3. Rigaer Symposium

Organisatoren
Deutsches Riga-Komitee (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.)
Ort
Osnabrück
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.09.2016 - 22.09.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Nadja Grintzewitsch, Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V., Berlin

Welche neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse gibt es über die Deportationen der über 25.000 jüdischen Menschen nach Riga und deren Schicksal? Wie kann im Jahr 2016 angemessen an die deportierten Männer, Frauen und Kinder erinnert werde? Und wie können insbesondere Jugendliche in diese Erinnerungsarbeit eingebunden werden? Diesen Fragen geht seit seiner Gründung im Jahr 2000 das deutsche Riga-Komitee nach, welches aus mittlerweile 55 Mitgliedsstädten besteht. Es ist Teil des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge.

Osnabrück war nach Magdeburg und Münster der dritte Austragungsort des Rigaer Symposiums, auf dem die Repräsentanten der Mitgliedsstädte vom 21. bis zum 22. September 2016 zusammenkamen, um einen Austausch zu ermöglichen. Anwesend waren 77 Vertreter aus immerhin 30 Mitgliedsstädten.

Oberbürgermeister WOLFGANG GRIESERT begrüßte die Anwesenden im historischen Friedenssaal des Osnabrücker Rathauses. Er betonte die Verpflichtung Osnabrücks als Friedensstadt und Aushandlungsort des Westfälischen Friedens, sich für einen nachhaltigen Frieden in Europa einzusetzen. Griesert übergab das Wort an den inzwischen zurückgetretenen Volksbund-Präsidenten MARKUS MECKEL, der in seinem Grußwort an die vielen ungekennzeichneten Orte des Massenmords an Juden, auch außerhalb Lettlands, erinnerte. Diese seien oft weder als würdige Gedenkorte gekennzeichnet noch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Franziska Jahn – Das Konzentrationslager Kaiserwald

Nach einer kurzen Vorstellung des Programms begann das zweitägige Symposium mit einem Fachvortrag durch FRANZISKA JAHN (Berlin) zum Konzentrationslager Riga-Kaiserwald. Jahn hatte für ihre Promotion über 2.000 Zeugnisse von 1.400 Überlebenden des Konzentrationslagers ausgewertet, das sie als „zentralen Ort des Holocaust im Baltikum“ bezeichnete. Der im März 1943 gegründete Komplex, so Jahn weiter, gelte in Öffentlichkeit und Forschung noch immer als „Terra Incognita“ und suche nach seinem Platz in der Erinnerungslandschaft. Das Interesse des Publikums in der sich anschließenden Fragerunde richtete sich insbesondere auf die Betriebe, für welche die zumeist jüdischen Häftlinge arbeiten mussten. Jahn erläuterte die Bedeutsamkeit der Region Riga als Nachschubzentrum für das deutsche Heer; dementsprechend hätten die meisten Häftlinge in der Rüstungsindustrie arbeiten müssen. Auch auf die Rekrutierung und Zusammensetzung der KZ-Wachmannschaften ging sie näher ein. „Teile des Kommandanturstabes und der Wachtruppen stammten aus Sachsenhausen“, erklärte Jahn. Der überwiegende Teil der Wachtruppen habe sich jedoch aus rumänischen und serbischen „Volksdeutschen“ rekrutiert, die aus Siebenbürgen kamen. Der Vortrag endete mit dem Ausblick, dass Jahns Dissertation in gedruckter Form wahrscheinlich 2017 im Metropol-Verlag erscheinen wird.

Wer zeugt für den Zeugen? – Augenzeugenberichte und die „Zweite Generation“

In diesem Programmteil wurden Ausschnitte aus dem Film „Wir haben es doch erlebt“ des Regisseurs Jürgen Hobrecht gezeigt. Die kurzen Szenen spannten einen Bogen vom Beginn der Deportationen aus Osnabrück und Bielefeld bis zum Besuch zweier Überlebender in Riga 50 Jahre später. Komplementiert wurden dieser Programmpunkt durch eine Lesung der ausführlichen Zeitzeugenberichte der Protagonisten durch MARTINA SELLMEYER (Osnabrück), der Autorin des Buches „Stationen auf dem Weg nach Auschwitz: Entrechtung, Vertreibung, Vernichtung. Juden in Osnabrück 1900–1945“.

Im Anschluss moderierte der Radiojournalist und Historiker Heiner Wember ein Interview mit WOLFGANG OHL (Hamburg), dem Sohn der nach Riga deportierten und inzwischen verstorbenen Osnabrückerin Irmgard Ohl. Dieser betonte, dass es ihm nie in den Sinn gekommen sei, anstelle seiner Mutter an Schulen zu gehen und über ihr Schicksal zu berichten, wie es andere Nachkommen von Überlebenden vielleicht täten. Die Authentizität, die seine Mutter ausgestrahlt hätte, sei dann mit Sicherheit nicht mehr vorhanden. Die Frage „Wer zeugt für den Zeugen?“ konnte somit, und das ist nicht verwunderlich, keinesfalls abschließend beantwortet werden.

Am Abend des ersten Tages fand eine vom Volksbund und der Stadt Osnabrück organisierte Gedenkzeremonie am Standort der Osnabrücker Synagoge unter Beteiligung einer Berufsschule statt.

Cornelia Siebeck – Judendeportation aus deutschen Städten – zwischen Erinnerungskultur und Bildungsarbeit

Gedächtnis muss lebendig bleiben, sollte immer wieder aktualisiert werden, darf nicht museal werden. Dies waren die zentralen Thesen CORNELIA SIEBECKS (Berlin), deren pointierter Vortrag den Auftakt zur Abendveranstaltung des Symposiums bildete. Sie betonte auch, dass die Verankerung der Erinnerung an die NS-Verbrechen in eine „Staatsräson“ nicht immer nur Vorteile, sondern im Gegenteil auch Gefahren mit sich brächte. Denn die Erinnerung an den Nationalsozialismus dürfe nicht zur Selbstverständlichkeit werden, sondern müsse immer wieder aufs Neue „zu einer Quelle subjektiver und kollektiver Selbstbeunruhigung werden“, womit Siebeck den Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Volkhard Knigge, zitierte. Dass sie dafür plädierte, den Status Quo immer wieder zu hinterfragen und die zahlreichen Gedenkzeichen, Denkmäler und Gedenkstätten einerseits zwar als „Errungenschaft“ würdigte, gleichzeitig jedoch etwas despektierlich als „Möblierung des öffentlichen Raums“ bezeichnete, dürfte vielen Menschen im Publikum sauer aufgestoßen sein; gerade jenen, die sich bereits seit Jahrzehnten für die Etablierung einer Erinnerungsarbeit in Deutschland einsetzen.

Podiumsdiskussion

Allein die Diskussion von Siebecks Vortrag, der notwendige und teilweise überfällige Denkanstöße bot, hätte ergiebigen Diskussionsstoff erbracht. Stattdessen wurde in dem sich anschließenden Podiumsgespräch jedoch auf Fragestellungen zurückgegriffen, deren Diskussion, wie JENS-CHRISTIAN WAGNER (Celle) zutreffend bemerkte, einer „Retro-Debatte“ gleichkam („Was passiert mit Erinnerungskultur, wenn die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben?“). Möglicherweise spielte diese Tatsache mit in den Umstand hinein, dass Teile des Publikums ihre Erwartungen an die Veranstaltung nicht erfüllt sahen und dies im späteren Verlauf auch lautstark äußerten. Einen zentralen Punkt sprach Wagner an, als er forderte, in Hinblick auf aktuelle Entwicklungen, die Auseinandersetzung mit dem NS „gesellschaftsgeschichtlich zu rekontextualisieren“, sich also mit den Wirkungsmechanismen einer radikal rassistischen Gesellschaft auseinanderzusetzen. Dies böte genug Zunder für gegenwärtige Debatten und auch die Möglichkeit, jenseits historisch falscher Analogien Gegenwartsbezüge herzustellen.

Die Frage, die im Publikum offenbar viele bewegte, war, wie man „Jugendliche mit Migrationshintergrund“, und gemeint waren offenbar vor allem Jugendliche muslimischen Glaubens, in die aktuelle Erinnerungskultur mit einbeziehen könne. Cornelia Siebeck endete schließlich mit einem Aspekt, der in seiner Relevanz nicht von allen gesehen wurde: „Der Zweite Weltkrieg war ein internationales, global wirkendes Ereignis.“ Die Geschichte des Nationalsozialismus wirke bis heute massiv in aller Welt nach, und daher glaube sie, dass es vielfach Anknüpfungspunkte gäbe. Es ginge, so Siebeck, vor allem darum, „Bezüge aufzumachen“ und den Leuten zu erlauben, in diese Geschichte einzusteigen. Auch müsse man die eigene Geschichte möglicherweise ein Stück weit loslassen und schauen, welche neuen Blickwinkel von anderer Seite herangetragen würden.

Andrej Angrick – Die Operation 1005

Von „eklatanten Quellenproblemen“ sprach ANDREJ ANGRICK (Hamburg), wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, eingangs in seinem Vortrag. Im Zusammenhang mit der streng geheimen Operation 1005, dem Tarnwort für die Beseitigung der Massengräber und für die Verbrennung der teils stark verwesten Opfer deutscher Erschießungen, existierten an zeitgenössischen Quellen gerade einmal zehn bis fünfzehn Blatt Papier. Auch seien die Dokumente teilweise in Tarnsprache verfasst. Angrick verschaffte den Zuhörenden dennoch einen umfassenden Überblick über die allgemeinen Abläufe der Operation 1005 und leitete dann über auf die Region Lettland und speziell die Gegend um Riga. Der gut strukturierte Vortrag machte deutlich, dass nicht nur die Massenmorde selbst von den Tätern sorgsam geplant wurden: Auch die Vertuschung der Mordaktionen, im Frühjahr 1942 beschlossen, wurde akribisch vorbereitet. Insbesondere die Tatsache, dass die Wehrmacht während der „Probephase“ der Leichenbeseitigung Brandstoffe und Sprengmeister zur Verfügung gestellt hatte und die „Enterdungsaktionen“ auch später indirekt unterstützte, stießen im Publikum auf Fassungslosigkeit.

Ein 1.100 Seiten starkes Manuskript mit den Forschungsergebnissen Angricks befindet sich zurzeit im Vorlektorat und wird voraussichtlich 2017 erscheinen.

Die im Anschluss geplante Vorstellung der Gedenkstätte Žanis Lipke per Skype-Konferenz musste leider entfallen.

„Good Practice“ – drei Projekte zur Erinnerungskultur

Der sich anschließende Programmpunkt versuchte, einen Bogen zur pädagogischen Arbeit zu spannen. Zunächst verschaffte CHRISTINE GREWE aus dem Büro für Friedenskultur (Stadt Osnabrück) einen allgemeinen Überblick über die Handlungsfelder, für die sich die Stadt einsetzt. Als Beispiel nannte sie eine im Aufbau befindliche Datenbank mit aktuell 240 Orten, die zum Ziel hätte, „regionalgeschichtliche Leerstellen“ zur NS-Geschichte zu füllen. In einer Datenbank seien 240 Orte gesammelt, die für die NS-Geschichte relevant waren. Geplant sei, die Ergebnisse als Informationsquelle für die Öffentlichkeit bereit zu stellen. Sie betonte die Mitarbeit der Schulen an Gedenkveranstaltungen der Stadt. „Man muss den Mut haben, auch mal andere Gestaltungsformen zuzulassen“, fasste Grewe zusammen.

Anschließend präsentierten zwei Vertreterinnen der Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht sowie des Vereins „Judentum begreifen“ die Wanderausstellung „Einblicke – Die unbekannten Zeitzeugen von Krieg und Judenvernichtung“, die während des Symposiums im Foyer des Rathauses gezeigt wurde. In der Ausstellung wurden 26 Lebenswege von jüdischen Einwanderern aus der Sowjetunion nachgezeichnet, die heute in Osnabrück leben. Die Einbindung von Jugendlichen in die Konzeption habe hierbei eine große Rolle gespielt. Auch sei das Ziel gewesen, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren, sondern zu zeigen, dass sie auch vor und nach der Verfolgungsgeschichte ein individuelles Leben führten. Ein eigens erstelltes pädagogisches Konzept für die eigenständige Bearbeitung komplementiert die Wanderausstellung, die von den Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht entliehen werden kann.

Schließlich präsentierte MICHAEL GANDER (Osnabrück) das Konzept der neuen Dauerausstellung der Gedenkstätten Gestapokeller und Augustaschacht und die pädagogische Arbeit der Einrichtung. Hervorzuheben ist hier, dass in die Konzeption der inzwischen barrierefreien Dauerausstellung von Anfang an zwei Pädagoginnen einbezogen wurden. Zeitgleich entstand so ein pädagogisches Konzept, in das zentrale pädagogische Standards verankert wurden.

Ausblicke und Ergebnisse

Der letzte Programmpunkt der zweitägigen Veranstaltung beinhaltete einen gemeinsamen Blick auf zukünftige Symposien des Riga-Komitees. THOMAS REY, Ansprechpartner für das Riga-Komitee, regte zum wiederholten Mal einen Austausch über das bereits bestehende Forum (http://www.riga-komitee.de) an.

Gleich mehrere Teilnehmerinnen und Teilnehmer regten die Errichtung neuer Denkmäler und Informationstafeln auf lettischem Gebiet an, so zum Beispiel am Bahnhof Šķirotava, wo bisher nichts an die Ankunft der aus Deutschland deportierten Juden erinnere. Ein Zuschauer merkte an, dass es – wie bereits 2015 auf dem Symposium in Münster besprochen – schön wäre, auch zivilgesellschaftliche Kontakte zu knüpfen und „jenseits des großen Protokolls mit Akteuren vor Ort ins Gespräch zu kommen“. Eine Überlegung für ein zukünftiges Symposium war, den Fokus auf Rettungs-und Hilfsaktionen zu legen, über die man im Einzelfall immer noch zu wenig wisse. Dies sei gerade in Hinblick darauf, auch jüngeres Publikum auf die Arbeit des Riga-Komitees aufmerksam zu machen, wichtig. Dass gerade das Thema der Jugendarbeit die Teilnehmenden umtrieb, sah man auch am Beitrag einer ehemaligen Lehrerin. Sie regte an, selbst initiierte Erinnerungsprojekte, in die Schülerinnen und Schüler eingebunden sind, vorzustellen. „Die jungen Leute sind unsere Zukunft, und um die müssen wir uns vor allen Dingen kümmern“, fasste die Zuhörerin den zentralen Leitsatz der neuen Ausrichtung des Volksbunds zusammen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Einheiten zum historischen Stand aktuell und solide waren, aber die erinnerungskulturelle Sicht (Generativität, Jugend und Vielfalt/Migration) um etwa 20 bis 30 Jahre hinter dem Debattenstand lagen. Damit wird man im Riga-Komitee umgehen müssen.

Konferenzübersicht:

Christine Glewe (Stadt Osnabrück) und Thomas Rey (Volksbund): Einführung in das Symposium

Franziska Jahn (Berlin): Das KZ Riga-Kaiserwald – Herkunft und Lageralltag der Häftlinge

Martina Sellmeyer (Osnabrück): Wer zeugt für den Zeugen? Dokumentation, Textlesungund

Interview mit Wolfgang Ohl (Hamburg)

Cornelia Siebeck (Berlin): Judendeportationen aus deutschen Städten – zwischen Erinnerungskultur und Bildung

Podiumsdiskussion
mit Cornelia Siebeck (Berlin), Malte Holler (Berlin), Jens-Christian Wagner (Celle), Rolf Wernstedt (Hannover)

Andrej Angrick (Hamburg): Die Operation 1005 – Zum Einebnen der Massengräber in und um Riga vor dem Abzug der Wehrmacht

Christine Grewe (Osnabrück): Erinnerungskultur in Osnabrück

Uta Vergin und Inessa Goldmann (Osnabrück): Die Ausstellung „Einblicke – Die unbekannten Zeitzeugen von Krieg und Judenvernichtung“

Michael Gander (Osnabrück): Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller Osnabrück: Anforderungen an eine zeitgemäße Dauerausstellung und pädagogische Konzeption


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