Transfigurationen. medizin macht gesellschaft macht medizin. Trinationale Tagung zur Medical Anthropology in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Transfigurationen. medizin macht gesellschaft macht medizin. Trinationale Tagung zur Medical Anthropology in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Organisatoren
Arbeitsgruppe Medical Anthropology Switzerland, Schweizerische Ethnologische Gesellschaft (SEG); Wiener Dialoge der Medizinanthropologie; Arbeitsgruppe Medical Anthropology der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde (DGV e.V.)
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
17.02.2017 - 18.02.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Mira Menzfeld, Orientalisches Seminar / Institut für Ethnologie, Universität zu Köln / AG Medical Anthropology, Deutsche Gesellschaft für Völkerkunde e.V.

Medizinanthropolog/innen thematisierten, diskutierten und initiierten transfigurative Prozesse auf der Konferenz „Transfigurationen. medizin macht gesellschaft macht medizin“ am 17. und 18. Februar 2017 in Basel. Drei zusammenfallende Anlässe – das 25-jährige Bestehen der Medical Anthropology Switzerland (MAS), das 20-jährige Jubiläum der AG Medical Anthropology in Deutschland (AGMA) und die Etablierung der Wiener Dialoge der Medizinanthropologie in Österreich (Wiener Dialoge) im Jahr 2012 – feierten wir in Form eines Treffens, das sich gemeinsamen Standortbestimmungen und konstruktiven Ausblicken auf die bisherigen und zukünftigen Entwicklungen der Subdisziplin widmete.

Transfigurative Elemente der deutschsprachigen Medical Anthropology spiegelten die Eröffnungsansprachen aus den verschiedenen Ländergruppen von SYLVIE SCHUSTER (MAS), PIET VAN EEUWIJK (MAS), DOMINIK MATTES (AGMA) und RUTH KUTALEK (Wiener Dialoge). Die jeweiligen Interessengemeinschaften sind trotz und wegen ihrer hierarchisch flachen, offenen Strukturen zu relevanten Vernetzungsplattformen und Ideengebern für Sozial- und Kulturanthropolog/innen in den verschiedenen Ländern geworden. Selbstbenennungen und -verständnisse wechselten im Lauf der Zeit, initiierende Personen blieben und gestalteten den Wandel von Ethnomedizin zu Medical Anthropology / Medizinethnologie, die sich – im Gegensatz zur Ethnomedizin – zunehmend in den Universitäten und innerhalb der weiteren Disziplin Ethnologie (bzw. Sozial- und Kulturanthropologie) etabliert hat.

Vertieft wurden diese Gedanken zur Etablierung des eigenen Fachgebiets im Rahmen des Roundtable aus Gründungsmitgliedern der verschiedenen Arbeitsgemeinschaften und Nachwuchswissenschaftlerinnen, an dem HANSJÖRG DILGER (Berlin), BRIGIT OBRIST (Basel), BERNHARD HADOLT (Wien), ELENA JIROVSKY (Wien), CONSTANZE PFEIFFER (Basel) und MIRA MENZFELD (Köln) teilnahmen: Heute gestalten Gründungsmitglieder in den verschiedenen Arbeitsgemeinschaften gemeinsam mit einer vergleichsweise großen Gruppe von Nachwuchswissenschaftler/innen und Praktiker/innen, was Medizinethnologie ist. Die Interessengemeinschaften der Länder sind – auch wegen der zwar wachsenden, aber weiterhin insgesamt geringen institutionellen Etablierungen dezidiert medizinethnologischer Lehrstühle – die entscheidenden Orte, an denen das Fachgebiet gedacht und gemacht wird.

Das World Café am zweiten Tagungstag war nicht nur eine Plattform physischer, sondern auch geistiger Dynamik: An wechselnden Diskussionstreffpunkten diskutierten die Teilnehmenden verschiedenste Arbeitsbereiche, Kompetenzzuschreibungen und Verortungen von Medical Anthropology. Die Heterogenität und unterschiedliche Facettierung von Berufserfahrungen hinsichtlich der Erlangung und Anwendung medizinethnologischen Wissens, aber auch der Bedarf an inter- und transdisziplinärer Offenheit und Übersetzung facheigener Erkenntnisse und Methoden, präsentierten sich als wichtige Themen für viele Kolleg/innen. Intra-, inter- und transdisziplinäre Vielfalt und die resultierende Herausforderung kontinuierlicher Selbstreflexivität bilden wichtige Pfeiler der Selbst- und Fremdwahrnehmung von Medizinethnolog/innen. Flexible Kompetenzidentitäten sind in transfigurationsintensiven Zeiten adäquat, erlauben das Adressieren und Identifizieren von Problemen und Lösungsansätzen, und gestatten ein fruchtbares Einbringen in praktische Arbeit und fachübergreifende Diskurse. Unter anderem die Keynote von ANDREA MUEHLEBACH (Toronto) konkretisierte das Erkenntnispotential und die Anschlussfähigkeit medizinethnologischer Ansätze innerhalb des Fachs selbst durch eine dichte Beschreibung und Interpretation von Selbstverbrennungsökonomien in Italien.

Die Präsentation und lebendige Diskussion aktueller Forschungen in den sechs Panels mit insgesamt 22 Vorträgen explorierte Relevanzen und Bedeutungsdimensionen der Medizinethnologie in Bezug auf Transfigurationen. Beispiele für die Breite gegenwärtiger medizinethnologischer Projekte gaben – unter vielen anderen – Beiträge zu persistenten und stark gewandelten Industrien der sogenannten Traditionellen Asiatischen Medizin (STEPHAN KLOOS, Wien), zu wechselseitigen Beeinflussungen von spiritualistisch-neoschamanistischem Coaching und leitlinienfolgender Psychotherapie in der Eifel (MIRKO UHLIG, Mainz), sich wandelnden Wahrnehmungen und Praxen guten Alterns in Sansibar (SANDRA STAUDACHER, Basel), der transnationalen Mobilität von Gesundheitsarbeiter/innen (CHRISTIANE FALGE, Bochum & MAGDALENA STÜB, Koblenz), oder der Nutzung von Krankheiten als Ressource vonseiten professioneller Patient/innen in Ägypten (MUSTAFA ABDALLA, Berlin). Einblicke in verschiedenste geographische Regionen, gelebte Handlungsfähigkeiten und variable Bedeutungszuschreibungen legten nahe, dass der Begriff der Transfiguration hinreichend Potential zur Nuancierung bietet, um vielfältige Erfahrungen und Entwicklungen in medizinethnologischen Arbeitsfeldern zu erfassen.

‚Transfiguration‘ wurde von uns im Rahmen der gesamten Tagung verstanden als ein umfassender Wandel einer bestimmten Qualität und Nachhaltigkeit, der gerade nicht durch einen klaren Ausgangs- und Finalzustand mit einer zwischengeschalteten Phase des kompletten Transformierens charakterisiert ist. Stattdessen, so der Erkenntnisgewinn am Konferenzende, adressiert das Transfigurationskonzept partiell geschehende und doch gesamtheitlich wirkende Verschiebungen und Neuanordnungen innerhalb bestehender Interdependenznetzwerke. Diese bedingen eine teils radikale Neukonstellation von Akteuren, Bedeutungen, Grenzziehungen und Abhängigkeiten ohne kontrollierbaren oder definierbaren Start- und Endpunkt. Ambivalenzen, Unsicherheiten und Unabsehbarkeiten begleiten Transfigurationen, die stets über das betreffende Phänomen (und die initiierten Dynamiken) hinausweisen und im Rahmen derer sich der Wandel einzelner Bestandteile spezifischer Konfigurationen – auch in ihrem Verhältnis zueinander – kaum mehr greifen lässt.

Das Konzept taugt damit zu einer hinreichend komplexen Beschreibung vieler hochdiffuser und als unkontrollierbar wahrgenommener Prozesse im Bereich der Medizinethnologie, die die Befassung mit physisch-mentaler Befindlichkeit und medizinbezogenen Machtdynamiken in einer vernetzten Gegenwart kennzeichnen. Vor allem aber beschreibt und erlaubt es Neu- und Umdenken, nicht zuletzt da es im weiteren Feld der Sozial- und Kulturwissenschaften noch kaum etabliert ist. Damit vermochte es nicht nur als anregende Themenklammer der Jubiläumskonferenz zu dienen, sondern weist rückblickend auch auf einen in die Zukunft wirkenden konstruktiven Geist der Veranstaltung hin: Die in Basel gelegten Grundsteine für Kontakte, Kooperationen und Einladungen zum gemeinsamen Denken werden ein im besten Sinne transfiguratives Potential für die deutschsprachige Medizinethnologie besitzen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Piet van Eeuwijk für das Tagungskomitee, Sylvie Schuster für Medical Anthropology Switzerland, Dominik Mattes für die Arbeitsgruppe Medical Anthropology der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde, Ruth Kutalek für die Wiener Dialoge der Medizinanthropologie

Panel 1: Therapeutische Landschaften: Pharmazeutika, Kommodifizierung und Epistemologien
Chair: Angelika Wolf (Freie Universität Berlin)

Stephan Kloos (Österreichische Akademie der Wissenschaften): Von Medizinsystemen zu Medizinindustrien: Medizinanthropologische Transfigurationen traditioneller asiatischer Medizin

Sandra Bärnreuther (Universität Zürich): The Making of a Pharmaceutical: hCG and its Transnational Trajectory between India and Europe

Mirko Uhlig (Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Psychotherapeutische Esoterik – esoterische Psychotherapie?

Márcio da C. Vilar (Universität Leipzig): On the transfiguration of established biomedicine for autoimmunity in Brazil

Panel 2: Gutes Altern, würdevolles Sterben: Bürokratisierung, Biopolitik und der Wert des Lebens
Chair: Piet van Eeuwijk (Universität Basel)

Martine Verwey (Freie Wissenschaftlerin, Zürich): Grace under pressure – wenn der Körper sich der politischen Ökonomie entzieht

Andrea Buhl (Universität Basel): Palliative Care – Transfiguration von Care in einem Tansanischen Krebskrankenhaus

Andrea Kaiser-Grolimund (Universität Basel): Transfigurationen der Selbstpflege und Gutes Altern in Dar es Salaams Mittelschicht

Marcos Freire de Andrade Neves (Universidade Federal do Rio Grande do Sul, UFRGS und Freie Universität Berlin): Bureaucratic pluralism and biomedical governance: regimes of care and resistance in the landscape of assisted suicide

Panel 3: Zwischen Prekarisierung und Empowerment: Marginalität, Partizipation und Ökonomisierung in der Gesundheitsversorgung
Chair: Hilde Schäffler (Public Health Services, Bern)

Mustafa Abdalla (Freie Universität Berlin): The deployment of disease and the transformation into a professional patient in Egypt

Maria Lidola (Freie Universität Berlin): Recht auf Gesundheit für alle? Herausforderungen einer jungen (sozial-)medizinischen Erstversorgung vulnerabler Bevölkerungsgruppen in Rio de Janeiro

Melina Rutishauser (Universität Basel): Partizipation, Krankenkassen und die Finanzialisierung im Gesundheitswesen am Beispiel von Tansania

Panel 4: "Good Care?": Ideologien der Reproduktion und des Alterns
Chair: Claudia Lang (CERMES3, Paris)

Sandra Staudacher (Universität Basel): Transfigurative Situationen des Alterns: Gesundheit, Care und transnationale Räume älterer Menschen in der Stadt Sansibar

Cecilia Colosseus (Universität / Universitätsmedizin Mainz): Evidenzen gegen Eminenzen – Transfigurationen der „guten Geburt"

Laura Perler and Carolin Schurr (Universität St. Gallen): Biopolitical transfigurations in the Mexican bioeconomy

Roundtable: Strukturen, Relevanz, Visionen: Medical Anthropology in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Moderation: Elísio Macamo (Universität Basel)

Diskussion mit Kurzbeiträgen von Hansjörg Dilger (Freie Universität Berlin), Bernhard Hadolt (Universität Wien), Brigit Obrist (Universität Basel), Mira Menzfeld (Universität zu Köln), Elena Jirovsky (Medizinische Universität Wien) und Constanze Pfeiffer (Swiss Tropical and Public Health Institute in Basel) und aktiver Beteiligung des Publikums zu folgenden Themen:
1) Geschichte, Situation und Kontextualisierung der drei Fachgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz
2) Institutionelle/strukturelle Verankerung und Praxisrelevanz
3) Visionen für die Medical Anthropology: Wo kann/soll/muss es hingehen?

Keynote
Andrea Muehlebach (University of Toronto): „‚Suicidio Económico': Selbstmord als Symptom der Ökonomie?"
Chair: Janina Kehr (Universität Zürich)

World Café: (Medizin-)Ethnologisches Engagement in verschiedenen Arbeitsfeldern: Möglichkeiten und Grenzen
Moderation: Leah Bohle (Swiss TPH); Discussant: Ruth Kutalek

Rotierende und ergebnisoffene Diskussion zur Frage „Wie können wir uns als (Medizin-) EthnologInnen engagieren, und was braucht es dazu?" an Tischen mit GastgeberInnen aus folgenden Arbeitsbereichen:
a) Auftrags-/Interventionsforschung
b) NGO-Gesundheitsprojekte
c) Gesundheitspolitik bzw. Gesundheitsverwaltung
d) Gesundheitsbezogene Aus- und Fortbildung

Panel 5: Neuverortungen: Biosoziale Identitäten zwischen Selbstpositionierung und Fremdzuschreibung
Chair: Dominik Mattes (Freie Universität Berlin)

Elena Jirovsky (Medizinische Universität Wien): Transfigurations of meaning: current perspectives on the cut female body in Burkina Faso

Giorgio Brocco (Freie Universität Berlin): Glocal understanding of albinism as a disability in Tanzania

Susanne Kathrin Hoff (Johannes Gutenberg-Universität Mainz): Von Feinden zu Verbündeten: Tansanische Heiler unter Druck einer internationalen Albinismus-Bewegung

Francesca Rickli (Universität Zürich): Erfolgreich altern – für alle? Transfigurationen von SeniorInnen mit Behinderungen in der Schweiz

Panel 6: Professionelle Aspirationen im Gesundheitswesen: Arbeitsmobilität und Übersetzungsprozesse
Chair: Eva Knoll (Österreichische Akademie der Wissenschaften)

Christiane Falge (Hochschule für Gesundheit, Bochum) und Magdalena Stülb (Hochschule Koblenz): Transnationale Perspektiven auf die Mobilität von Gesundheitsfachkräften

Judith Schühle (Freie Universität Berlin): Medical remittances: transfigurations of the Nigerian biomedical landscape by migrated health professionals

Johanna Gonçalves Martín (University of Cambridge und Universitätsklinikum Dresden): Translating and transforming medicines: training courses and clinical consultations with Yanomami community health workers and doctors

Lisa Peppler (Universität Göttingen): Die „Entdeckung des türkischen Patienten" im Kontext der türkisch-deutschen Medizinermigration

Abschluss und Ausblick: Berichte der Panel-Vorsitzenden und Abschlussdiskussion
Chairs: Hansjörg Dilger (Freie Universität Berlin), Brigit Obrist (Universität Basel) und Bernhard Hadolt (Universität Wien)


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Land Veranstaltung
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Englisch, Deutsch
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