Cultural Heritage: Ressource und soziale Praxis im urbanen Raum

Cultural Heritage: Ressource und soziale Praxis im urbanen Raum

Organisatoren
Interdisziplinäres Forschungsverbundprojekt "Cultural Heritage als Ressource?" (CHER)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.05.2017 - 05.05.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Jenny Hagemann, Institut für Didaktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover; Florian Grawan, Institut für Berufspädagogik und Erwachsenenbildung/ Arbeitsstelle diversitAS, Leibniz Universität Hannover; Jana Stoklasa, Institut für Didaktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover

Nicht erst seit den jüngsten Diskussionen um „Leitkulturen“ ist der Begriff des kulturellen Erbes in aller Munde. Aber wer „macht“ Kulturerbe? Wem nutzt es – und wofür? Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir über Cultural Heritage diskutieren. Dieser und weiteren Fragen war die 2. Tagung des CHER-Verbundprojekts gewidmet. Am 4. und 5. Mai 2017 fanden sich die Mitarbeiter/innen, Projektleiter/innen, der wissenschaftliche Beirat des Verbundes sowie zahlreiche externe Referent/innen in der Gedenkstätte Berliner Mauer zusammen, um dem Phänomen „Heritage“ insbesondere im urbanen Kontext auf den Grund zu gehen.

Zum Auftakt trafen sich die Teilnehmer/innen der Tagung, um auf dem Gelände der Gedenkstätte einen Einblick zu erhalten, wie dieses spezifische Erbe konzeptuell aufbereitet und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Die Gruppe begutachtete insbesondere das Außengelände und konnte einen Teilbereich des ehemaligen Grenzstreifens besichtigen. Hier lieferte die Führung von SUSANNE MUHLE (Berlin) zahlreiche Ansatzpunkte zur Praxis des ‚Heritage-makings‘, da auch über die Rekonstruktion von historischen Artefakten diskutiert wurde.

Anschließend folgte ein Keynote-Vortrag von ASTRID SWENSON (London) zu den transnationalen historischen Prozessen, die ‚Heritage‘ zugrunde liegen. Sie zeichnete die Entwicklung unseres heutigen Verständnisses des Begriffes aus historischer Perspektive nach und stellte zudem die mit ihm assoziierten Ideen im Wandel der Zeit vor. Laut Swenson handele es sich bei ‚Heritage‘ bereits im 19. Jahrhundert um einen universellen Begriff, dessen Bewahrung und Nutzung allerdings nur bestimmten Akteuren vorbehalten gewesen sei. Außerdem plädierte die Referentin für ein ausdifferenziertes ‚Heritage‘-Vokabular, das die verschiedenen Konzepte und Definitionen des Begriffes genauer fassen und wiederspiegeln könne.

Das erste Panel der Tagung widmete sich ‚Cultural Heritage‘ als sozialer Verhandlungsmasse und deren verschiedenen sowie post-kolonialen Deutungen. AXEL KLAUSMEIER (Berlin) zeichnete zunächst die Erweiterung des Denkmalbegriffes um „unbequeme“ Erinnerungsstätten ab den 1970er-Jahren nach. Kulturelles Erbe wie das der Berliner Mauer erhalte seine erinnerungsspezifischen Qualitäten gerade durch den politischen, historischen und/oder emotionalen Streitwert, der heute als positiv und produktiv wahrgenommen werde. Im Zuge dessen stellte Klausmeier das Konzept des Europäischen Kulturerbe-Siegels sowie dessen Grenzen und Probleme vor.

Sein Vortrag wurde von IMAN ATTIA (Berlin) ergänzt, die sich mit den Narrativen schwarzer Menschen in Deutschland befasste. Durch die Fokussierung auf Themen und Aushandlungsprozesse kulturellen Erbes abseits hegemonialer Erzählungen zeigten sich die unterschiedlichen Handlungsgrundlagen, auf denen Etablierte und Minoritäten agieren. Dies führe dazu, dass die Perspektiven von Minoritäten denen der etablierten Gruppen nicht einfach hinzugestellt werden könnten; vielmehr plädierte Attia daher für eine Aufnahme bestehender oder vergangener Exklusionsprozesse in die Narrative etablierter Gruppen und warf zudem die Frage auf, inwiefern ein beständiger Pluralismus unterschiedlicher Deutungen der Anerkennung einer objektiven Wahrheit in der Wissenschaft vorzuziehen sei. Geschichtskonstruktionen könnten demnach umgedeutet werden, wenn de-thematisiertes Wissen aufgedeckt wird.

Im zweiten Panel referierten CHRISTINE SCHOENMAKERS (Hannover) sowie BEATE BINDER (Berlin) zu ‚Cultural Heritage‘ und dessen Aushandlungsprozessen in Berlin. Christine Schoenmakers, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Teilprojekt 1 des Verbundes, betrachtete dabei in ihrem Vortrag verschiedene Mythen, die die Wahrnehmung Berlins und seiner Geschichte prägten und die sich unter anderem in Form symbolischer Orte in der Hauptstadt manifestierten. Anhand ausgewählter Beispiele zeichnete Schoenmakers die Konflikte nach, die aktuell die Verhandlung kulturellen Erbes durch unterschiedliche Akteure im urbanen Umfeld kennzeichneten und zeigte zudem auf, dass Wahrnehmung und Deutung dieser sozial konstruierten symbolischen Orte einem stetigen Wandel unterworfen seien.

BEATE BINDER (Berlin) ergänzte am Beispiel des Berliner Schlossplatzes bzw. des Humboldt-Forums detailliert, wie solche Aushandlungsprozesse ablaufen können. Dabei beeinflusse die verwendete Sprache besonders in kontroversen Diskursen die Wahrnehmung seiner Inhalte zugunsten eines bestimmten Ergebnisses. Binder unterstrich dabei, auf welche Weise die beteiligten Akteure nicht nur den Bezug zur Vergangenheit hergestellten, sondern wie Geschichte generell zum erhaltenswerten Teil der eigenen Identität werden könne und welche Aspekte dafür ausgewählt oder ignoriert würden.

Diese Perspektiven wurden im dritten Panel um drei Beiträge mit dem Schwerpunkt Breslau als Kulturhauptstadt 2016 erweitert. JANA STOKLASA (Hannover) – ebenfalls Mitarbeiterin des Teilprojekt 1 – referierte in ihrem Forschungsbericht zur selbsternannten „Stadt der Begegnungen“. In den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte Stoklasa die offenkundigen Diskrepanzen zwischen Stadtmarketing und Selbstwahrnehmung der Breslauer: In Breslau zeige sich kulturelles Erbe als bewusst genutzte Ressource für gesellschaftliche Integration – im Falle der Stadt bedeute dies eine Integration in die Europäische Gemeinschaft. Kulturerbe werde so zu einem Mittel der – auch wirtschaftlichen – Konkurrenzfähigkeit urbaner Räume in einer globalisierten Gesellschaft.

Diese These erweiterte und vertiefte JAKUB TYSZKIEWICZ (Breslau), indem er in seinem Vortrag die dezidierte Nutzung von Geschichte als politische Ressource herausstellte. Im Falle Breslaus sei hier vor allen Dingen das Narrativ der „Wiedererlangung piastischer Gebiete“ im Zuge der Westerweiterung nach dem Zweiten Weltkrieg zentral. Tyszkiewicz arbeitete zudem den historischen Kontext dieses Narrativs heraus, welches er insbesondere als identitätsstiftende Maßnahme des kommunistischen Nachkriegs-Regimes betrachtete.

ELZBIETA DZIKOWSKA (Breslau / Lodz) schloss das Panel mit ihrem Beitrag zu den Erzählungen rund um die Stadtgeschichte Breslaus ab. Ihren Schwerpunkt bildeten literarische Reflektionen zum Bevölkerungsaustausch in Breslau nach 1945. Sie referierte über die individuellen Strategien und Schwierigkeiten der neuen Breslauer/innen, die sich mit bestehenden Strukturen – und einem für sie „fremden“ Erbe auseinandersetzen mussten. Dzikowska ergänzte diese Perspektiven durch den individuellen Blick jener Menschen auf die Stadt, die Breslau verlassen mussten.

Den Abschluss der Tagung bildete die Führung von ULRIKE SCHMIEDER (Hannover) durch die Sonderausstellung „Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart“ im Deutschen Historischen Museum. Der Besuch der Ausstellung eignete sich gut, um die Fragen, Erkenntnisse und Deutungsansätze der zuvor gehörten Vorträge zu reflektieren und den Umgang mit dem Kolonialismus als „unbequemes Erbe“ zu diskutieren.

Insgesamt schärfte die Tagung den Blick für die Wahrnehmung und Ausprägung von ‚Cultural Heritage‘ im städtischen Raum. Dabei standen der teilweise schwierige Umgang mit historischen Hinterlassenschaften und deren strategisch-kalkulierende Inwertsetzung im Mittelpunkt. Images und Selbstrepräsentationen von Städten wie Berlin und Breslau bauen auf (mitunter konkurrierenden) historischen Narrativen und Mythen auf, die wiederum strategisch dazu genutzt werden, bestimmten Orten im Stadtraum Bedeutung einzuschreiben. ‚Cultural Heritage‘ ist daher nicht nur durch die Materialität von Bauten oder Denkmälern gekennzeichnet. Vielmehr ist es Ergebnis eines sozialen Konstruktionsprozesses. Urbane Räume können als „Kampfarenen“ angesehen werden, in denen unterschiedliche Akteure Deutungskonflikte austragen. Aus dieser Perspektive bildet das Dispositiv ‚Cultural Heritage‘ eine Klammer für unterschiedliche (Be-) Deutungen, die von gesellschaftlichen Gruppen in den Begriff hineinprojiziert werden. ‚Cultural Heritage‘ wirkt als Kristallisationspunkt individueller Selbstvergewisserung in der Gegenwart und in Bezug auf das Vergangene. Dabei dient die formalisierte und beständig reproduzierte Rückbesinnung auf Rituale und Traditionen nicht selten bestimmten Geschichtspolitiken oder auch wirtschaftlichen Interessen. Die Berliner Beiträge führten somit deutlich vor Augen, dass Kulturerbe oder das, was im urbanen Raum zu ‚Cultural Heritage‘ ernannt wird, Resultat sozialer Aushandlungsprozesse von unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteuren ist.

Konferenzübersicht:

Keynote

Astrid Swenson (London): Heritage across borders: towards a historical understanding of inclusive processes

Panel 1: Geteilte Erinnerungen, verschiedene und post-koloniale Deutungen: Cultural Heritage als soziale Verhandlungsmasse

Axel Klausmeier (Berlin): Mauer und Grenze als Stätten des Europäischen Kulturerbes

Iman Attia (Berlin): Geschichtsschreibung dekolonisieren – Narrative Schwarzer Menschen in Deutschland sehen und hören

Panel 2: Berlin contested: Cultural Heritage in der Auseinandersetzung um die Hauptstadtgeschichte

Christine Schoenmakers (Hannover): Symbolische Orte und ihr Streitwert. Wie (und wo) über Berlins Geschichte und Zukunft verhandelt wird.

Beate Binder (Berlin): 'Shared Heritage' statt 'Kultur für alle'? Geschichtspolitische Debatten um den Berliner Schlossplatz

Panel 3: Breslau: Stadt der Begegnungen und Europäische Kulturhauptstadt 2016

Jana Stoklasa: Cultural heritage in Breslau: Ressource für gesellschaftliche Integration in Europa? Ein Forschungsbericht

Elzbieta Dzikowska (Breslau / Lodz): Erinnern und vergessen machen. Inklusionen und Exklusionen im Erzählen der Stadtgeschichte von Breslau/Wroclaw

Jakub Tyszkiewicz (Breslau): Using of history to politics – a case of Wroclaw after 1945


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts