Evangelische Freikirchen im Nationalisozialismus. Konferenz der Evangelischen Akademie Thüringen

Evangelische Freikirchen im Nationalisozialismus. Konferenz der Evangelischen Akademie Thüringen

Organisatoren
Evangelische Akademie Thüringen; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Neudietendorf
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.03.2017 - 03.03.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Manfred Stedtler, Halle an der Saale

Evangelische Freikirchen verfügen über eine zum Teil stark ausgeprägte, gegen das staatliche und staatskirchliche Handeln gerichtete nonkonformistische Tradition. Da überrascht es umso mehr, dass es von freikirchlicher Seite kaum Widerstand gegen das Dritte Reich gab. Viele waren bereit, für die Fortexistenz ihrer Glaubensgemeinschaft und den Erhalt von Besitz und Missionsmöglichkeiten sogar Teile ihre Identität aufzugeben.

Nachdem die Ev. Akademie Thüringen 2014 bereits eine Tagung zum Thema „Freikirchen und DDR“ ausgerichtet hatte, war es folgerichtig, sich nun der davor liegenden Epoche zu widmen. Dies geschah in Zusammenarbeit mit der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und der Theologischen Hochschule Friedensau, sowie in Kooperation mit der Verein für Freikirchenforschung. Die Tagung öffnete den Blick für ein großes Spektrum christlichen Denkens und Handelns in den Jahren 1933–1945 und dafür, dass es bei großen Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Freikirchen gab.

In seiner Begrüßung betonte MICHAEL HASPEL von der Ev. Akademie Thüringen, dass trotz der Fülle von Literatur zum Thema Nationalismus noch viel Detailforschung zu einzelnen Regionen und Institutionen nötig sei.

In ihrer Einführung in das Thema wies ANDREA STRÜBIND (Oldenburg) auf die Ungenauigkeit des Begriffs „Freikirchen“ hin: Er umfasst in vielen Darstellungen alles, was nicht Großkirche ist, wobei es in Theologie, Glaubenspraxis und Leitungsstruktur extreme Unterschiede und Gegensätze gab und gibt.

Die Mehrzahl der Evangelischen Freikirchen, namentlich die, die in der „Vereinigung Evangelischer Freikirchen“ (VEF) organisiert waren, versuchten, durch Anpassung an die Diktatur und durch deutlich demonstrierte Loyalität zu überleben. Einige kleinere Glaubensgemeinschaften hatten dagegen einen deutlich konfliktreicheren Weg.

Die Kirchengeschichtsforschung konzentrierte sich bisher auf die beiden Großkirchen, und auch die Freikirchen selber fingen erst in den 1970er- und 1980er-Jahren, zum Teil auch deutlich später, an, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Neben dem Problem der Verdrängung liegen einige Gründe für die späte Vergangenheitsbewältigung auch in der Mentalität der Freikirchen: Viele Freikirchen sehen sich als Aufbruchsbewegung und haben wenig Interesse an Geschichte (hier bilden die Mennoniten eine Ausnahme), zudem erschweren die geringen Finanz- und Personalmittel dieser kleinen Kirchen eine systematische Forschung.

Nach Strübinds Darlegung der nationalsozialistischen Politik gegenüber Freikirchen und kleineren Religionsgemeinschaften und deren Reaktion darauf beleuchtete JOHANNES HARTLAPP (Friedensau) den Weg der Siebenten-Tags-Adventisten, ANDREAS LIESE (Bielefeld) den der Baptisten- und Brüdergemeinden, ASTRID VON SCHLACHTA (Regensburg) den der Mennoniten und HERBERT STRAHM (Zürich) den der Methodistenkirche.
Alle der erwähnten Gruppen nahmen für sich in Anspruch, unpolitisch zu sein. Zutiefst politische Loyalitätsbekundungen mit dem Dritten Reich wurden damit begründet, dass ein Christ nach Römer 13 der Obrigkeit Untertan sein solle. Unter dem Druck der drohenden Gleichschaltung oder des Verbotes, das die Adventisten bereits im November 1933 für zehn Tage ereilte, waren alle bestrebt, auf keinen Fall als Sekte zu gelten.

Neben der Anpassung aus Angst gab es aber auch ein hohes Maß an emphatischer Zustimmung zu NS-Inhalten: Die NS-Propaganda beschwor das „positive Christentum“, viele freikirchliche Publikationen hatten sich schon vorher abfällig über die Demokratie geäußert, Berichte über Christenverfolgung in der Sowjetunion schürten (vor allem bei den Mennoniten) die Angst vor dem Kommunismus und die Methodisten beeindruckte Hitlers Kampf gegen Alkohol und Nikotin.

Trotzdem wurde den meisten Freikirchen ihre englische bzw. amerikanische Herkunft zum Vorwurf gemacht. Besonders schwer hatten es die Adventisten, deren Sabbat von den Nazis als „jüdischer Ritus“ aufgefasst wurde. Die Mennoniten dagegen stellten die mennonitischen Siedlungen in aller Welt, deren Bewohner seit Jahrhunderten nur innerhalb mennonitischer Familien geheiratet hatten, als Bewahrer reinrassigen Deutschtums dar.

Bei den theologischen und dogmatischen Reaktionen gab es viele Gemeinsamkeiten. Freikirchliche Theologen setzten sich mit der Bewegung der „Deutschen Christen“ auseinander, aber kaum mit dem Nationalsozialismus an sich. In allen Gemeinschaften gab es dogmatische Verschiebungen, die teilweise tief in das Selbstverständnis eingriffen: Bei den Adventisten in der Sabbatfrage, bei den Mennoniten in Bezug auf ihre klassischen Prinzipien des Pazifismus und der Eidesverweigerung, bei den Brüdergemeinden in ihrer Ablehnung von Institutionen, bei den Baptisten im Hinblick auf die Glaubenstaufe.

Auch Strukturfragen griffen tief in die Identität einiger Freikirchen ein: Die Methodisten lösten sich von ihren internationalen Vernetzung und gründeten eine eigene „deutsche Generalkonferenz“ mit einem eigenen Bischof. Die Mennoniten versuchten vergeblich, aus ihren sehr heterogenen und – aus Überzeugung! – unabhängigen Gemeinden eine Organisation mit gemeinsamer Vertretung gegenüber dem Staat zu formen und formulierten zum ersten Mal in ihrer 400-jährigen Geschichte ein einheitliches Bekenntnis. Und die Brüdergemeinden, die vorher jede Institutionalisierung aus Glaubensgründen ablehnten, schlossen sich zum „Bund freier Christen“ zusammen.

Das ging nicht ohne innere Konflikte. In allen Freikirchen gab es Einzelne, die diesen Weg nicht mitgingen, bei den Mennoniten verweigerte die ganze süddeutsche Konferenz die Zustimmung zu dem gemeinsamen Bekenntnis.
Sehr anders sah das Schicksal einiger kleinerer Gruppen aus, zum Beispiel der Reform-Adventisten, die in ihrer Gesamtheit den Kriegsdienst verweigerten und entsprechend verfolgt wurden.

Eine eigenständige Gruppe, die über die Hutterer zeitweilig zur weiteren mennonitischen Kirchenfamilie gehörte, war der Rhönbruderhof. THOMAS NAUERTH (Osnabrück) beschrieb den Weg dieser Gruppe. Der Rhönbruderhof war eine christliche Lebensgemeinschaft mit kommunistischen Prinzipien, zu der sich in den 1920er-Jahren junge Leute aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zusammengeschlossen hatten. Bereits 1933 wurden die „Raubtierkrallen“ des neuen Staates klar benannt. Statt des Hitlergrußes benutzten sie die Grußformel „Alles Gute für Adolf Hitler und alles Heil durch Christus“. Die Bruderhöfler hatten Respekt vor der Obrigkeit, sahen aber auch deren unchristlichen Seiten und schrieben deshalb am 9. November 1933 an Hitler und suchten Gestapo-Beamte und andere Repräsentanten des NS-Staats persönlich auf, um sie zu missionieren. Die wehrpflichtigen Männer des Rhönbruderhofs wanderten 1935 aus, der Rest folgte 1937, als der Rhönbruderhof wegen „Unpassigkeit zu den Zeitverhältnissen“ verboten und enteignet wurde.

DANIEL HEINZ (Friedensau) untersuchte das Thema Freikirchen und Juden im Dritten Reich. Schon im Kaiserreich übernahmen viele Freikirchen bruchlos den bürgerlichen Antisemitismus, der das Judentum für alles verantwortlich machte, was schlecht war. Teilweise wurde die orthodoxe jüdische Religion und das Alte Testament von Kritik ausdrücklich ausgenommen, aber die Überlegenheit der eignen Rasse war als Denkrahmen auch in Freikirchen verbreitet. Zu den Judenverfolgungen des Dritten Reiches schwiegen die Repräsentanten und auch getaufte Juden in den eigenen Gemeinden wurden gemieden und in einigen Fällen, wie der Adventist Max Munk aus Bielefeld, wegen ihrer jüdischen Herkunft aus der Gemeinde ausgeschlossen.

Als ganzer Verband setzten sich nur die Quäker für die Juden ein. Diese kleine Religionsgemeinschaft, die damals nur 250 Mitglieder in Deutschland hatte, aber international gut vernetzt war, verhalf über Tausend Verfolgten zur Auswanderung und organisierte Hilfspaketen an KZ-Häftlinge.

Aus den größeren Freikirchen sind nur Einzelpersonen bekannt, die sich für Juden einsetzten. Häufig waren das keine Deutschen, sondern freikirchliche Christen aus anderen europäischen Ländern, wie der Schweizer Konsul Carl Lutz (Methodist) oder der Belgier Jean Henry Weidner (Adventist), die zahlreichen Juden zur Flucht verhalfen.

Das erste freikirchliche Schuldbekenntnis, das auch das Verhalten den Juden gegenüber explizit ansprach, war das Hamburger Schuldbekenntnis der Baptisten von 1984.

In zwei weiteren parallelen Panels wurde der Blick auf weitere religiöse Gruppen gerichtet, die sich neben den Kirchen zu behaupten versuchten: DETLEF GARBE (Neuengamme) referierte über die Zeugen Jehovas (ZJ), die von den Freikirchen nicht als eine der ihren anerkannt werden, jedoch im Dritten Reich (und auch in der DDR) zu den am härtesten verfolgten religiösen Minderheiten gehörten. Die ZJ verweigerten den Hitlergruß sowie die öffentliche Zustimmung zum „Führerstaat“ und traten nicht den NS-Zwangskörperschaften bei. Ungefähr 10.000 ZJ folgten dem Aufruf ihrer Zentrale, trotz Verbot die Missionsarbeit fortzusetzen.

Während die ZJ unter den KZ-Insassen anfangs besondere Hassobjekten der SS waren und viele von ihnen in den ersten Kriegsjahren grausam zu Tode gequält wurden, wurden sie später aufgrund ihrer glaubensbedingten Zuverlässigkeit und geringen Fluchtgefahr (da sie ihr Schicksal ganz in Gottes Hand legten) zunehmend in Vertrauensstellungen eingesetzt. Insgesamt sind 4100 ZJ namentlich bekannt, die in den KZ den lila Wimpel trugen, circa 950 deutsche und 500 ausländische ZJ kamen dabei ums Leben. Weitere 8.000 sind allein in Deutschland Opfer von Verfolgungsmaßnahmen wie Gefängnis, Entlassungen, Rentenentzug und Wegnahme der Kinder geworden.

Ein totaler Gegensatz dazu war die völkischreligiöse Bewegung, über die UWE PUSCHNER (Berlin) berichtete. Es war keine geschlossene Organisation, sondern eine heterogene Bewegung aus dem 19. Jahrhundert, welche die Bibel und das Christentum ablehnten, die Rasse als Offenbarungsträger sah und dementsprechend eine „arteigene“ Religion schaffen wollte. Die Bewegung war extrem antisemitisch und lässt sich aufteilen in „Neuheiden“, die sich am Germanentum orientierten, und in „Deutsch-Christen“, bei denen der Antikatholizismus ein zentraler Topos war. Der Nationalsozialismus übernahm viele Rituale, Symbole und den Sprachgebrauch dieser Bewegung(en), lehnte aber die damit verbundenen Organisationen ab, weil ihre religiösen Differenzen und Spekulationen Unruhe und Spaltung mit sich brachten und nach Hitlers Meinung die NS-Bewegung schwächten. Die völkisch-religiösen Gruppen wurden in den 1930er-Jahren aus der Öffentlichkeit verdrängt.

In der anschließenden Aussprache wurde gefragt, ob der Nationalsozialismus bewusst den kirchlichen Kampf gegen Neuheiden gefördert habe, um Christen dankbar zu stimmen und von anderen Schauplätzen abzulenken.

In seinem Kommentar zur Tagung lobte KLAUS FITSCHEN (Leipzig), dass es eine sehr selbstkritische Tagung gewesen sei und ermutigte dazu, bei der Forschung die pädagogische Frage nach dem, was wir in Unterricht und Katechese weitergeben können, im Blick zu behalten. Für Christen stelle sich immer die Frage nach dem Glaubensgehorsam, in diesem Zusammenhang nach der Nächstenliebe, die sich im Eintreten für Verfolgte und Diskriminierte ausdrückt.

Als Forschungsdesiderate benannte er Geschichte „von unten“, Prägungen und Haltungen einzelner Personen sowie Vor- und Nachteile der dezentralen Leitung, die freikirchliche Diakonie im Zusammenhang mit „Euthanasie“ und Zwangssterilisation, den Umgang mit Judenchristen in den eigenen Reihen, Frauen als Akteurinnen und Opfer und freikirchliche Aufarbeitung als religionspädagogische Herausforderung. Außerdem sollte der vergleichende Ansatz dieser Tagung noch ausgeweitet werden unter stärkerer Einbeziehung der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Kirche.

Durch diese Tagung wurde die Erforschung dieser Epoche freikirchlicher Geschichte aus der Binnenperspektive der Freikirchen herausgehoben und in Zusammenarbeit mit Profanhistorikern und landeskirchlichen Kirchengeschichtsforschern konfessionsübergreifend angegangen. Dabei ist es wichtig, nicht pauschalisierend von „den Freikirchen“ zu sprechen, sondern die zum Teil erheblichen Unterschiede im Blick zu behalten bzw. erst im zweiten Schritt, nach gründlicher Detailforschung, Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten.

Es wurden viele gute Anregungen für Forschung, Gedenkkultur und kirchliche Praxis gegeben, zum Beispiele dass die Nachgeborenen zwar die damaligen Akteure nicht verurteilen dürfen, aber gemäß dem Prinzip ‚simul justus et peccator‘ (Frei-) Kirchen den Mut haben sollten, Versagen zuzugeben. Erst in einem (über-)nächsten Schritt kann dann darüber diskutiert werden, welche Handlungsspielräume es gab und was man hätte besser machen können.

So gibt es Hinweise, dass viele Freikirchler von ihrer Sozialisation als evangelische Kleinbürger her besonders anfällig waren für die NS-Ideologie und durch den viel kritisierten freikirchlichen Biblizismus daran gehindert wurden, dem System noch aktiver zu dienen.

In den Vorträgen und Diskussionen wurden weitere Forschungsdesiderate deutlich, nämlich die Vorgeschichte der handelnden Generationen in der Weimarer Republik und im Kaiserreich, die vergleichende Erforschung von Widerstand und unangepasstem Verhalten unter Einbeziehung der Freikirchen und der Frage nach den handlungsleitenden Motiven, die Erforschung der Eschatologie einzelner Freikirchen im Hinblick auf die Folgen (welche Eschatologie macht anfällig für, welche resistent gegen Diktatur), der Umgang mit Zwangsarbeitern in freikirchlichen Einrichtungen und mit Glaubensgenossen unter den Zwangsarbeitern in der jeweiligen Umgebung sowie langfristige Veränderungen über 1945 hinaus, die sich aus den dogmatischen und strukturellen Veränderungen und Vereinheitlichungen der NS-Zeit ergaben.

Andrea Strübind kündigte an, dass die Tagungsbeiträge in der Zeitschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ publiziert werden.

Konferenzübersicht

Andrea Strübind (Universität Oldenburg): Einführungsvortrag „Freikirchen und Staat im Nationalismus“

Astrid von Schlachta (Universität Regensburg): Vereint leben oder einzeln zugrunde gehen? Die Mennoniten in der NS-Zeit zwischen Einheitskirche und Kongregationalismus

Thomas Nauerth (Universität Osnabrück): „Alles Gute für Adolf Hitler“ Der Rhönbruderhof & das Problem der Obrigkeit nach 1933

Johannes Hartlapp (Theologische Hochschule Friedensau): Der Weg der Siebenten-Tags-Adventisten im „Dritten Reich“

Johannes Hartlapp (Theologische Hochschule Friedensau): Evangeliumsverkündigung um jeden Preis – deutsche Freikirchen in der Zeit des Nationalsozialismus

Andreas Liese (Bielefeld): Zwischen Anpassung und Verfolgung. Baptisten- und Brüdergemeinden in der NS-Zeit

Herbert Strahm (Zürich): Die Methodistenkirche im Dritten Reich. Thesen zum Weg einer Freikirche unter der NS-Herrschaft

Detlef Garbe (Leiter KZ-Gedenkstätte Neuengamme): Heilsgewissheit, Glaubensgehorsam und das drohende Gottesgericht. Verweigerung und Widerstand der Zeugen Jehovas als Reaktion auf nationalsozialistischen Gewissenszwang, Verbote und unerbittliche Verfolgung

Uwe Puschner (Freie Universität Berlin): „Jede Rasse hatte nur eine einzige, ihr mögliche Religion“ Die völkischreligiöse Bewegung im Nationalsozialismus

Daniel Heinz (Historisches Archiv der Siebenten-Tags-Adventisten in Europa, Friedensau): „…Da warst auch du wie einer von ihnen“ Freikirchen und Juden im „Dritten Reich“

Klaus Fitschen (Universität Leipzig): Kommentar zur Tagung


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