Herder – Luther. Das Erbe der Reformation in der Weimarer Klassik

Herder – Luther. Das Erbe der Reformation in der Weimarer Klassik

Organisatoren
Michael Maurer / Christopher Spehr, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Antonia Furjelova, Weimar-Jena-Akademie; Klassik Stiftung Weimar
Ort
Weimar
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.02.2017 - 12.02.2017
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Von
Roland M. Lehmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Herder zählt zu den größten Denkern des 18. Jahrhunderts, deren Bekanntheitsgrad im Vergleich zu anderen Literaten wie Lessing, Goethe und Schiller eher gering ausfällt. Erst seit der Gründung der Internationalen Herder-Gesellschaft im Jahr 1985 darf man von einer Renaissance der Herder-Forschung sprechen. Dabei steht der Einfluss Luthers auf Herder außer Frage, doch bleibt dies aufgrund der Vielseitigkeit von Herders Denken ein noch längst nicht ausreichend erschöpftes Themenfeld. Daher darf es als lohnendes Unterfangen gewertet werden, dass sich eine sowohl internationale als auch interdisziplinäre Tagung jener Fragestellung ausführlich widmete. Anlässlich des Reformationsjubiläums veranstaltete die Friedrich-Schiller-Universität Jena unter der Leitung von MICHAEL MAURER und CHRISTOPHER SPEHR, die Weimar-Jena-Akademie unter der Leitung von ANTONIA FURJELOVA und die Klassik Stiftung Weimar eine internationale Tagung, in der Luther und Herder aus verschiedenen Perspektiven thematisiert wurden.

Der Donnerstagnachmittag war der Präsentation von Projekten jüngerer Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Italien, Lettland und Tschechien gewidmet.

DANIEL VULLRIEDE (Siena) konturierte Herder als pädagogischen Theologen, indem er auf der Grundlage von dessen Schulreden und Predigten die Glückseligkeit und Nutzbarkeit als die zentralen Ziele der Schule als Übungsplatz menschlicher Seelen hervorhob. LAURA FOLLESA (Cagliari) erläuterte Herders Theorie des Bilddenkens vor dem Hintergrund seiner Theorie der Einbildungskraft und Phantasie. Hierzu klärte sie den Begriff und zeigte pädagogische, psychologische und erkenntnistheoretische Perspektiven auf. MARTIN BOJDA (Prag) rekonstruierte die bislang kaum erforschten kulturtheoretischen Ansichten über Herder vom tschechischen Philosophen und ersten Staatspräsidenten der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk (1850–1937). WIESLAW MALECKI (Poznan) skizzierte zunächst die Forschungsgeschichte über Herder in Polen und charakterisierte ihn dann vor dem Hintergrund von Reinhart Kosellecks Kritikbegriff. In diesem Sinne seien Luthers reformatorische Auffassungen eher als „restitutive Kulturkritik“ zu verstehen, mit der die Wiederherstellung eines einmal Gewesenen gemeint ist, im Vergleich zu Herders Ansatz einer „postrestitutiven Kulturkritik“, die sich von der Idealisierung früherer Epochen distanziere und versuche, aus der Binnenreflexion der Kultur zu argumentieren. BEATA PAŠKEVICA (Riga) befasste sich mit der komplexen Überlieferungsgeschichte von 80 lettischen Volksliedern, die von August Wilhelm Hupel (1737–1819) mit der Unterstützung von Jakob Benjamin Fischer (1731–1793) gesammelt und dann an Herder gesandt wurden. Herder wählte davon sechs Lieder aus und veröffentlichte sie in seiner Volksliederausgabe von 1778/79.

Insgesamt boten die vorgestellten Projekte einen tiefen Einblick in die internationale Herderforschung, bei der immer wieder deutlich wurde, dass Herders Theologie das Gravitationszentrum seiner Anschauungen bildet.

Nach den Grußworten von WOLFGANG HOLLER (Klassik Stiftung Weimar) und BABETTE WINTER (Staatssekretärin der Thüringer Staatskanzlei) wurde am Freitagvormittag der soziale Ort Weimar in den Blick genommen. HANS-WERNER HAHN (Jena) eröffnete die Sektion, indem er in einem ersten Teil die Strukturen und Entwicklungen der Stadt Weimar skizzierte. In einem zweiten Teil ordnete er Herder diesen Strukturen zu. Herder verfolgte dabei ein Stadtentwicklungskonzept, insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Schulwesens, wenngleich vieles durch das Desinteresse des Hofes nicht umgesetzt werden konnte.

STEFANIE FREYER (Osnabrück) vertiefte das Bild Weimars zur Zeit Herders, indem sie das Augenmerk auf den Weimarer Hof legte. Im Vergleich zu anderen Höfen bewegte sich Weimar mit einem Hofpersonal von circa 480 Menschen im oberen Mittelfeld. Auch reichspolitisch sei Karl August von Sachsen-Weimar-Eisenach keineswegs unbedeutend gewesen. Herder gehörte dabei anders als bei anderen Höfen zum zivilen und nicht zum höfischen Personal. Dabei rekonstruierte sie die Präsenz Herders als Gast bei der höfischen Tafel. Während Herder im Hofalltag weniger präsent war, gehörte er gleichwohl bei den repräsentativen Akten zu den wichtigen Personen am Hof.

Im dritten Vortrag stellte STEFAN GERBER (Jena) zunächst die verschiedenen Urteile Herders als Kirchenpolitiker dar, die im Gefolge Goethes mehr das Negative als das Positive herausstrichen, was durch Martin Keßlers Monographie jedoch widerlegt wurde. Gerber hob hervor, dass der ansonsten so kritikfreudige Herder hinsichtlich der katholischen Kirche auffallend irenisch eingestellt war. So sorgte er dafür, dass die französischen Exulanten Messen halten konnten.

In einem breit angelegten Vortrag referierte MICHAEL WINKLER (Jena) über Herder als Pädagogen. Hierzu entfaltete er auf der Quellengrundlage seiner Schulreden in einem ersten Teil Herders „große“ Bildungstheorie. Danach wandte er den Blick auf Herders „kleine“ Theorie der Schule und Pädagogik. Im dritten Teil ging Winkler auf die „Übung“ als praktischer Charakter der Pädagogik ein, zu der Herder das Spielen, den Wettkampf und das „Leben lernen“ zähle.

Am Nachmittag begann die zweite Sektion unter der Überschrift „Ein neuer Reformator werden“. Mit einem sprachphilosophischen Ansatz interpretierte JOHANNES VON LÜPKE (Wuppertal) Herder als Sprachdenker in der Tradition Luthers.

Konträr zur sprachphilosophischen Herangehensweise rekonstruierte CLAAS CORDEMANN (Hannover) Luther und Herder als Prediger vor dem Hintergrund der soziologischen Theorie von Hartmut Rosa. Dieser rekonstruiert die menschliche Lebenswirklichkeit in Form von Wechselwirkungen zwischen dem Menschen in Beziehung zu seiner Welt, die er als Resonanzphänomene beschreibt. Während Luther Sünde eher als Entfremdung von der Gottesbeziehung und insofern als Resonanzunwilligkeit begreife, interpretiere Herder die Sünde eher als Verstummen der Resonanz des Göttlichen im Menschen. Christologisch betrachte Luther die Schöpfung als Resonanzraum im Schema von Gesetz und Evangelium, während Herder Christus die Frage nach dem Woher und Wohin der menschlichen Existenz zum Schwingen bringe.

In einem sowohl fulminanten als auch amüsanten Festvortrag am Abend in der Herderkirche schilderte ALBRECHT BEUTEL (Münster) die Italienreisen Lessings und Herders. Während von Lessing lediglich vier Briefe und einige Tagebucheintragungen erhalten sind, gibt die wöchentliche Briefkorrespondenz mit seiner Frau Caroline und dessen Reisetagebuch einen ganz eigentümlichen Einblick in die Reiseerfahrungen Herders. Antipodisch zum Missfallen Roms war seine Begeisterung für Neapel und dessen schöner Umgebung sowie das gute Wetter. Herders nachträgliche Memorialverklärung Italiens werde dadurch anschaulich, dass er für einen seiner Söhne den Namen Rinaldo auswählte.

Den Samstagvormittag eröffnete MARTIN KEßLER (Göttingen) mit einem profunden Vortrag über Luthers Katechismus und Herders Kommentierung. Dabei ging er auf die Quellen, die Forschung und die Stationen der frühen Rezeption ein. Dabei ging Keßler in überlieferungsgeschichtlicher Sorgfalt auf die verschiedenen Entwürfe im Vorfeld ein. Hierzu kontextualisierte er Herders ‚Katechismus‘ im Vergleich zu den Katechismen der Berliner und Hallenser Aufklärung.

HENRY HOPPE (Oxford) verglich das Musikverständnis Luthers und Herders. Als Grundlage stütze er bei Luther auf die Schrift „Encomium musices“ (1538), dem Vorwort zu den Begräbnisliedern (1542) sowie dem Briefwechsel mit dem Musiker Ludwig Senfl und bei Herder auf dessen „Briefe, das Studium der Theologie betreffend“ (1780/81) und dem „4. Kritischen Wäldchen“. Während Luther von einer „theologischen Musikanschauung“ ausgehe, könne man bei Herder von einer „anthropologischen Musikästhetik“ sprechen.

Die Sprachleistungen Luthers im Urteil von Klopstock, Herder und Heine standen im Zentrum des kenntnisreichen Vortrags von HANS-JÜRGEN SCHRADER (Genf). Er referierte über Herders Selbstbild, ein Luther seiner Zeit werden zu wollen. Hierzu habe Herder an die Psalmenauslegung Luthers angeknüpft. Ebenfalls sah sich Klopstock in der Nachfolge Luthers, wenn er zehn Lieder vom Reformator textlich leicht veränderte. Heine dagegen rühmte in seinem sachlicheren Urteil die stürmische und dann auch wieder sanfte Sprache der lutherischen Bibelübersetzung.

CORINNA DAHLGRÜN (Jena) legte das Kirchenliedverständnis von Luther und Herder dar. Dabei stützte sie sich auf das Vorwort Herders der neuen Ausgabe des Weimarer Gesangbuches von 1795. Der Vergleich mit der ursprünglichen Ausgabe zeige, dass circa ein Drittel der alten Lieder herausgenommen wurde und mit 236 bzw. 237 neuen Liedern ersetzt wurden. Neben Luther fand auch Herder Eingang in das Evangelische Gesangbuch – und zwar mit dem Lied „Du Morgenstern, du Licht vom Licht“ (EG 74), welches Richard Adelbert Lipsius auf der Grundlage von Herders Gedicht „Du aller Sterne Schöpfer Licht“ verfasst hatte.

MARTIN BOLLACHER (Bochum) widmete sich dem komplexen Thema des Toleranzverständnisses von Luther und Herder. Religiöse Toleranz besitze dabei die Aspekte der Unabhängigkeit von Staat und Kirche, Anerkennung anderer Konfessionen und der Relativierung des eigenen Absolutheitsanspruches. In vormoderner Weise prägte bereits Luther den Toleranzbegriff in seiner Verdeutschung von „tolerantia“ zu „tollerantz“ in einem Brief vom 12. Juni 1541. Dieses stehe in Widerspruch mit seiner späten Haltung zu den Juden und Türken. Herder hingegen konnte die Juden gleichsam als „fremdes Volk“ und als „Wunder der Asiaten“ anerkennen.

ROLAND M. LEHMANN (Jena) stellte die Ergebnisse vor, die er gemeinsam mit CHRISTOPHER SPEHR (Jena) zu Herders Rezeption und Wirkung in der Theologiegeschichte erarbeitet hatte. Innerhalb des theologischen Rationalismus der Spätaufklärung habe Karl Gottlieb Brettschneider Herder als einflussreichen Dogmatiker in den Mittelpunkt gerückt, bei der die Kompilation von Herders Schriften zu einer Dogmatik von Augusti eine bislang noch unentdeckte Rolle spiele. Der Erweckungstheologe August Gottreu Tholuck habe Herder als Hermeneutiker der Bibel und Kirchengeschichte hervorgehoben. Bei Albrecht Ritschl trete Herder in den Hintergrund, was von seinem Schüler Adolf von Harnack jedoch bemängelt wurde. Emanuel Hirsch würdigt ihn in seiner Systematischen Theologie im Lichte der Historisierung und Psychologisierung der Offenbarungstheologie. Karl Barth wiederum distanziert sich von Herder als Offenbarungstheologen, da er ihm einen inkonsequenten Historismus vorwerfe. Wolfhart Pannenberg schließlich stelle Herder als Ideengeber einer theologischen und philosophischen Anthropologie der Neuzeit heraus.

MICHAEL MAURER (Jena) reflektierte in seinem perspektivenreichen Vortrag die Epochenkonzepte „Reformation“ und „Weimarer Klassik“ als zeitbezogene Identitätsangebote. Dabei interessierte ihn zum einen die Frage, wie die Weimarer Klassik zur Reformation stand und zum anderen wie wir heute zur Weimarer Klassik stehen. Hierzu konturierte er in einem ersten Schritt beiden Epochenbegriffe, danach das Verhältnis zueinander, um schließlich die Arbeit an den Formen des nationalen Gedächtnisses darzulegen. Beide Epochen eint die Konzentration auf das Wort, die Idee eines humanen Christentumsverständnisses und das Emanzipationsbestreben.

Abgerundet wurde die Tagung durch einen Gottesdienst am Sonntagvormittag, in dem Superintendent HEINRICH HERBST auf die Antrittspredigt Herders aus dem Jahr 1776 einging.

Im Rückblick war die Tagung, an der über 70 Interessierte teilnahmen, von einer Vielfalt neuer und perspektivenreicher Fragestellungen geprägt. Sämtliche Vorträge und Diskussionen der Tagung waren auf einem hohen, aber verständlichen Niveau. Als überaus gelungen darf man die Auswahl und Reihenfolge der Themen bezeichnen, aus der sich ein roter Faden ergab, bei der Luther und Herder immer wieder erneut und manchmal überraschend miteinander ins Gespräch gebracht wurden. Solches wird von Tagungen häufig intendiert, jedoch viel zu selten tatsächlich eingelöst. Die auf der Tagung gebotene kenntnisreiche Gesamtschau regt zum weiteren Nachdenken über das Werk der beiden großen Reformatoren an. Zu hoffen bleibt, dass durch jenes Symposium neue Impulse zur vertieften Beschäftigung ausgehen werden. Insbesondere käme hierzu die interdisziplinäre Beschäftigung mit Luther und Herder als Prediger in Betracht.

Konferenzübersicht:

Stadtrundgang „Auf Spuren von Luther und Herder in Weimar“

Präsentationen der Stipendiaten

Daniel Vullriede (Siena): Zwischen Humanität, Schulbildung und Gottseligkeit. Johann Gottfried Herder als pädagogischer Theologe

Laura Follesa (Cagliari): Herders „Bilddenken“. Wissenschaft – Träume – Einbildungskraft

Martin Bojda (Prag): Das sozial-kritische Fundament von Herders Kulturbegriff und seine Interpretation bei T. G. Masaryk

Wieslaw Malecki (Poznan): Herder als Kulturkritiker?

Beata Paškevica (Riga): Im Dienste des „großen Mannes“. Die Bedeutung des Gelehrtennetzwerks der livländischen. Aufklärung für Herders Volksliedersammlung

Grußwort von Wolfgang Holler (Klassik Stiftung Weimar) und Babette Winter (Staatssekretärin, Thüringer Staatskanzlei)

I. Teil: Der soziale Ort: Weimar – „eine erbärmliche Apanage der Reformation zwischen den Gebürgen“

Hans-Werner Hahn (Jena): Herder und die Stadt Weimar

Stephanie Freyer (Osnabrück): Herder und der Weimarer Hof

Stefan Gerber (Jena): Herder und die Kirche

Michael Winkler (Jena): Herder und die Schule

II. Teil: „Ein neuer Reformator werden“

Johannes von Lüpke (Wuppertal): Herder als Sprachdenker in der Tradition Luthers

Claas Cordemann (Hannover): Luther und Herder als Prediger

Öffentlicher Abendvortrag mit musikalischer Umrahmung, Stadtkirche St. Peter und Paul (Herder-Kirche), Weimar mit einem Grußwort von Superintendent Henrich Herbst (Weimar)

Albrecht Beutel (Münster): Selbstfindung im Süden? Die Reisen der protestantischen Schriftsteller Johann Gottfried Herder und Gotthold Ephraim Lessing ins katholische Italien

Martin Keßler (Göttingen): Herder und Luthers Katechismus

Henry Hope (Oxford): Luther, Herder und die Musik als „zweite Theologie“

Hans-Jürgen Schrader (Genf): Luthers Sprachleistung im Urteil Klopstocks, Herders und Heines

Corinna Dahlgrün (Jena): Luther, Herder und das Kirchenlied

Martin Bollacher (Bochum): Toleranz? Luther und Herder über Juden und Türken

III. Teil: Perspektiven auf Geschichte und Gegenwart

Christopher Spehr und Roland M. Lehmann (Jena): Herders Stellung in der Theologiegeschichte

Michael Maurer (Jena): Epochenkonzepte als Identitätsangebote: Reformation und Weimarer Klassik

Gottesdienst in der Stadtkirche St. Peter und Paul (Herder-Kirche), Weimar zum Abschluss der Tagung