Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Spannungsfelder

Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Spannungsfelder

Organisatoren
Heinz-Peter Schmiedebach, Historisches Kolleg, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.11.2016 - 11.11.2016
Url der Konferenzwebsite
Von
Gabriele Moser, Département d’histoire des sciences de la vie et de la santé (DHVS), Faculté de médécine, Université de Strasbourg

Im November letzten Jahres hatten die an den Themen Medizin, Public Health und Öffentliche Gesundheit Interessierten die Qual der Wahl zwischen zwei Konferenzen: Das Robert-Koch-Institut organisierte in Berlin das „Zukunftsforum Public Health in Deutschland“ am 8. und 9. November 2016, um über die zukünftige Rolle von Public Health zu beraten. Dass dieses Thema im öffentlichen Bewusstsein wenig verankert ist, wurde unter anderem auf historisch bedingte strukturelle Defizite zurückgeführt. Diese gelte es weiter aufzuarbeiten, um ein funktionierendes Public-Health-System, möglichst mit Potenzial der Erweitertung zu Global (Public) Health, für Deutschland zu entwickeln. Der in Berlin geforderten historischen Aufarbeitung der Geschichte des deutschen Gesundheitswesens widmete sich zeitgleich das vom 9.-11. November 2016 in München unter dem Titel „Medizin und öffentliche Gesundheit. Konzepte, Akteure, Spannungsfelder“ stattfindende Kolloquium – eine Aufforderung zum Dialog mit der Vergangenheit, um die Gegenwart medizinischer Versorgung und der zugrundliegenden Ideen besser zu verstehen. Heinz-Peter Schmiedebach, seit dem Wintersemester 2015/16 in Berlin erster (Stiftungs-) Professor für „Medical Humanities“ in Deutschland, hatte die Tagung anlässlich der zwölften Verleihung des Preises des Historischen Kollegs konzipiert. Das wissenschaftliche Kolloquium wurde gemeinsam mit dem Historischen Kolleg vorbereitet und fand in dessen Räumlichkeiten eine sehr gastfreundliche Aufnahme.

Die zentralen Fragen des Kolloquiums kreisten um zwei Fragenkomplexe: Um Bedeutung und Wirkungsmacht des Indiviuums in dem jeweils historischen Rahmen der Gesundheitspolitik auf der einen Seite, um Rolle und Aufgaben der Medizin als Profession in der Spannung zwischen Individualgesundheit und öffentlicher Gesundheit – Themensegmente, die als gegensätzliche, zumindest jedoch eigenständige und voneinander unabhängige Phänomene erscheinen – auf der anderen Seite.

Der offiziellen Begrüssung der Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch den Vorsitzenden des Kuratoriums des Historischen Kollegs, ANDREAS WIRSCHING (München), folgte die thematische Einführung durch HEINZ-PETER SCHMIEDEBACH (Hamburg / Berlin). Als Fellow des Kollegs hatte Schmiedebach bereits im Kollegjahr 2013/14 über „Psychiatrie und Wahnsinn im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und professioneller Macht, 1880–1925“ geforscht; die zentralen Pole „Öffentlichkeit“ und „professionelle Macht“ erweiterte er nun um das „Individuum“ als dritten Schwerpunkt zum konzeptionellen Rahmen des Kolloquiums. In diesem Referenzrahmen ließen sich alle Tagungsbeiträge verorten, sodass über die gesamte Tagungsdauer hinweg eine lebhafte Diskussions- und Arbeitsatmosphäre vorherrschte.

Die Veranstaltung führte in München Wissenschaftler/innen zusammen, die das Interesse an einer historischen Perspektive auf Medizin und öffentliche Gesundheitsversorgung teilen, aber die Trias Individuum – Gesellschaft – Profession aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Gesundheit, individuelle wie öffentliche, entsteht nicht nur im Zusammenwirken verschiedenster medizinischer Disziplinen und Unterdisziplinen, sondern auch im nachhaltigen Agieren verschiedener Einrichtungen in Gesellschaft und Politik mit dem Individuum. Schmiedebach hielt fest, dass soziale, kulturelle sowie politische Faktoren für die Prägung der individuellen Lebensführung und das Gesundheitsverhalten von sozialen Gruppen mindestens ebenso bedeutsam seien wie die Medizin, dadurch implizit den Bogen zu den in Deutschland neu eingeführten „Medical Humanities“ schlagend. Ihre Implementierung zeugt von der empfundenen Lücke in der Ausbildung zukünftiger Ärzte und Ärztinnen, deren Studium weitgehend auf die Aneignung naturwissenschaftlicher Grundlagen und klinisch-medizinischem Wissen über den Körper fokussiert.

Im ersten Beitrag von ALFONS LABISCH (Düsseldorf) stand der Arzt nicht in seiner Rolle als „Heiler“ oder Therapeut des Individuums im Mittelpunkt, sondern als medizinischer Experte, der in Fragen der öffentlichen Gesundheitssicherung seine Beratungskomptenz den entscheidenden Institutionen anbietet. Dieses Modell exemplifizierte Alfons Labisch an verschiedenen Epochen, in denen öffentliche Interventionen in Gesundheit gegeben waren, z.B. die Einrichtung von Quarantänemaßnahmen in Hafenstädten gegen die Gefahr der Verbreitung von Infektionskrankheiten. Als Zäsur machte der Referent die 1980er-Jahre mit den Debatten um den Begriff der Risikogesellschaft und die AIDS-Problematik aus, in der erstmals Betroffene als Sachverständige zur Konzipierung von Informations- und Beratungsmodellen herangezogen wurden. Abschließend fragte Alfons Labisch, der – ebenso wie der folgende Referent Rainer Müller – an der Entwicklung der aktuellen Positionspapiere der Akademie der Wissenschaften / Leopoldina zu Public Health-Modellen beteiligt ist, nach Anknüpfungs- bzw. Übertragungsmöglichkeiten des erarbeiteten Modells auf die aktuelle Situation.

Aufgrund der durch die Digitalisierung erfolgten potenzierten Möglichkeiten der Datennutzung und der molekulargenetischen Schwerpunktlegung der Medizin, so führte RAINER MÜLLER (Bremen) als nächster Referent aus, stelle sich die heutige Situation des Mediziners völlig anders dar als noch in den 1980er-Jahren. Hatte Alfons Labisch eine Mutation des Arztes vom Behandler des Individuums zum prädiktiv tätigen Berater angesprochen, widmete sich Müller der zukünftigen, übernationalen Perspektive öffentlicher Gesundheitssicherung. Zu diesem Zweck plädierte er für eine Neukonzeption von Public Health als Theorie und Praxis der Sicherung des Humanvermögens im Lebenslauf, verstanden als „personale Lebenskompetenz“, die gleichermaßen als individuelle wie auch als öffentliche Gesundheit gedacht werden kann. Als „health in all policies“-Konzept impliziert dieses Verständnis von Gesundheit nicht nur den Zugang zu medizinischen oder sozialen Leistungen, sondern ebenfalls zu Bildungsgütern, die das Individuum in die Lage versetzen, die unterschiedlichen gesundheitlichen und sozialen Anforderungen im Lebenslauf zu bewältigen.

GEORG MARCKMANN (München) untersuchte als Medizinethiker die Frage der Abwägung populationsbezogenen Nutzens gegenüber individuellen Belastungen bzw. Risiken bei Maßnahmen im Interesse des Erhalts der öffentlichen Gesundheit. An der Grippeimpfung des Gesundheitspersonals eines Klinikums exemplifizierte Georg Marckmann modellhaft mögliche Lösungswege in der Implementierung der Impfung, wobei im Zentrum die Frage nach der ethischen Rechtfertigung der Beeinflussung der Entscheidungsfindung des Einzelnen stand.

Den zweiten Tag des Kolloquiums eröffnte KARL-HEINZ LEVEN (Erlangen) mit einem Beitrag, der in die Antike führte. Obwohl Public Health als ein modernes Konzept der aufgeklärten Gesellschaft gilt, kann man insofern ‚Wurzeln‘ in der Antike ausmachen, als man bereits damals wusste, dass verschmutztes Wasser und Abfall in den Strassen die Verbreitung von Erkrankungen begünstigten. Dementsprechend wurden Maßnahmen der Stadthygiene bereits in der Antike als Teil öffentlicher Gesundheitsfürsorge zum Schutz der gesamten Bevölkerung durchgeführt. Karl-Heinz Leven machte jedoch deutlich, dass diese, die Lebensbedingungen der Allgemeinheit betreffenden hygienischen Interventionen, keineswegs Gegenstand der Hippokratischen Medizinlehre waren, die ausschließlich der individuellen Heiltätigkeit des Arztes gewidmet war, also keine Frühkonzeption von Public Health als auf die Gesundheit von Populationen bezogene medizinische Intervention enthielt.

Im Vortrag von FRIEDRICH LENGER (Giessen) stand dagegen die urbane Umwelt im Zentrum. Basierend auf medizinisch-wissenschaftlichen Analysen der Gefahren, die der menschlichen Gesundheit aus der städtischen Umwelt entstanden, hatte sich im 19. Jahrhundert die von Teilen des Bürgertums getragene Assanierungsbewegung als Reaktion auf die Untätigkeit staatlicher Obrigkeiten entwickelt. Hygienischen Grundsätzen zum Durchbruch verhelfend, begann die Säuberung der Wohnviertel und der städtischen Infrastruktur. War der individuelle Nutzen dieser Maßnahmen auch unübersehbar, so orientierten sich die hygienisch motivierten Interventionen nicht an der Gesundheit des Einzelmenschen, dem zentralen Objekt der medizinischen Intervention, sodass die Ziele der öffentlichen Gesundheit in diesem Falle nicht mit der personalen Integrität des Individuums konfligierten.

In ihrem Beitrag stellte EVA BRINKSCHULTE (Magdeburg) Ergebnisse einer Mikrostudie zur Geschichte der Gesundheitserziehung vor. Mit der Vermittlung gesundheitsrelevanter Kenntnisse und hygienischer Verhaltensformen ist ein anderer Teilaspekt der öffentlichen Gesundheitsfürsorge angesprochen, der durch Einsatz unterschiedlicher Medien das Verhalten der Individuen einer Bevölkerungsgruppe zu beeinflussen sucht. Die Sozial- und Gewerbehygienikerin Elfriede Paul, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Magdeburg das öffentliche Gesundheitswesen mit aufbaute, legte ihre Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen der Gesundheitserziehung regelmäßig auf den Sonntag – den arbeitsfreien Tag, an dem die anzusprechende Klientel auch sicher für eine Teilnahme Zeit hatte. Mit der Frage, ob und wenn ja, unter welchen sozialen und kulturellen Gegebenheiten die Form einer ritualisierten gesundheitlichen Aufklärungsveranstaltung heutzutage noch nutzbar sein könne, schloss Eva Brinkschultes Beitrag.

MARTIN LENGWILER (Basel) thematisierte die historische Entwicklung des Vorsorgegedankens in der modernen Gesellschaft. Er analysierte die Prävention im Spannungsfeld zwischen Staat und Individuum, womit er eine Thematik aufnimmt, die nach wie vor spannungsreich ist und die auch gerade heute als eine Herausforderung zu betrachten ist. Vorstellungen von Vorsorge und Prävention besitzen dabei oft einen idealistischen, bisweilen utopischen oder ersatzreligiösen Unterton. Er legte die Entwicklung des präventiven Denkens in Medizin und Gesundheitspolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jarhunderts dar und fragte nach den damit verbundenen Verantwortlichkeiten zwischen individuellen, zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren. Dies illustrierte er einerseits anhand der Geschichte des sozialmedizinischen Aufbruchs in der Bundesrepublik zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren, andererseits der Debatten um Prävention auf internationaler Ebene, insbesondere im Umfeld der Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Die gegenwärtigen Entwicklungen auf dem Gebiet der individuellen Gesundheitsvorsorge diskutierte EBERHARD WOLFF (Zürich). Im Mittelpunkt seines Beitrages stand die Gesundheit des Individuums, das durch die neuen technischen Entwicklungen in die Lage versetzt wird, den eigenen Gesundheitszustand immer engmaschiger zu kontrollieren und eine komplexe Selbststeuerung des gesundheitsrelevanten Verhaltens zu entwickeln. Maßnahmen zum Schutze der öffentlichen Gesundheit, beispielsweise durch die Schaffung gesundheitsgemäßer Umwelt- und Arbeitsbedingungen wurden in seinem Beitrag nicht thematisiert, wohl aber die Negativseite der staatlichen Steuerung des Gesundheitssystems. Er stellte der staatlichen Kontrolle diejenige der eigenverantworlichen gegenüber: Selbstoptimierung mit ihrem Gehalt an Autonomie und Selbstermächtigung als positive Technologien des Selbst. Auf dieser konzeptionellen Ebene schloss Eberhard Wolff an die Fragen an, die Rainer Müller aufgeworfen hat. Beide verweisen auf das von Ilona Kickbusch (WHO) entwickelte Konzept der „Gesundheitsgesellschaft“ als ein möglicherweise zukunftsträchtiges Modell.

In seinem Beitrag sprach MARTIN DINGES (Stuttgart / Mannheim) die geschlechterspezifische Orientierung der öffentlichen Gesundheitsförderung an. Das (konstruierte) Bild vom Weib als schwachem Geschlecht zeitigte nach Martin Dinges die Dominanz der frauenspezifischen Ausrichtung der Gesundheitspropaganda seit dem 19. Jahrhundert, der kürzeren Lebenserwartung des männlichen Teiles der Bevölkerung zum Trotz. Möglicherweise hätte die Einbeziehung gewerbehygienischer und arbeitsmedizinischer Quellen die konstatierte einseitige Geschlechterorientierung der Gesundheitsaufklärung relativiert, denn im Rahmen der Unfall- und Invaliditätsversicherung war die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Information über Unfallverhütung und Schutz vor chronischen, entschädigungspflichtigen Gewerbekrankheiten sogar gesetzlich vorgeschrieben; die „Gesundheitspropaganda“ erfolgte hier aus Kostengründen aufgrund der Unternehmerhaftpflicht. Für die allgemeine Krankenversicherung und den Zeitraum ab Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Feststellungen von Martin Dinges sicherlich zutreffend, dass Männer erst sehr spät als Adressaten der Gesundheitsförderung entdeckt und dann ziemlich ungeschickt angesprochen wurden. Er geht der spannenden Frage nach, warum dies so war und auch heute noch so ist, denn nach wie vor sind die Männer hinsichtlich ihrer Bereitschaft zu Vorsorgeuntersuchungen keineswegs so aktiv wie die Frauen.1

MONIKA ANKELE (Hamburg) widmete sich in ihrem Vortrag explizit der Arbeitskraft, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Verlust des Arbeitsplatzes konnte krankmachende Folgen nach sich ziehen, zuweilen auch die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt. Dort wurde der Rückgewinnung der Arbeitskraft des Insassen so große Bedeutung zugemessen, dass ihre Wiedererlangung der Gesundung gleichgesetzt wurde. In diesem Denkkonzept stellte die Arbeitstherapie einen logischen Schritt auf dem Weg zur Besserung dar, zumal sie die öffentlichen Ausgaben minderte. Kritiker verwarfen das Prinzip der Anstalt als „Reparaturbetrieb“, konnten sich jedoch gerade unter den ökonomisch schlechten Bedingungen der Jahre der Weimarer Republik nicht durchsetzen.

In seinem Beitrag stellte PHILIPP OSTEN (Hamburg) die unterschiedlichen ‚modernen‘ Medien im Einsatz der Propagierung gesundheitsgemäßen Verhaltens vor. Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausstellungen aufgrund ihrer Kombination von belehrenden Texten und selbsterklärenden Bildern als ideales Instrument der „Hygienischen Volksbelehrung“ galten, erreichte der Film ein zahlenmäßig ungleich größeres Publikum in kürzerer Zeit. Ein Grund hierfür war die Tatsache, dass vor dem Beginn des Hauptprogramms die Lichtspieltheater sog. Kulturfilme zeigten, die sich oft mit Fragen der Hygiene oder der Gesundheit befassten. Philipp Osten untersuchte die Modi der Finanzierung sowie der Rezeption der Ausstellungen und Filmmedien, die zwar in öffentlichen Kampagnen der Gesundheitserziehung wie der „Reichsgesundheitswoche“ 1926 zum Einsatz kamen, oftmals jedoch als industriell-staatliche Mischform produziert worden waren. Mit dem Hinweis auf starke personale Kontinuitätslinien vom „Reichsausschuss für Hygienische Volksbelehrung“ zum Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda beendete Philipp Osten seinen Beitrag.

CHRISTOPH GRADMANN (Oslo) informierte in seinem Beitrag über Geschichte (und Zukunft) der Bakteriologie. Die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, Kernbereich des Öffentlichen Gesundheitswesens, erlebte unter dem Motto „Kampf den Mikroben!“ bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts große Erfolge. Der Siegeszug der Bakteriologen jedoch endet mit der weltweiten Entwicklung von Resistenzen gegen die frühere ‚Allzweckwaffe‘ Antibiotikum. Das Krankenhaus selbst wird zum Erzeugungsgebiet für neue Erregertypen, die Krankenhauskeime. Vor dem Zweiten Weltkrieg starben Kranke an Infektionen, die sie ausserhalb des Krankenhauses erworben hatten, nach dem Zweiten Weltkrieg an solchen, die dort erst entstanden waren. Trotz gegenteiliger Evidenz halten jedoch nationale und internationale Gesundheitsinstitutionen das Versprechen der Kontrolle über die Infektionskrankheiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufrecht. Die Geschichte der Infektionsbiologie des 19. Jahrhunderts als Teil einer langsamen, natürlichen Entwicklung habe, so Christoph Gradmann, ihr Ende erreicht; die moderne Infektionsmedizin müsse sich auf eine allgemein beschleunigte Krankheitsentwicklung einstellen und sich auf die Antizipation diskontinuierlicher Veränderung ausrichten.

FLURIN CONDRAU (Zürich) verzichtete in seinem Schlusskommentar auf die kritische Kommentierung der einzelnen Beiträge, setzte vielmehr Orientierungspunkte für die zukünftige historische Beschäftigung mit den Themen „Medizin und Öffentliche Gesundheit“. Das Verhältnis von klinischer Medizin als individualmedizinischem Interventionsbereich zu (individueller/öffentlicher) Gesundheitsfürsorge und Public Health müsse präziser geklärt und beschrieben werden, besonders im Hinblick auf die Frage, ob Public Health als eigener Bereich oder als Teil der klinischen Medizin zu erfassen sei. Schließlich solle Public Health nicht nur als „staatliche“ Veranstaltung gesehen werden, sondern es seien die unterschiedlichen Akteure zu analysieren: Pharmaindustrie, Sportindustrie sowie das Marktfeld Public Health – hier strukturieren Verteilungskämpfe das Feld, wobei Public Health möglicherweise als nicht „geldträchtigem Bereich“ eine Sonderrolle zukomme.

Zusammengefasst forderte Flurin Condrau, „Public Health“ als Konzept zu historisieren, indem seine Wertmaßstäbe und diejenigen der gesetzlichen Regelungen genau benannt werden. Der zeitliche Fokus der Untersuchungen sei auf die jüngere Vergangenheit zu legen bei gleichzeitiger Historisierung der eigenen Geschichte.

Nach den anregenden, diskussionsreichen und spannenden Tagen in München ist festzuhalten, dass das Kolloquium als ein erster Schritt in diese Richtung betrachtet werden kann.

Konferenzübersicht:

I ) Konzepte und Herausforderungen

Heinz-Peter Schmiedebach (Hamburg/ Berlin): Einführung

Alfons Labisch (Düsseldorf): Der öffentliche Werth der Gesundheit“. Oder: Was bringt eine Gesellschaft dazu, gesund zu sein und bleiben zu wollen. Die historische Perspektive

Rainer Müller (Bremen): Public Health – Global Health. Neu denken, neu konzipieren. Die aktuelle und künftige Perspektive

Georg Marckmann (München): Ethische Bewertung von Public-Health-Maßnahmen. Methodische Grundlagen und praktische Anwendung

Karl-Heinz Leven (Erlangen): Hippokratische Medizin, spartanische Bräuche, Staatsutopien – Öffentliche Gesundheit als Idee und Auftrag in der Antike?

Friedrich Lenger (Gießen): Stadthygiene: Gesundheit und städtischer Raum in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Eva Brinkschulte (Magedeburg): Der medizinische Sonntag – Ritualisierung der Gesundheitsaufklärung in der DDR. Elfriede Paul (1900–1981) und das „Magdeburger Modell“

II) Dynamiken und Spannungsfelder

Martin Lengwiler (Basel): Prävention zwischen Staat und Subjekt: Aufriss einer Geschichte der Vorsorge im 19. und 20. Jahrhundert

Eberhard Wolff (Zürich): Von der „Public Health“ zur „Gesundheitsgesellschaft“?

Martin Dinges (Stuttgart): Die späte Entdeckung der Männer als Adressaten der öffentlichen Gesundheitsförderung

Monika Ankele: Jede Verhütung des Verfalls der Arbeitskraft ist (...) Gewinn für die Allgemeinheit.“ Arbeit/slosigkeit, Psychiatrie und öffentliche Gesundheit in der Weimarer Zeit

Philipp Osten (Hamburg): Film und visuelle Medien in der Gesundheitsaufklärung 1898–1945

Christoph Gradmann (Oslo): Natur, Technik, Zeit. Infektionskrankheiten und ihre Kontrolle im langen 20. Jahrhundert

Flurin Condrau (Zürich): Schlussbetrachtung

Anmerkung:
1 Von den anspruchsberechtigten Frauen der gesetzlich Versicherten nutzen 50 Prozent die Vorsorgeuntersuchungen, von den Männern nur 20 Prozent.