Der Süden Europas - Strukturraum, Wahrnehmungsraum, Handlungsraum?

Der Süden Europas - Strukturraum, Wahrnehmungsraum, Handlungsraum?

Organisatoren
Frithjof Benjamin Schenk; Martina Winkler; Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas (BKVGE)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.02.2005 - 12.02.2005
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Von
Thies Schulze, Berlin

Geographische Großraumbegriffe sind nach dem Fall der Mauer und der Auflösung der Machtblöcke in Europa verstärkt in den Gebrauch - und zugleich auch in die Diskussion - gekommen. Während die Begriffe "Nord-", "West-" und "Osteuropa" Gegenstand zahlreicher Reflexionen geworden sind und ihre Chancen wie Grenzen ausgiebig diskutiert wurden, hat jedoch eine nennenswerte Diskussion über den analytischen Wert eines Südeuropakonzeptes noch nicht stattgefunden. Diese Tatsache mag einerseits dem Fehlen einer aktiven politischen Kooperation der "südeuropäischen" Länder und zum anderen der geographischen Verteilung der südeuropäischen Regionen auf der politischen Landkarte geschuldet sein, die lange Zeit als Hindernis für die Verwendung eines Großraumbegriffes wahrgenommen wurde. Dennoch zeigen u. a. das von Fernand Braudel geprägte Konzept der Mediteranée wie auch Werke der vergleichenden historischen Anthropologie, daß die Verwendung einer "südeuropäischen" Kategorie der Geschichtsschreibung durchaus fruchtbar sein kann.

Ziel des Workshops, zu dem Frithjof Benjamin Schenk (München) und Martina Winkler (Berlin) an das Berliner Kolleg für vergleichende Geschichte Europas geladen hatten, war es, die Frage nach der Brauchbarkeit eines Südeuropakonzeptes in ergebnisoffener Weise zu diskutieren. Dabei ging es in erster Linie um die auf diversen Eigen- und Fremdbildern fußenden Wahrnehmungsmuster vom Süden sowie um die politischen und sozialen Strukturen, die eine Einheit des südeuropäischen Raumes begründen könnten. Die Frage nach einem südeuropäischen "Handlungsraum" spielte - obwohl im Titel vorhanden - im Tagungsprogramm eher am Rande eine Rolle. Im Laufe des Workshops, der auch theoretischen und methodologischen Überlegungen nachging, beschäftigten sich die Beiträge mit überwiegend transnationalen Fragestellungen aus Bereichen der spanischen, italienischen, griechischen und südosteuropäischen Geschichte. Der Workshop konnte somit dazu beitragen, eine Brücke zwischen den oftmals geographisch eingegrenzten Forschungsrichtungen zu schlagen. Hier erwies sich vor allem der Kontakt der südosteuropäischen Historiographie mit der Forschung der anderen vertretenen Räume als überaus fruchtbar.

In seinem Eröffnungsvortrag legte Martin Baumeister (München) dar, in welcher Weise Spanien und Italien vorwiegend im 19. und 20. Jahrhundert als "südliche" Regionen wahrgenommen wurden. Während der "Sattelzeit" habe die Zunahme nationaler Identifikationsmuster dazu geführt, den "Süden" als rückständig wahrzunehmen und ihn damit abzuwerten, zu marginalisieren und auszugrenzen. Im Fall Spaniens entstanden sowohl ein negativ besetztes, abwertendes Bild, das Spanien als fortschrittsfeindlich und religiös rückwärtsgewandt begriff, als auch eine positive, romantisch verklärende Vorstellung des Landes als Residuum der Natürlichkeit. Beide Wahrnehmungsmuster setzten Spanien in einen Gegensatz zu Europa. Im italienischen Fall sei die ursprünglich positive Wahrnehmung des Landes im Laufe des 18. Jahrhunderts einem negativen Blick auf den Süden gewichen. Nach der staatlichen Einigung von 1860/61 sei diese Polarität zwischen Nord und Süd auf inneritalienische Verhältnisse übertragen worden.

In dem anschließenden Panel über methodologische Grundlagen machte Stefan Troebst (Leipzig) auf den Rückstand der deutschen Debatte über Geschichtsregionen aufmerksam. Er unterschied zwischen "expliziten geschichtsregionalen Konzeptionen" in der Forschungsliteratur, welche aufgrund von komparativer und abstrahierender Vorgehensweise konstruiert würden, und unreflektierten und essentialistischen "impliziten geschichtsregionalen Konzeptionen". Um eine geschichtsregionale Konzeption anwenden zu können, müßten Cluster mehrerer Merkmale über einen längeren Zeitraum hinweg vorhanden sein. Hieraus folge unter anderem eine mögliche Überlappung nach unterschiedlichen Kriterien definierter Konzepte; zudem käme es häufig zur Prägung von Parallelbegriffen, die ähnliche geographische Räume bezeichneten.

Hierauf gab Dietmar Müller (Berlin) einen Einblick in die Auseinandersetzungen der deutschen Geschichtsschreibung mit Südosteuropa und ging dabei sowohl auf ältere Debatten über Großraumbegriffe, die u. a. zwischen dem langjährigen Leiter des Münchener Südost-Instituts Fritz Valjavec (1909-1960) und Georg Stadtmüller (1909-1985) zu Zeiten der NS-Diktatur ausgefochten wurden, als auch auf moderne Forschungsdebatten ein. Unter anderem stellte er Holm Sundhaussens Position der von Maria Todorova gegenüber; während Sundhaussen "Südosteuropa" mit einer Reihe von strukturellen, wenn auch nie in Reinform auftretenden Gemeinsamkeiten als erkenntnistheoretisch sinnvollen Arbeitsbegriff akzeptiert, weist Todorova aus wahrnehmungsgeschichtlicher Perspektive auf die konstruierten, aus Eigen- und Fremdbetrachtungen resultierenden Elemente dieses Begriffes hin. Eine zufriedenstellende Synthese aus struktur- und wahrnehmungsgeschichtlicher Betrachtung stehe noch aus.

Das von Fernand Braudel (1902-1985) geprägte Konzept der Méditerranée1, auf das in zahlreichen Beiträgen rekurriert wurde, war der Gegenstand des Vortrags Karl Kasers (Graz). Kaser, der die Brauchbarkeit vieler Elemente des Braudelschen Konzeptes unterstrich, skizzierte den engeren, durch vegetative Kriterien definierten Mittelmeerbegriff und dessen Erweiterung auf weitere Teile des europäischen Kontinents. Er stellte die Bedeutung, welche die physischen und menschlichen Handlungseinheiten innerhalb des Werkes La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II. spielten, heraus und ging exemplarisch auf zwei der regionenübergreifenden "lateinischen" Eigenschaften, Erbrecht und Klientelismus, näher ein.

Hans Dietrich Schultz (Berlin), Professor für Didaktik der Geographie, legte daraufhin in einem ebenso wortreichen wie unterhaltsamen Beitrag dar, welche Rolle die Geographie bis in die Nachkriegszeit hinein bei der Konstruktion von Großraumbegriffen gespielt habe. Aus einer willkürlichen Einteilung der Karte Europas in viele, oft nach Himmelsrichtungen definierte Großräume folge die Unschärfe und Beliebigkeit des Begriffs "Südeuropa". Die Geographie habe in vielen Fällen lediglich bereits vorhandene politische Grenzen mit vermeintlichen "natürlichen" Grenzen zu erklären versucht. Neben anderen Beispielen nannte Schultz in diesem Zusammenhang den Wandel der vorherrschenden Vorstellungen von Italien: Während vor der politischen Einigung (1860/61) unter Geographen noch von einer geographisch vorgegebenen Trennung der Apenninenhalbinsel die Rede war, so konstruierte man in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine "natürliche" Grenze, deren genauer Verlauf freilich zwischen Wissenschaftlern verschiedener Nationalitäten umstritten blieb.

Vom Süden als Struktur- und Handlungsraum in der Frühen Neuzeit handelte der Beitrag von Andreas Helmedach (Braunschweig). Helmedach wies auf die zahlreichen kommunikativen Verflechtungen unter den westlichen und östlichen Mittelmeerregionen hin, die u. a. durch den an den langen Küsten florierenden Seehandel entstanden seien, und führte zudem strukturelle Übereinstimmungen in Landwirtschaft (Verbreitung der Schafzucht) und Politik ("Überschichtungsstaaten") an. Auf der Wahrnehmungsebene sei hingegen eine deutliche Differenzierung zwischen westlichen und östlichen Regionen festzustellen, wenngleich Tendenzen zur Marginalisierung und Exotisierung auch in der Perzeption Italiens und Spaniens auszumachen seien. Helmedach äußerte die Annahme, eine solche Einheit habe auch in der Späten Neuzeit fortbestanden, räumte aber ein, daß eine genauere Untersuchung dieser These noch erfolgen müsse.

In seiner Reflexion über Sozialrebellen behandelte Holm Sundhaussen (Berlin) in erster Linie Heiducken und Kleften in Südosteuropa. Er deutete zwar unter Hinweis auf Eric Hobsbawms Studie Bandits2 an, daß Gemeinsamkeiten zu südwesteuropäischen Regionen beständen, betonte aber die in den Balkanregionen weit verbreitete Akzeptanz des Banditentums als distinktives Merkmal. Die Existenz des Bandenwesens sei auf eine hohe Unzufriedenheit in der Bevölkerung zurückzuführen, welche von sozialer Ungleichheit, verletztem Gerechtigkeitsempfinden und ausgehöhlten Selbstverwaltungsrechten im osmanischen Reich gespeist worden sei.

In der Sektion über das "mental mapping" Südeuropas referierte Larry Wolff (Boston) über Dalmatiens Einordnung auf der europäischen Landkarte. Während die Region lange Zeit in ein Nord-Süd-Schema eingeordnet und folglich als "südeuropäisch" verstanden worden sei, habe im Laufe des 18. Jahrhunderts die Einteilung zwischen West- und Osteuropa an Bedeutung gewonnen. Dennoch habe eine "südliche" Wahrnehmung Dalmatiens noch bis in die Gegenwart Bestand; Wolff ging in diesem Zusammenhang ausführlich auf Fernand Braudel ein, der den Adriaraum zwar dem Süden zugeschrieben, ihn aber nicht zuletzt unter dem Eindruck von Mussolinis Expansionsbestrebungen zugleich dem Osten zurechnete. Als Beispiele für seine These führte er ferner Goethes Italienische Reise sowie diverse Wahrnehmungsmuster aus dem frühen 20. Jahrhundert an.

Ludger Mees (Bilbao) gab anschließend einen Überblick über die Nationalstaatsdebatte in der spanischen Geschichtswissenschaft. Während die traditionelle Historiographie von einer frühen Nationalisierung Spaniens ausgegangen sei und die "Stärke" des Nationalstaates gegen innere (soziale) wie auch äußere Störfaktoren (wie die Krise von 1898) betont hätte, werde diese These in zunehmenden Maße in Frage gestellt. Die von Mees als "Revisionisten" bezeichneten Historiker stützten sich dabei u. a. auf die mangelnde Integrationskraft des Nationalstaates in der ländlichen Bevölkerung und auf das Erwachen regionaler Nationalismen (v. a. im Baskenland und in Katalonien) im Laufe des 19. Jahrhunderts. Das Bild vom "schwachen" Nationalstaat werde durch die mangelnde staatliche Durchdringung der Gesellschaft, einer durch Aushöhlung des Wahlrechtes hervorgerufenen Partizipationskrise, einer Identitätskrise auf der symbolischen Ebene und einer aus diesen Faktoren hervorgehenden permanenten Legitimationskrise des Staates untermauert.

Rolf Petri (Venedig) / Anastasia Stouraiti (Athen, Princeton) beleuchteten in ihrem Vortrag venezianische Diskurse über den östlichen Mittelmeerraum aus dem 17. und 18. Jahrhundert und setzten diese in Beziehung mit der inner-italienischen Debatte über das "Südproblem" (il problema meridionale) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. In der frühen Neuzeit habe sich in Venedig die Vorstellung von der "Levante" als ökonomisch rückständigem, "barbarischem" und gegenüber dem "eigenen" dezidiert fremden Raum herausgebildet. Ähnliche pejorative Wahrnehmungsmuster prägten Texte und Bilder venezianischer und westlicher Provenienz aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert über Neapel und Sizilien. Das Bild des Südens als ein in sich geschlossener, rückständiger Raum, der die Funktion des inner-italienischen "other" übernahm, konsolidierte sich indes erst im späten 19. Jahrhundert im Zeichen des Risorgimento.

Efi Avdela (Rethymnon) zeigte am Beispiel Griechenlands das komplizierte Zusammenspiel verschiedener Akteursgruppen bei der Definition und Zuschreibung angeblich gesellschaftlich spezifischer struktureller Merkmale eines Landes. Gegenstand ihrer Untersuchung war die Arbeit westlicher und griechischer Sozialwissenschaftler in den 1950er und 1960er Jahren, die sich der Erforschung der griechischen Werteordnung verschrieben hatten. Während sich westliche Anthropologen v. a. am Konzept der "Ehre" ("timi") orientierten und die griechische Gesellschaft in das entstehende Feld der Mittelmeeranthropologie "einschrieben", sahen griechische Sozialwissenschaftler im Konzept der "philotimo" (Ehrliebe) ein spezifisches Merkmal des Wertekanons. Avdela beschrieb die Debatten der Anthropologen als dezidiert "politische" Diskurse, die zu einer Homogenisierung der Vorstellung von der griechischen Gesellschaft und von deren Zugehörigkeit zum "Mittelmeerraum" maßgeblich beigetragen hätten.

In den Diskussionen der Panels überwog die Skepsis hinsichtlich der analytischen Ergiebigkeit eines südeuropäischen Raumbegriffes. Ausgehend von den bereits skizzierten theoretischen Vorüberlegungen wurde unter anderem die Frage aufgeworfen, welche Kriterien zur Entwicklung eines solchen Begriffes praktikabel seien. Manfred Hildermeier (Göttingen) plädierte für eine an konkrete Fragestellungen gebundene Definition historischer Raumkonzepte; die Konstruktion einer "südeuropäischen" Geschichtsregion ließe sich demnach nicht als unveränderbare Größe auffassen, sondern könnte sich je nach Erkenntnisinteresse als mehr oder weniger brauchbar erweisen. Karl Kaser äußerte zudem die Befürchtung, daß eine zu starke Fixierung auf Großraumbegriffe die Wahrnehmung der Forschung auch einschränken könne. Mehrmals stellte sich zudem die Frage, ob die Verwendung eines Südeuropabegriffes zur Einebnung regionaler Differenzen führen könne. Schließlich zeigte sich auch, daß sich die Diskussion über Südeuropa als Struktur- und Handlungsraum stark auf den Zeitraum der frühen Neuzeit bezog; diese - sicherlich auch dem Werk Braudels geschuldete - Schwerpunktsetzung eröffnete den Blick auf die Frage, inwiefern ein Südeuropakonzept einer Betrachtung über die longue durée standzuhalten vermag. Wenngleich ein konkreterer Bezug zu Quellen an einigen Stellen des Workshops wünschenswert erschien, erwiesen sich die Diskussionen insgesamt als ausgesprochen anregend.

Anmerkungen:
1 Braudel, Fernand: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l'époque de Philippe II., 2 Bde., Paris (8. Aufl.) 1987.
2 Hobsbawm, Eric: Bandits, New York 1981, 1. Aufl. 1969.


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