staatsform allein Gefahrenpotential in sich trage, sondern dass es sich bei den bekannten Staats- und Gesellschaftsformen (Nazismus, Kommunismus, Demokratie) um ein „dreiköpfiges Monster“ handle, bei dem jeder „Kopf“ einen exklusiven Anspruch auf die Rechtmäßigkeit seiner Moralvorstellung und Systemstruktur erhebe. Jene Differenzierung sei für aktuelle Problemfelder der Schlüssel zu zielführenden Debatten, da sonst die Gefahr bestünde, erneut in primitive Denkmuster zu verfallen.

ZOLTÁN BALÁZS (Budapest) untersuchte in der vierten und letzten Sektion Kolnais Konzept von Politik mit Rückgriff auf Carl Schmitts „Begriff des Politischen“ von 1932. Obgleich Kolnai schon früh Schmitts Verständnis von Politik als irrational kritisiert habe, nutzte er dessen Thesen im „War against the West“ doch, um den eigenen Politikbegriff zu entfalten. Erforderlich sei dabei die Herausarbeitung der Rolle der Moral, die für Kolnai universell und handlungsweisend ist, während sie bei Schmitt vom Staat bestimmt wird. Zudem setze bei Schmitt der Begriff des Staates den des Politischen voraus, solange Staat und Gesellschaft separiert blieben. Würden sich Staat und Gesellschaft dagegen gegenseitig durchdringen, würden Aspekte des Zusammenlebens wie Kultur, Religion oder Wirtschaft ebenfalls politisch. Dann entstehe ein „totaler Staat“. Kolnai verstehe Politik hingegen als Feld des menschlichen Handelns, wo divergente Einstellungen Konflikte verursachen, gleichzeitig aber die nötige Basis für Lösungen schaffen.
Die Abschlussdiskussion führte die Teilnehmer noch einmal zu Kolnais Gesamtwerk, bei dem die Entwicklung des Autors unter dem Eindruck bedeutender politischer Ereignisse und Entwicklungen berücksichtigt werden müsse. Einigkeit herrschte über die Bedeutung des Buches, welches im Vergleich zu anderen frühen Untersuchungen als einziges mit der gebotenen Ernsthaftigkeit die Ideologie des Nationalsozialismus analysiert und als Gefahr erkannt habe. Auch heute bieten Kolnais Ausführungen Anregungen für die Forschung. Um den internationalen Austausch zu fördern ist eine Veröffentlichung der Tagungsreferate in deutscher und englischer Sprache geplant.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung durch Günther Heydemann (Dresden)

Sektion I: Themen Kolnais in „Krieg gegen den Westen“

Uwe Backes (Dresden), Kolnais Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus im Kontext des zeitgenössischen Diktaturenvergleichs

Richard Steigmann-Gall (Kent), Kolnais Auseinandersetzung mit dem heidnischen Christentum des Nationalsozialismus

Micha Brumlik (Berlin), Die Rolle des Antisemitismus in der zeitgenössischen Kritik des Nationalsozialismus

Sektion II: Kolnai im Vergleich mit zeitgenössischen Analysen des Nationalsozialismus

Dan Stone (London), Aurel Kolnais „Krieg gegen den Westen“ im Vergleich mit zeitgenössischen britischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus

Michaela Hoenicke Moore (Iowa City), Aurel Kolnais „Krieg gegen den Westen“ im Vergleich mit zeitgenössischen US-amerikanischen Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus

Rolf Zimmermann (Freiburg), Aurel Kolnais „Krieg gegen den Westen“ im Vergleich mit Franz Neumann (Behemoth)

Sektion III: Werksgeschichte und Rezeption

Wolfgang Bialas (Berlin), Kolnais „Krieg gegen den Westen“ aus der Sicht heutiger Forschungen zum Nationalsozialismus

Graham McAleer (Baltimore), Kolnais „Krieg gegen den Westen“ im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus

Sektion IV Kolnais politische Philosophie

Zoltán Balázs (Budapest), Kolnais Konzept von Politik

Abschlussdiskussion