Gesundheit, Gesellschaft und Nationalsozialismus in der Region

Gesundheit, Gesellschaft und Nationalsozialismus in der Region

Organisatoren
AG Landes- und Regionalgeschichte der Oldenburgischen Landschaft
Ort
Oldenburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2016 - 29.10.2016
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Von
Yella Nicklaus, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit am Historischen Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Gesundheits- und Sozialpolitik als in- und exkludierende Instrumente des „Social Engineering“ im Nationalsozialismus standen im Fokus der von der AG Landes- und Regionalgeschichte der Oldenburgischen Landschaft ausgerichteten Tagung im Niedersächsischen Landesarchiv in Oldenburg. Die Referierenden der vier Panels, die sich mit unterschiedlichsten Facetten der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik auseinandersetzten, leisteten gleichzeitig einen Beitrag zur Auslotung der Rolle von regionalgeschichtlichen Studien innerhalb der Geschichtsschreibung des Nationalsozialismus.

Das erste Panel „Einführung und Grundlagen“ wurde von DIETMAR VON REEKEN (Oldenburg) mit einer Begrüßung der Teilnehmenden eröffnet. MALTE THIEßEN (Oldenburg) gab eine inhaltliche Einführung, indem er anhand von drei Schwerpunkten einen allgemeinen Rahmen für die nachfolgenden Panels und Diskussionen spannte: Er betonte die Zusammenhänge zwischen Gesundheits- und Sozialpolitik und sozialen Normen; ihre Zielsetzung, zeitliche Ordnungen und Zukunftsvorstellungen zu etablieren; sowie den Beitrag, den regionalgeschichtliche Fragestellungen zu einer Geschichte der Ordnung des Sozialen im Nationalsozialismus leisten können.

WOLFGANG HENNINGER (Oldenburg) setzte sich in seinem Vortrag aus archivarischer Sicht mit regionalen Quellen zur Gesundheits- und Sozialpolitik auseinander. Während – als Folge der Bürokratisierung im Nationalsozialismus – eine große Menge Gesundheitsakten für Historiker/innen zugänglich seien, wurden die Akten der NSDAP-Parteistrukturen, wie zum Beispiel die der Gauverwaltungen, nahezu komplett vernichtet. Henninger empfahl, hier einen Umweg über andere Quellenarten oder Provenienzen, beispielsweise Ministerialbehörden oder Entnazifizierungsausschüsse, zu nehmen. In Hinblick auf Gesundheitspolitik regionalgeschichtlich bedeutsam seien vor allem die Sippentafeln der Gesundheitsämter, die Akten der Erbgesundheitsgerichte sowie die Patientenakten der Erbgesundheitsgerichte.

Das zweite Panel „Psychiatrie und Euthanasie“ eröffnete INGO HARMS (Oldenburg), der sich mit der Psychiatriepolitik des Landes Oldenburgs ab 1932 beschäftigte. In den Mittelpunkt seines Vortrags stellte er die Kostensenkungspolitik im Psychiatriesektor, die vor allem der wirtschaftlichen Effizienz diente. Treibende Kraft war der Landesfürsorgeverband (LFV) Oldenburg, dem ab 1933 immer mehr Verantwortlichkeiten im Fürsorgebereich übertragen wurden. Anhand von Jahresabrechnungen der einzelnen Heil- und Pflegeanstalten zeigte Harms, wie diese ab 1937 durch die Ausnutzung der Arbeitskraft ihrer Patient/innen sowie eine sukzessive Senkung der Verpflegungssätze finanzielle Gewinne erwirtschafteten. Das Primat der wirtschaftlichen Effizienz zeigte sich am drastischsten in einer systematischen Unterernährung der Patient/innen, die sich in Sterblichkeitsraten von bis zu 30 Prozent ausdrückte.

Vorgezogen wurde danach der Vortrag von WOLFGANG FORM (Marburg), der sich mit Zwangssterilisationen im ehemaligen Regierungsbezirk Kassel befasste. Auf Grundlage einer Vollerhebung der Erbgesundheitsakten im Regierungsbezirk, immerhin 2.185 Fälle, zeichnete Form eine Geschichte der Zwangssterilisation im NS, bei der er vor allem die individuellen Handlungs- und Entscheidungsmachten der lokalen Mediziner/innen in den Mittelpunkt stellte. Eugenikdiskurse waren zwar bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts international geführt worden, der Nationalsozialismus sei aber im Ausmaß der tatsächlich durchgeführten Zwangssterilisationen einmalig gewesen. Laut Form bildeten die Sterilisationen auf Grundlage des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ zwar keine direkte Vorstufe zum Massenmord der Aktion T4, trugen aber zu dessen Vorbereitung bei. Der zweite Teil des Vortrags behandelte die Kontinuitäten eugenischer Denkmuster und Sterilisationen nach 1945. Refertilisierungen der Opfer der Zwangssterilisationen wurden zunächst durch uneindeutige Gesetzeslagen erschwert, auch von politischer Seite wurden Opfer in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht rehabilitiert oder unterstützt. Auch später wurden zunächst nur aus rassistischen Gründen Zwangssterilisierte entschädigt, Opfer eugenischer Zwangssterilisierung fanden zunächst auch im Bundesentschädigungsgesetz 1953 keine Erwähnung. Form kam zu dem Schluss, im Umgang mit Zwangssterilisierten habe es 1945 keine „Stunde Null“ gegeben, vielmehr hätten bis zur Aufhebung der Beschlüsse der Erbgesundheitsbehörde bis 1995 Kontinuitäten bestanden.

Das dritte Panel „Sozialpolitik und Fürsorge“ begann mit zwei Vorträgen zur Rolle der christlichen Fürsorgeorganisationen im Nationalsozialismus: HANS-GEORG ASCHOFF (Hannover) hielt einen Vortrag zur deutschen Caritas, HANS OTTE (Hannover) befasste sich mit der Inneren Mission, der Vorgängerorganisation der Diakonie. Beide lieferten keine regionale Fallstudie, sondern gaben einen Überblick über die Aktivitäten der katholischen und evangelischen Fürsorgeorganisationen während des Nationalsozialismus. Neben dem Roten Kreuz waren die christlichen Organisationen die einzigen Fürsorgeträger, die neben dem staatlich geführten Paritätischen Wohlfahrtsverband im NS weiter existierten. Trotz der ähnlichen Themen zogen die beiden Vortragenden sehr unterschiedliche Resümees: Während Aschoff vor allem die Repressionen des NS-Staats gegen Kirche und Caritas in den Fokus stellte, zeichnete Otte ein ambivalenteres Bild der evangelischen Kirche im NS, das auch die systemstabilisierende Funktion der Fürsorgeorganisation nicht ausließ.

Der erste Tag der Tagung wurde beschlossen von ANTJE SANDER (Jever), die einen öffentlichen Abendvortrag über Josefa Egberts hielt, eine friesische Malerin, die den NS-Krankenmorden 1941 zum Opfer fiel. Ergänzt durch Quellen und verschiedene künstlerische Werke Egberts gab Sander einen Einblick in das Schicksal psychisch Kranker im NS. Bereits vor 1933 war Egberts mehrfach in Behandlung wegen „Schizophrenie“ und „dementia praecox“ gewesen. Nach dem Tod der Eltern 1934 fiel das familiäre Netzwerk weg, das ihr bis dato Schutz geboten hatte, sodass sie zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Osnabrück eingewiesen wurde, wo sie — gemäß der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik — wenig Betreuung erfuhr. 1941 wurde Josefa Egberts in die Tötungsanstalt Hadamar deportiert und dort ermordet.

Der zweite Tag begann mit PATRICK BERNHARDs (Potsdam) Vortrag zum Umgang mit Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus. Mehrere Hundert bis mehrere Tausend „asoziale“ Tbc-Kranke wurden im NS durch Verabreichung von Luminal, einem weit verbreiteten Schlafmittel, in achtzehn psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalten ermordet. Bernhards aktuelles Forschungsprojekt, dessen Konzeption er im Vortrag erläuterte, ziele zum einen auf die konkrete medizinische und pflegerische Behandlung in den psychiatrischen Einrichtungen ab, zum anderen solle es die Akteure und die Verantwortlichkeiten in den bis jetzt wenig beachteten Mordfällen zu Tage bringen. Bernhard fragte unter anderem, welche Auswirkungen die Versorgungsengpässe im Zweiten Weltkrieg auf die Patient/innen im NS-Gesundheitssystem hatten. Weiterhin beschäftige sich sein Projekt mit Hierarchisierungen in der Versorgung der Tbc-Kranken: Welche Kriterien entschieden über die „Behandlungswürdigkeit“ in den Augen des NS-Gesundheitssystems? Bernhard legte hier den Fokus auf Arbeits(un)fähigkeit und die Bedeutung der Kategorie „Rasse“. Seine Forschung solle auch der Frage nachgehen, ob Rassismus oder vielmehr Produktivitätsfragen das nationalsozialistische Denken in Bezug auf die Behandlung Tbc-Kranker bestimmten.

Das Panel „Umgang mit Randgruppen“ eröffnete BRITTA-MARIE SCHENK (Kiel) mit einem Vortrag zu städtischen Strategien im Umgang mit Obdachlosen in Kiel 1933-1938. Obdachlosigkeit war in der Weimarer Republik zum Massenphänomen avanciert, vor allem exmittierte Familien standen seitdem im Fokus der städtischen Akteure. Schenk zeigte anhand von Aktenbeständen des Kieler Wohlfahrtsamts auf, dass Obdachlose im Nationalsozialismus nicht lediglich Opfer von Verfolgung und Vernichtung waren und forderte, auch Randgruppen als Akteure zu begreifen. Sie stellte zum einen Prozesse der Binnenhierarchisierung innerhalb der Gruppe der Obdachlosen heraus – in einem Kieler Obdachlosenasyl kam es zu Denunziationen von jüdischen Obdachlosen und Separierungsforderungen an die Fürsorgebehörde. Durch diese waren die Obdachlosen in der Lage, Handlungsmacht zu gewinnen. Zum anderen gab es auch von Seiten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) in Kiel Bemühungen, die Lebensbedingungen einer Gruppe „asozialer“ Familien zu verbessern, bis hin zur Verlegung der Familien aus einer Barackensiedlung in Regelwohnungen im Jahre 1938. Schenk zeigte anhand dieser Bemühungen der NSV, die obdachlosen Familien in die Volksgemeinschaft zu integrieren, dass Asozialitätszuschreibungen von Seiten der Verantwortlichen häufig variabel waren und sogar mitten durch die Gruppe der Obdachlosen verlaufen konnten.

DUNCAN COOPER (Osnabrück) zeichnete als zweiter Vortragender des Panels die Diskriminierung und Verfolgung der Osnabrücker Sinti und Roma im Nationalsozialismus nach. Cooper stellte — nach einem kurzen Exkurs in die Geschichte der Verfolgung von Sinti und Roma in Deutschland ab dem 18. Jahrhundert — zunächst fest, dass die NS-Machtübernahme 1933 keinen Umbruch in der Verfolgungspraxis bedeutete, sondern zunächst vielmehr eine Kontinuität in der Diskriminierungspraxis zu beobachten war. Erst mit der Institutionalisierung rassenhygienischer Forschungen durch die Rassenhygienische Forschungsstelle (RHF) ab 1937 lasse sich eine erste Zäsur in der Geschichte der Osnabrücker Sinti und Roma setzen. Ab 1938 wurden Sinti und Roma als „Asoziale“ verfolgt und in die Barackensiedlung „Papenhütte“ am Stadtrand umgesiedelt. 1942 wurden 58 Sinti, mindestens die Hälfte von ihnen minderjährig, ins Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Duncan ging neben der nationalsozialistischen Verfolgung auch auf die sogenannte „Zweite Verfolgung“ von deutschen Sinti und Roma in den Entschädigungsverfahren der Nachkriegszeit ein. Im Grundsatzurteil des Bundesgerichtshofs 1956, demzufolge eine rassische Verfolgung von Sinti und Roma erst ab 1943 eingesetzt hätte, sah Cooper eine erneute Asozialitätszuschreibung durch die Bundesrichter. Cooper resümierte mit Verweis auf die „Deutsche Zustände“-Untersuchung der Universität Bielefeld, auch in der Gegenwart seien Sinti und Roma Vorurteilen und Diskriminierung ausgesetzt.

Abschließend kommentiert wurde die Tagung von WINFRIED SÜß (Potsdam). Dieser stellte die Potenziale und Risiken regionalgeschichtlicher Untersuchungen des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt seines Vortrags: Durch den Mikroblick könnten einerseits etablierte Forschungsannahmen in Frage gestellt werden und gerade im Hinblick auf das ambivalente Verhältnis von NS-Sozialverwaltung und Zivilgesellschaft neue Erkenntnisse gewonnen werden. Auf der anderen Seite würden viele regionalgeschichtlichen Arbeiten Ergänzungsstudien darstellen, deren Beitrag zur Erforschung des Nationalsozialismus lediglich die Beantwortung der Frage „Wie war es in Region X?“ sei. Er plädierte dafür, intensiver der Frage nachzugehen, wo der Blick auf die Region tatsächlich den Blick auf die systematischen Zusammenhänge der Gesundheits- und Sozialpolitik schärfen kann. Zurecht wies Süß zudem darauf hin, dass „Region“ ein flexibler Begriff sei, der einer reflektierten und dem Forschungsgegenstand angemessenen Eingrenzung bedarf.

Insgesamt bot die Tagung einen vielfältigen Blick auf unterschiedliche Aspekte der nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik. Viele Vortragende konnten zeigen, dass regionalgeschichtliche Untersuchungen das Potential haben, die Forschung zum Nationalsozialismus nicht nur zu ergänzen, sondern sie durch neue Perspektiven zu erweitern.

Konferenzübersicht:

1. Einführung und Grundlagen
Begrüßung und Moderation: Dietmar von Reeken

Malte Thießen (Oldenburg): Vom Ordnen des Sozialen: Gesundheits- und Sozialpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Wolfgang Henninger (Oldenburg): Regionale Quellen zur Gesundheits- und Sozialpolitik

2. Psychiatrie und Euthanasie
Moderation: Malte Thießen

Ingo Harms (Oldenburg): Die Psychiatriepolitik im Land Oldenburg 1932-1945

Stephanie Schmitt (Berlin): Die Opfer der „Aktion T4“ aus der Provinz Schleswig-Holstein. Quantitative und qualitative Ergebnisse der Auswertung des historischen Krankenaktenbestandes R/179

3. Sozialpolitik und Fürsorge
Moderation: Dietmar von Reeken

Hans-Georg Aschoff (Hannover): Die deutsche Caritas und der Nationalsozialismus

Hans Otte (Hannover): Organisierte Nächstenliebe. Die Innere Mission zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik

Öffentlicher Abendvortrag (im Rahmen der Historischen Abende):
Antje Sander (Jever): Die Malerin Josefa Egberts (1893-1941) – ein Opfer der NS-Krankenmorde aus Friesland

4. Gesundheitsvorstellungen und gesellschaftliche Konzepte
Moderation: Dietmar von Reeken

Wolfgang Form (Marburg): "Von der allmählichen Reinigung des Volkskörpers und der Ausmerzung von krankhaften Erbanlagen". Zwangssterilisation im ehemaligen Regierungsbezirk Kassel 1934 – 1945

Patrick Bernhard (Potsdam): Im Schatten der "Euthanasie": Der Umgang mit Tuberkulosekranken im Nationalsozialismus

5. Umgang mit „Randgruppen“
Moderation: Gerd Steinwascher

Marie Schenk (Kiel): Pragmatismus versus Stigmatisierung. Städtische Strategien im Umgang mit Obdachlosen in Kiel (1933-1945)

Duncan Cooper (Osnabrück): Diskriminierung und Verfolgung der Osnabrücker Sinti im Nationalsozialismus

6. Resümee und Bilanz
Moderation: Malte Thießen

Winfried Süß (Potsdam): Nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitik in der Region - Zwischenbilanz und Perspektiven der Forschung