5. Deutsch-Schweizerischer Studientag für Osteuropäische Geschichte

5. Deutsch-Schweizerischer Studientag für Osteuropäische Geschichte

Organisatoren
Universität Basel
Ort
Wiesneck
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.05.2017 - 12.05.2017
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Von
Ilja Gottwald, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde Tübingen

Am 11. und 12. Mai 2017 fand in Wiesneck bei Freiburg der von der Universität Basel organisierte fünften deutsch-schweizerischen Studientag für Osteuropäische Geschichte statt. Es trafen sich Studierende und WissenschaftlerInnen der Universitäten Basel, Bern, Freiburg, Heidelberg, Konstanz, Tübingen und Zürich, um über zwei Tage hinweg aktuelle Qualifikationsarbeiten und Forschungsprojekte vorzustellen und zu diskutieren.

Den Auftakt im ersten Panel bestritt MANUEL GEIST (Freiburg) mit der Vorstellung seines Dissertationsprojekts zu britischen und französischen Russlandexperten Anfang des 20. Jahrhunderts. Während die Russlandexperten in Deutschland für die Zeit vor 1945 gut erforscht seien, stellen die britischen Experten bislang eine Forschungslücke dar. In einem gruppenbiografischen Ansatz vergleicht Geists Forschungsprojekt Karrieren französischer und britischer Russlandexperten. In seinem Vortrag zeichnete Geist am Beispiel von Donald Mackenzie Wallace exemplarisch die zunehmende Bedeutung von Russlandexperten zwischen 1890 und 1924 für die internationalen Beziehungen nach. Diesen Prozess setzte Geist in Beziehung mit drei übergreifenden Entwicklungen der Zeit: Der Aufstieg der Russlandexperten müsse im Zusammenhang mit der zunehmenden Medialisierung, Verwissenschaftlichung und Demokratisierung gesehen werden. Geist möchte mit seinem Projekt einen Beitrag zur neueren Diplomatiegeschichte leisten, indem er die klassischen diplomatiehistorischen Ansätze um kulturwissenschaftliche Methoden ergänzt: Einerseits sollen anhand der Expertendiskurse die russisch-britischen und russisch-französischen Beziehungen aus dem Schatten der deutsch-russischen Beziehungen gerückt werden. Andererseits soll so die britische Außenpolitik unter dem Paradigma der aufkommenden „Expertokratie“ untersucht werden. Der Experte nehme dabei vor allem die Rolle des Vermittlers ein.

Im zweiten Vortrag stellte HENNING LAUTENSCHLÄGER (Basel) sein Dissertationsprojekt über die Farbfotografien des russischen Fotografen und Chemikers Sergej Michajlovič Prokudin-Gorskij vor. Die Fotografien entstanden zwischen 1900 und 1948 und porträtieren damit das spätimperiale Russland, die frühe Sowjetunion sowie das russische Exil in Paris. Zentral ist für Lautenschläger die Verwendung der Bilder in verschiedenen Kontexten. Fotographien dienten zum einen als kollektive Identitätsangebote, mental maps sowie als spezifische Erinnerungsorte und stärkten damit gleichermaßen Nationalismus wie imperialen Reichspatriotismus. Zum anderen nähmen sie durch ihre konkrete Materialität und ihre an kulturelle Praktiken und Codierungen gebundene Präsentationsform Einfluss auf die Vorstellungen von Russland in den verschiedenen Kontexten. Der Vorteil des Projekts bestehe darin, dass ein geschlossener Quellenkorpus über 50 Jahre hinweg verfolgt werden könne: Dadurch entstehe keine Biografie des Fotografen, sondern im Sinne des material turns eine kollektive Biografie der Bilder. Die Arbeit verortet sich zum einen in der neueren Imperiengeschichte, die das Zarenreich nicht aus der Perspektive des Untergangs denken möchte, sondern vielmehr durch einen kulturwissenschaftlichen Ansatz die Wandlungsfähigkeit und die Lebenswelten des Imperiums in ein neues Licht rückt. Zum anderen ist die Studie in der visual history angesiedelt, die Bilder als Teil eines kulturellen und kommunikativen Diskurses versteht und zudem ein Augenmerk auf die mit den Bildern in Beziehung stehenden sozialen Praktiken richtet.

Das zweite Panel der Tagung beschäftigte sich insbesondere mit der Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. THORSTEN ZACHARY (Tübingen) zeigte in seinem Vortrag über den Osteuropahistoriker Werner Markert die Kontinuitätslinien von wissenschaftlichen Netzwerken über 1945 hinaus. Ausgehend von einem Urkundenfund im Tübinger Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde untersucht er die Anfänge der Osteuropaforschung in Tübingen. Zachary identifiziert in Markerts Leben drei zentrale Phasen. Der erste zentrale Lebensabschnitt Markerts sei seine Studienzeit in der Weimarer Republik. Er gehörte zu dieser Zeit einer bündischen Jugendorganisation an. In die zweite Phase, die 12 Jahre der NS-Herrschaft, fällt die Formierung von Markerts breitem Forschungs- und Freundschaftsnetzwerk. Zachary verwies insbesondere auf die Flexibilität und Bereitwilligkeit Markerts, seine Forschung den politischen Zielen der Nationalsozialisten unterzuordnen. So wurde er 1933 auf Empfehlung Eberhard Tauberts und Klaus Mehnerts als Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) eingesetzt und trat in den NS Dozentenbund ein. Darüber hinaus pflegte Markert stets Kontakte in verschiedene Reichministerien, um sich allzu gravierenden Eingriffen durch die Sicherheitsorgane zu entziehen. Nach dem Krieg, in der dritten Phase, erlangte Markert dank seiner Kontakte die benötigten „Persilschein-Gutachten“. Er war anschließend maßgeblich an der Gründung der „Arbeitsgemeinschaft für Osteuropaforschung“ beteiligt, die vielen ehemaligen, teils schwer belasteten Ostforschern Arbeit bot. Auch bei der Beschaffung der notwendigen Mittel für die Arbeitsgemeinschaft griff Markert auf seine Freundschaftsnetzwerke zurück. So sollten die von Markert während des Krieges geknüpften Netzwerke die Osteuropaforschung auch nach 1945 prägen.

NILS PFÄNDLER (Zürich) stellte die Ergebnisse seiner Masterarbeit vor. Darin beschäftigt er sich mit der Gewalt gegen deutsche Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg im südböhmischen Ort Soběslav. Nach dem Ende des Krieges waren deutsche Angehörige der Wehrmacht sowie der SS bei einem Moor in der Nähe des Ortes zusammengetrieben und ermordet worden. Pfändler machte in der Geschichte des Verbrechens zwei Momente des Umbruchs aus: Einerseits konzeptualisierte er die Ereignisse im Jahr 1945 aus der Perspektive eines Gewaltraums. Andererseits untersuchte er die (fehlende) öffentliche Erinnerung an diese Gewalttaten bis heute. Eine besondere Schwierigkeit bei der Rekonstruktion der Ereignisse sei die Quellenlage. Diese beschränke sich auf einen 15-minütigen zeitgenössischen Film und Zeitzeugeninterviews. Die fehlende Erinnerung der Ereignisse im Ort selbst muss vor allem im Kontext einer wenig gepflegten Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in Soběslav verstanden werden.

In einem Abendvortrag schilderte DMYTRO TYTARENKO (Donezk / Heidelberg) die aktuelle humanitäre Lage in Donezk. In seinem eindrücklichen Bericht bilanzierte Tytarenko mindestens 10.000 Tote und 23.000 Verwundete seit Beginn des Konflikts. Als besonderes Problem machte er dabei den hybriden Charakter des Krieges aus. Die Kriegsparteien seien nicht klar zu benennen. Zudem seien die Diskussionen über den Krieg stark ideologisiert und mit der Neuschaffung von Feindbildern, Stigmatisierungen und Diskriminierungen würden Freundschaften und Familien gespalten. Leidtragender sei dabei vor allem die Zivilbevölkerung. Um diesen Konflikt zu lösen, müsse die ukrainische Regierung den Kampf um „hearts and minds“ gewinnen. Nur so könne man den sich in diesem ‚frozen conflict’ fixierenden neuen Identitätsbildern etwas entgegenstellen.

Zu Beginn des dritten Panels der Tagung referierte VIKTORIA ABUKOMOVSKIKH (Konstanz) über die Imagebildung von Großstädten an der russischen Peripherie durch Großveranstaltungen in der jüngsten Vergangenheit. Hierfür operationalisiert sie den Begriff des ‚City-Brandings’. Es handelt sich dabei um eine zentrale Strategie des City-Makings, mithilfe dessen die öffentliche Wahrnehmung von Städten durch neue Diskurse und Symbole ökonomisch und kulturell positiv beeinflusst werden soll. Darüber hinaus diene das City-Branding der Reflektion und Herausbildung einer eigenen Identität. Im Fokus von Abukomovskikhs Studie stehen dabei die zwei Städte Kazan und Ekaterinburg, die in ständiger Konkurrenz um den Titel „dritte Stadt in Russland“ stehen. Anhand des Konkurrenzverhältnisses in den letzten 15 Jahren soll der komplexe Prozess der Imagebildung der beiden Städte in den Blick genommen werden. Ein wichtiges Element des City-Brandings stellen Großveranstaltungen dar, die zum einen Aufmerksamkeit auf die Städte lenken sollen, und zum anderen diese Aufmerksamkeit nutzen, um das ausgearbeitete Image zu präsentieren und zu perpetuieren. Es kann für beide Städte beobachtet werden, dass Großveranstaltungen gegenläufige Prozesse hervorrufen. Einerseits versuchen sich die Städte von Moskau abzukoppeln und wirtschaftliche Eigenständigkeit zu erlangen; andererseits bemühen sie sich, die Aufmerksamkeit des Zentrums für sich zu gewinnen, um die eigenen Relevanz im russländischen Raum zu stärken.

Im zweiten Teil des Panels stellte TIMO HAGEN (Heidelberg) sein Postdoc-Projekt vor, welches sich mit der gemeinschaftsstiftenden Funktion von Architektur im heterogenen östlichen Europa des frühen 20. Jahrhunderts beschäftigt. Er untersuchte dabei den Status und die Wahrnehmung von Bauten im Rahmen von gesellschaftlichen Auflösungsprozessen. Der Vortrag konzentrierte sich auf die Rolle der siebenbürgisch-sächsischen Architektur für die Konstruktion von Gemeinschaft. Anhand eines kirchlichen Gemeindesaals aus dem Jahr 1926/27 zeigte Hagen beispielhaft, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Partizipation am Bau des Gebäudes selbst Gemeinschaft konzipiert und eine spezifische siebenbürgisch-sächsische Identität hergestellt wurde. Durch den transformatorischen Effekt des Zweiten Weltkriegs sowie des Kommunismus in Rumänien verlor das Gebäude an Bedeutung. Es lag dabei im Interesse des rumänischen Staates, einerseits die Rolle der Kirche, andererseits die Verbindung zum deutschen Mutterland einzudämmen. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts fand eine Neuaneignung des Gebäudes statt, die zur Neukonstruktion eines lokalen Patriotismus führte. Eine erhebliche Rolle spielte dabei die heterogene Erbengemeinschaft, deren Neuaneignung möglicherweise als Bewältigung der traumatischen Erfahrungen des Heimatverlusts zu verstehen ist. Zudem kann die Unterstützung des rumänischen Staates bei der Restauration des Gebäudes als Versuch gedeutet werden, sich in die europäische Wertegemeinschaft einzugliedern.

Im letzten Panel gab EKATERINA EMELIANTSEVA KOLLER (Zürich) einen Einblick in ihr Projekt zum spätsowjetischen Dorf. Das Projekt ist in drei Teilprojekte gegliedert, die sich mit dem Leningrader, dem Archangelsker Gebiet und Karelien beschäftigen. Ziel der Untersuchung ist es, Selbstverständnis und Vergemeinschaftungsformen des spätsowjetischen Dorfs im Nordwesten Russlands zu untersuchen. Das Dorf eröffne dabei eine neue Perspektive auf die späte Sowjetunion. Es gelte dabei, insbesondere zwei Dichotomien aufzulösen: Zum einen könne durch die Anwendung und Revidierung des Konzepts des „Homo Sovieticus“ die Dichotomie zwischen privatem und öffentlichem Raume aufgeweicht werden. Zum anderen sei der Gegensatz zwischen Stadt und Land nicht aufrechtzuerhalten, ebenso wie die Annahme einer unidirektionalen Abwanderung aus dem Dorf in die Stadt. Es handele sich vielmehr um einen wechselseitigen Prozess zwischen Stadt und Dorf. Die Akteure auf dem Dorf stünden dabei in Beziehung zu ständigen Aushandlungsprozessen zwischen Gruppen und Institutionen im Spannungsfeld von Zukunftsutopien der sowjetischen Urbanität einerseits und dem Erbe der Kollektivierung sowie lokalen Traditionen der Bauern anderseits. Dabei seien gegenläufige Transformationsprozesse von Verstädterung des Landes und Ruralisierung der Stadt zu beobachten. Methodisch könne man dies über die Begriffe der „situativen Ruralität“ und „situativen Urbanität“ fassen. Dieser Zugang eröffnet die Möglichkeit, die Sowjetunion im weiteren Kontext der Transformationen des 20. Jahrhunderts zu sehen und über Kontinuitäten des Sowjetischen bis in die Gegenwart nachzudenken.

STEFAN GUTH (Tübingen / Bern) schloss die Tagung mit einem Vortrag über die Zwangsarbeit in Ševčenko /Aktau. Er widersprach den bisherigen Annahmen, dass Zwangsarbeit in der Sowjetunion nach 1960 kaum eine Rolle gespielt habe. Vielmehr betonte er die Rolle von Zwangsarbeit beim Bau der Atomstadt Ševčenko. Die Stadt wurde Ende der 1950er-Jahre als Zentrum der Uran-, Öl- und Gasförderung gegründet und repräsentierte unter Chruščev und Brežnev prototypisch den sowjetischen Fortschritt. Dieser lichten Zukunft standen jedoch die Schatten der stalinistischen Vergangenheit entgegen. In Bezug auf die Kontinuitäten des GULag-Systems in der Peripherie in den 1960er- und 1970er-Jahren wies Guth auf ein Forschungsdesiderat hin. Entgegen dem offiziellen Bild der Lagerabwicklung kann während der Chruščev- und Brežnev-Zeit ein zentral geplanter Aufbau eines Zwangsarbeitssystems beobachtet werden. In Ševčenko jedoch war die Ausbeutung und Verarbeitung der Rohstoffe nicht als Lagerindustrie geplant. Zunächst als Retortenstadt entworfen, sollten vor allem freiwillige Lohnarbeiter angeworben werden. Trotz groß angelegter Rekrutierungskampagnen konnten jedoch für den Bau der Stadt nicht die benötigten Arbeitskräfte akquiriert werden, so dass auf Häftlinge zurückgegriffen wurde. Es konnte dabei gezeigt werden, dass die Bewertung des poststalinistischen Lagersystems einer Differenzierung bedarf. Zum einen konnte durch administrative Vorkehrungen der ungezügelten Willkür der Lagerleitung Einhalt geboten werden. Zum anderen jedoch erscheint die Zwangsarbeit als ein zentrales Element von sich modernisierenden Regimen.

Insgesamt bot der fünfte deutsch-schweizerische Studientag einen interessanten Einblick in aktuelle Forschungsprojekte und -ergebnisse zur Geschichte Osteuropas und hat weiter zur Vernetzung der Forschenden beigetragen. Das abwechslungsreiche Programm der Tagung konnte dabei vor allem mit geographischer Vielfalt beeindrucken: Die Vorträge verbanden ostmitteleuropäische Perspektiven mit Betrachtungen zur zentralasiatischen Geschichte. Zeitlich umspannten die Vorträge eine Spanne vom 20. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Referenten zeichneten vielversprechende Analyseansätze und Forschungsprojekte auf, deren weitere Entwicklung mit Spannung zu erwarten ist. Durch die große Zahl von Projekten in frühen Arbeitsphasen drehte sich die intensive und ergiebige Diskussion der Beiträge mehr um konzeptionelle Fragen als um inhaltliche Streitpunkte.

Konferenzübersicht:

Panel 1
Chair: Nada Boskovska

Manuel Geist (Freiburg): Französische und britische Russlandexperten und die Beziehungen zu Russland, 1890-1924

Henning Lautenschläger (Basel): Projektionen eines Imperiums- Die Farbfotografien S.M. Prokudin-Gorskijs vom Zarenreich bis in die Pariser Emigration (ca. 1900-1948)

Panel 2
Chair: Tanja Penter

Thorsten Zachary (Tübingen): "Meine guten alten Freunde"- Werner Markert und die Anfänge der Osteuropaforschung in Tübingen

Nils Pfändler (Zürich): Erinnern ans Ende. Tschechische Erinnerungskultur an Racheakte gegenüber Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel des südböhmischen Soběslav

_Abendvortrag-
Dmytro Tytarenko (Donezk / Heidelberg): Die aktuelle Situation in Donezk

Panel 3
Chair: Dietmar Neutatz

Viktoria Abakumovskikh (Konstanz): City-Branding russländischer Großstädte der Peripherie: Imagebildung durch Großveranstaltungen in Ekaterinburg und Kazan

Timo Hagen (Heidelberg): Die Unbeständigkeit gebauter Gemeinschaft. Konzeption, Verlust und Neuaneignung siebenbürgisch-sächsischer Architektur im 20.-21. Jahrhundert

Panel 4
Chair: Klaus Gestwa

Katja Emeliantseva Koller (Zürich): Das spätsowjetische Dorf: Menschen, Institutionen und Dinge zwischen sozialistischem Urbanitätskult und Ruralisierung städtischer Lebensweisen

Stefan Guth (Bern): Rückkehr zum Gulag? Zwangsarbeit in der poststalinistischen Sowjetunion am Beispiel der Atomstadt Shevchenko/Aktau