"Methoden der Landesgeschichte", 1. Doktorandenworkshop der AG Landesgeschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands

"Methoden der Landesgeschichte", 1. Doktorandenworkshop der AG Landesgeschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands

Organisatoren
Niels Petersen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Institut für Landesforschung, Georg-August-Universität Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.07.2017 - 07.07.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Elena M.E. Kiesel, Otto-von-Guericke-Universität

Der „1. Doktorandenworkshop der AG Landesgeschichte im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands“ mit dem Thema „Methoden der Landesgeschichte“ bot am 6. und 7. Juli 2017 in der Alten Mensa der Georg-August-Universität Göttingen Promovierenden aus ganz Deutschland und der Schweiz die Möglichkeit, die landeshistorischen Themen ihrer Dissertationsprojekte zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. An eine kurze Einleitung der Gastgeber ARND REITEMEIER und NIELS PETERSEN mit dem Untertitel „Landesgeschichte als methodenfreundliche Disziplin“ schlossen sich 13 grob methodisch-thematisch gebündelte Vorträge aus den Epochen Mittelalter, Frühe Neuzeit und Zeitgeschichte an, in denen der Charakter der Landesgeschichte als „methodisches Experimentierfeld“ fokussiert und verschiedenste Ansätze vorgestellt wurden.

Im ersten Vortrag stellte JANNIK SACHWEH (Braunschweig) zunächst das Projekt „Neues Wissen in neuen Medien?“ und dessen methodische Konzeption vor. Darauf aufbauend wurden Fallstudien zum Freistaat Braunschweig, während der Weimarer Republik skizziert. Im Fokus stand hierbei die Frage nach der Möglichkeit einer Demokratisierung von Bildung durch eine Umgestaltung des Schulunterrichts und der Lehrmittel. Sachweh zeigte auf, welche Relevanz die Bildungspolitik des Freistaates sowohl für die demokratische Umgestaltung der Gesellschaft als auch für deren Scheitern besaß.

Anschließend folgte die Präsentation von JULIA BUCHHOLZ (Schleswig) zum Thema „Das Archiv als Ort geschichtskultureller Bildung. Theoriegeleitete Konzeption einer Archivdidaktik aus interdisziplinärer Sicht“. In ihrem Vortrag stellte die Referentin Angebote und Ansätze zur Bildungs- und Vermittlungsarbeit vor, die das Archiv als „Ressource individueller lebensweltlicher Orientierung“ bekannt machen und bereits bestehende Vermittlungskonzepte integrieren sollen. Obwohl eine solche „Archivdidaktik“ ein bekanntes Forschungsdesiderat darstellt, existiere bis heute kein verbindliches Modell. Durch eine interdisziplinäre Annäherung an diesen Problemkomplex strebt Buchholz die Erstellung einer „Theoriegeleiteten Konzeption einer Archivdidaktik“ an, die vornehmlich auf die Kompetenzen der Nutzergruppen ausgerichtet sein sollte.

Nach dieser vermittlungswissenschaftlich orientierten Sektion schloss LUKAS-DANIEL BARWITZKI (Zürich) mit der Präsentation eines Vorhabens mit dem Titel „Edition der Urkunden des Doppelklosters Königsfelden“ an, in dessen Kontext sich sein Dissertationsvorhaben bewegt. Er thematisierte den aktuellen Stand der Digital Humanities und stellte Chancen und Möglichkeiten digitaler Editionen für die epochenübergreifende Landeskunde vor. Dies veranschaulichte er am Beispiel der Edition der Urkunden und Kopialbücher des Nordschweizer Klosters. Neben den finanziellen und technischen Hürden eines solchen Vorhabens betonte er zugleich den deutlich erhöhten Nutzen gegenüber klassischen Bucheditionen. Im zweiten Teil seines Vortrages stellte Barwitzki verschiedene Anwendungsgebiete der digitalen Editionen vor. In der heutigen Forschungslandschaft, so resümierte er, sei es schon für erfahrene Studierende und Doktoranden von großer Bedeutung, sich neben der inhaltlichen und epochenspezifischen Profilierung ein zweites Standbein in den Digital Humanities aufzubauen. Digitale Editionen würden somit nicht nur eine diachron anwendbare Methode der Datenerfassung und –auswertung liefern, sondern auch einen erfolgversprechenden Einstieg in neue Forschungsfelder.

Unter der Überschrift „Lehnbücher der Landgrafen Balthasar von Thüringen und Friedrich dem Friedfertigen sowie die entsprechenden Lehnsurkunden aus der Zeit von 1382 bis 1440 für die Landgrafschaft Thüringen“ thematisierte NADINE HOFMANN (Jena) ihr Dissertationsprojekt. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen steht die Frage nach der Bedeutung des Lehnswesens für den Herrschaftsaufbau und die Konsolidierung der Landesherrschaft in der Thüringer Landgrafschaft durch die Wettiner. Aufgrund der umfangreichen Quellenbasis der Lehnbücher, unzähligen Urkunden, Kopialbüchern usw. konnte der Lehnhof der Thüringer Landgrafen bereits in Teilen rekonstruiert werden. Bisher wurden circa 1.200 Vasallen des Thüringer Adels nachgewiesen, denen derzeit ca. 5.500 Lehen zugeordnet werden konnten. Mithilfe digitaler Methoden gelang es ihr, diese enorme Quellenmenge zu strukturieren und hinsichtlich ihres Forschungsvorhabens nutzbar zu machen.

Eine prosopographisch orientierte Sektion begann mit dem Vortrag „Der deutsche Professor in der NS- und Nachkriegszeit – Eine Typologie anhand des Kieler Fallbeispiels“, in dem KAREN BRUHN (Kiel) ihr aktuelles Forschungsvorhaben vorstellte. Anhand der Online-Plattform des „Kieler Gelehrtenverzeichnisses“ sollen die Karrierewege und –muster von Kieler Professoren näher untersucht werden und es soll nachgewiesen werden, wie stark neben dem politischen Engagement auch das Wirken im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich für die Lebensläufe der primär männlichen Professoren entscheidend war. Da für Kiel bis heute eine fakultätenübergreifende Studie, die eine vergleichende Betrachtung der einzelnen Professoren ermöglicht, fehlt, schließt diese Arbeit eine Forschungslücke. Bruhn machte deutlich, dass ihr Schwerpunkt auf der Analyse spezifischer Karrierekatalysatoren, Karrierehemmnisse und Möglichkeiten des Karriereabbruchs liegt. Sie versucht dabei zu ergründen, wie stark ein Hochschullehrer zwischen 1933 und 1945 in den politischen Machtapparat eingebunden sein musste, um die eigene (Hochschul-)Karriere zu befördern oder zu sichern.

Im letzten Vortrag des ersten Tages beschäftigte sich RICK TAZELAAR (München) unter dem Titel „,NS-Belastungen in Bayern‘ zum Thema ‚Bayerische Staatskanzlei, Personalpolitik und 131er Gesetz‘“ mit der Geschichte der bayerischen Staatskanzlei ab 1945 bis in die 1960er Jahre. In Bezug auf etwaige Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten hinsichtlich der NS-Diktatur interessierte Tazelaar vor allem, wie sich die leitenden Beamten der Staatskanzlei nach 1945 mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzten und welches Demokratieverständnis sie dabei zeigten. Im Rahmen der kulturgeschichtlich inspirierten ‚neuen Verwaltungsgeschichte‘ fragte Tazelaar dabei zäsurübergreifend nach den Prägungen, Denk- und Handlungsmustern und nach den historischen Erfahrungen des Spitzenpersonals. Im Rahmen seiner Präsentation gab er neue Impulse zur Behördenforschung, in dem ausgehend von der Staatskanzlei auf sowohl horizontaler als auch vertikaler Ebene die Verwaltungsabläufe innerhalb der bayerischen Ministerialverwaltung verfolgt wurden.

Der zweite Sitzungstag wurde nach einem kurzen Einstieg durch den Veranstalter NIELS PETERSEN durch den Vortrag von STEFAN MAGNUSSEN (Kiel) mit dem Titel „Multidisziplinäre Landesgeschichte? Über Probleme und Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft an Beispiel der Burgen im mittelalterlichen Sønderjylland (Dänemark)“ eröffnet. In seiner Präsentation stellte Magnussen Möglichkeiten zur Lösung methodischer Probleme der Geschichtswissenschaft durch eine stärkere Einbeziehung und Berücksichtigung benachbarter Fächer und Methoden vor. Der Referent machte in seinem Vortrag mithilfe eines breiten Spektrums an Fallbeispielen deutlich, dass bei der Untersuchung vormoderner Gesellschaften lange Zeit die schriftliche Überlieferung leitgebend war, die zunehmende fachliche Heterogenität nicht als Bedrohung, sondern gerade für die Regional- und Landesgeschichte als Chance für ein umfassendes Verständnis verstanden werden sollte.

HENRIK SCHWANITZ (Dresden) thematisierte unter dem Titel „Von der Natur gerahmt. Die Idee der ‚natürlichen Grenzen‘ als Identitätsressource um 1800“ die Idee der „natürlichen Grenzen“ in der Zeit der Revolutions- und Napoleonischen Kriege um 1800 vor dem methodisch-theoretischen Zuschnitt einer Landesgeschichte als Raumgeschichte. Während seines Vortrags verdeutlichte Schwanitz, dass eine so verstandene Landesgeschichte sich mit Raumbildern und Raumvorstellungen beschäftigen müsse. Schwerpunkt seines Forschungsvorhabens ist die Frage danach, wie Räume in der politischen, sozialen und kulturellen Praxis gebildet werden und wie hierüber Identitätsmodelle entstehen. Vor diesem Hintergrund konnte er bereits feststellen, dass verschiedene Akteure die „natürlichen Grenzen“ um 1800 nutzten, um Nation und Vaterland räumlich-geografisch zu konstruieren.

Die folgende Sektion widmete sich den Dynamiken und Problemen der „Institution“. Unter dem Titel „Die Werke der Dr. Alexander Wacker Gesellschaft für elektrochemische Industrie in Mückenberg. Unternehmenspolitik zwischen Markt und Staat in den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ griff STEPHANIE KRAUß (Würzburg) die in der modernen Wirtschaftsgeschichte zentrale Fragestellung nach Faktoren der Überlebensfähigkeit von Unternehmen und den damit verbundenen Expansions- und Anpassungsstrategien an eine komplexe Umwelt auf. So präsentierte die Referentin ihren Ansatz der Neuen Institutionenökonomik ausgehend von der Mikroebene. Während ihrer Forschung konnte sie feststellen, dass komplexe Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Organen der Wirtschaft und staatlichen Institutionen eine elementare Rolle spielten.

Um Überlebensstrategien ging es im Anschluss daran auch beim Vortrag von AGNES MÜLLER (Tübingen) unter dem Titel „Süddeutsche Kanonissenstifte in Bedrohungssituationen“. Müller gab einen Einblick in die von ihr verwendete Identitätstheorie im Kontext bedrohter Ordnungen mit einem Schwerpunkt auf Oberstenfeld und St. Stephan Augsburg vor allem während der Reformationszeit. Anhand zweier Quellenbeispiele über die von der Gemeinschaft ungewollte Aufnahme von Nonnen ins Stift verdeutlichte sie, wie mit Hilfe dieser Quellen die Identitätskonstruktion der Kanonissen analysiert werden kann. Dabei konnte sie vor allem identitätsstiftende Faktoren, welche den Stiftsdamen gemein waren, ausmachen. In ihrer Dissertation möchte sie diese mit anderen existenzbedrohenden Situationen vergleichen und der Frage nachgehen, ob bei Stiftsdamen in Bedrohungssituationen Stabilitäten oder Brüche von Identität(en) erkennbar sind.

Anschließend verdeutlichte ULRICH HAUSMANN (Eichstätt/Wien) in seinem Vortrag „gnade fur recht – Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 bis 1612)“ den hohen Erkenntniswert der reichshofrätlichen Überlieferung auch und gerade für landeshistorische Forschungen. Hausmann stellte fest, dass im Sinne der programmatischen Formel „über Grenzen unbegrenzt“ eine an kulturhistorische Methoden orientierte grenzübergreifende und über Grenzen zugreifende vergleichende Landesgeschichte als wesentlicher Bestandteil komplementärer Reichsgeschichte fungiere. Denn interterritoriale Kommunikations- und Transferprozesse liefen nicht etwa nur landesherrlichen Bestrebungen zur Zentralisierung und Territorialisierung entgegen, sondern wirkten sich, wie Hausmann zeigen konnte, als „linking elements“ vormoderner Herrschaftsräume auf lange Sicht stabilisierend, herrschaftsverdichtend und reichsintegrierend aus.

Mobilität und Migration waren die grundlegenden Themen der letzten Sektion. JORT BLAZEJEWSKI (Trier) präsentierte unter dem Titel „Émigrés der Französischen Revolution im Beneluxraum“ sein Dissertationsvorhaben über die revolutionsbedingte Emigration nach 1789. Anhand der Erscheinungsformen und Wechselwirkungen der Migrationsdynamik konnte er einerseits feststellen, dass die empirische Erfassbarkeit der Emigration unzertrennlich verbunden ist mit der behördlichen Überlieferung, da in die vielseitigen Herausforderungen im Umgang mit den Schutzsuchenden offen zutage treten. Andererseits fand er heraus, dass die Umbruchserfahrungen der Betroffenen ihren Niederschlag in Ego-Dokumenten fanden. Blazejewski verdeutlichte, dass diese reihenweise Veröffentlichung dieser Selbstzeugnisse im 19. und frühen 20. Jahrhundert einer äußerst differenzierten Bewertung bedürfe, da sie zu unterschiedlichsten Zwecken der politischen und nicht zuletzt moralischen Aufarbeitung der Revolutionszeit dienten.

Zuletzt stellte LOTTE KOSTHORST (Mainz) ihr Promotionsprojekt unter dem Titel „Studentische Migration aus der Diözese Köln an die italienischen Universitäten im 15. Bis 16. Jahrhundert.“ vor. Obwohl im 14. und 15. Jahrhundert auch nördlich der Alpen zahlreiche Universitäten entstanden, seien insbesondere Rechts- und Medizinstudenten in großer Zahl an den italienischen Universitäten zu finden, konstatierte die Referentin. Üblicherweise würde das Studium der Artes zunächst an einer nahegelegenen Universität im Reich absolviert und „wer es sich leisten konnte“, zog für das anschließende Fachstudium an die prestigereicheren Universitäten in Frankreich und Italien. Ziel der Arbeit sei neben der statistischen Erfassung der Studenten im Rahmen digitaler Methoden die Analyse von Entwicklung und Veränderung ihres Studien- und Promotionsverhaltens sowie ihrer nachfolgenden Karrieren.

Beendet wurde der Workshop mit einer angeregten Abschlussdiskussion unter Leitung von Niels Petersen unter dem Motto „Methoden der Landesgeschichte im Praxistest“.

Konferenzübersicht

1. Sektion: Neues Wissen in neuen Medien?

Arnd Reitemeier, Göttingen

Niels Petersen, Göttingen: Einführung. Landesgeschichte als methodenfreundliche Disziplin

Jannik Sachweh , Braunschweig: Schule für die Demokratie? Bildungspolitik, -wissenschaft und –medienproduktion im Freistaat Braunschweig 1918-1933

Julia Buchholz, Schleswig: Das Archiv als Ort geschichtskultureller Bildung

Lukas-Daniel Barwitzki , Zürich: Edition der Urkunden des Doppelklosters Königsfelden

Nadine Hofmann, Jena: Lehnbücher der Landgrafen Balthasar von Thüringen und Friedrich dem Friedfertigen sowie die entsprechenden Lehnsurkunden aus der Zeit 1382 bis 1440 für die Landgrafschaft Thüringen

Karen Bruhn, Kiel: Der deutsche Professor in der NS- und Nachkriegszeit – Eine Typologie anhand des Kieler Fallbeispiels

Rick Tazelaar, München: NS-Belastungen in Bayern. Zum Thema Bayerische Staatskanzlei, Personalpolitik und 131er Gesetz

2. Sektion: Die Werke der Dr. Alexander Wacker Gesellschaft für elektrochemische Industrie in Mückenberg. Unternehmenspolitik zwischen Markt und Staat in den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Stefan Magnussen, Kiel: Multidisziplinäre Landesgeschichte? Über Probleme und Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft am Beispiel der Burgen im mittelalterlichen Sønderjylland (Dänemark)

Henrik Schwanitz, Dresden: Von der Natur gerahmt. Die Idee der „natürlichen Grenzen“ als Identitätsressource um 1800

Stephanie Krauß, Würzburg: Die Werke der Dr. Alexander Wacker Gesellschaft für elektrochemische Industrie in Mückenberg. Unternehmenspolitik zwischen Markt und Staat in den Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Agnes Müller, Tübingen: Süddeutsche Kanonissenstifte in Bedrohungssituationen (speziell Oberstenfeld und St. Stephan in Augsburg, vor allem während der Reformationszeit)

Ulrich Hausmann, Eichstätt: Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II.

Jort Blazejewski, Trier: Émigrés in der Französischen Revolution im Beneluxraum

Lotte Kosthorst, Mainz: Studentische Migration aus der Diözese Köln an die italienischen Universitäten im 15. bis 17. Jahrhundert

Niels Petersen: Methoden der Landesgeschichte im Praxistest und zugleich Fazit


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