Neue Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte

Neue Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. (AKHFG)
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.12.2017 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Prell, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Am 1.12.2017 lud der Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V. (AKHFG), Region Mitte zu seinem Jahrestreffen und regelmäßig stattfindenden Workshop „Neue Forschungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte“ nach Jena ein, um aktuelle Forschungsprojekte zum Thema vorstellen und diskutieren zu können. GISELA METTELE und SILKE MEINHARDT (beide Jena) eröffneten den Workshop und führten durch das Programm und die Diskussionen.

Den ersten Vortrag des Tages widmete ANITA HENNEBERGER (Magdeburg) ihrem Dissertationsprojekt zum Kindstod in der Dynastie der Ernestiner von 1600 bis 1800. Eine zentrale Frage von Vortrag und Dissertation der Referentin ist die nach der Bedeutung, Auseinandersetzung und Repräsentation des Todes eines Kindes für eine adlige Familie, den sie als einen „besonderen Tod“ charakterisierte. Dabei strich die Referentin geschlechterspezifische Unterschiede in Bezug auf die Kommunikation und Repräsentation des Todes und den Vollzug der Bestattung heraus. Henneberger gab zunächst Einblicke in den Forschungsstand des Themas und verdeutlichte den Desideratscharakter der Kindstodforschung, bevor sie näher auf die zahlreichen von ihr untersuchten Quellen einging. Einen Fokus legt sie dabei auf Funeralliteratur deren Form und Funktion sie untersucht und die ihr wichtige Einblicke in die Trauer zwischen Memoria, Bewältigungsstrategien und Repräsentation liefern. Methodisch geht Henneberger komparativ vor, um sowohl übergreifende als auch detaillierte Aussagen zum Umgang mit dem frühneuzeitlichen Kindstod treffen zu können.

Im nachfolgenden Vortrag referierte JANA TEMPELHOFF (Magdeburg) über die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Berufschancen für Frauen aus nicht-elitären Schichten als Lehrerinnen von 1600 bis Mitte des 18. Jahrhunderts. Dies stellt einen Teilaspekt ihrer Dissertation zum Elementarschulwesen im Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt vom 16. bis 18. Jahrhundert dar. Im Mittelpunkt des ersten Teils des Vortrags stand die Frage, welche Bildungsmöglichkeiten und -stätten für Mädchen im betrachteten Zeitraum zur Verfügung standen und inwieweit stereotype Geschlechterkonstruktionen weibliche Bildung bedingten. Tempelhoff hat im Zuge ihrer Recherchen insgesamt 110 Mädchenschulen im Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt ausfindig machen können und dabei verschiedene Arten von Bildungsmöglichkeiten für Mädchen identifiziert (Nebenschulen, Winkelschulen, Dorfschulen, Hausunterricht). Die Referentin hob zudem Charakteristika sowie die Bedeutung und Ansprüche damaliger Mädchenschulbildung hervor. Den zweiten Vortragsteil zu Berufschancen für Frauen als Lehrerinnen eröffnete die Referentin mit der Feststellung, dass seit dem 16. Jahrhundert erstaunlich viele Lehrerinnen anzutreffen sind. Betätigungsmöglichkeiten boten den Frauen vor allem Mädchen-, Winkel- und Dorfschulen, wobei letztere den Frauen ausschließlich Unterstützungs- und Vertretungsfunktionen zubilligten. Der Vortrag von Tempelhoff zeigte anschaulich, dass die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Berufschancen für Frauen in der Frühen Neuzeit insgesamt vielfältiger und differenzierter waren als bisher angenommen und dass im Laufe des Untersuchungszeitraumes eine zunehmende geschlechterspezifische Ausdifferenzierung eintrat.

Ebenfalls einen bildungsgeschichtlichen Fokus verfolgte der Vortrag von ANDREAS NEUMANN (Jena) mit dem Thema „Studentinnen: russisch – jüdisch – staatsgefährdend!? Über die ambivalente Wirkung eines russisch-deutschen Praxistransfers“. Ausgehend von den Entwicklungen des russischen Zarenreiches seit den 1850er-Jahren fragte er zunächst nach den Gründen für die Bildung der weiblichen studentischen Bewegung in Russland während im Deutschen Reich das Frauenstudium in vorinstitutionellen Stadien verhaftet blieb. So gab es in Russland in den 1850er/60er-Jahren bereits reguläre Gasthörerinnen und es entstanden höhere Frauenkurse. Da es aber nicht genug Wege zum Studium gegeben habe, seien viele Russinnen zum Studieren in die Schweiz übergesiedelt. Neumann identifizierte dabei Zürich als Katalysator für das Frauenstudium auch im Deutschen Reich. Russische Studentinnen wurden im Deutschen Reich allerdings zunehmend als Feindbild und Gegenpol zur deutschen Studentin kreiert und dabei mit antisemitischen und antifeministischen Projektionen belegt. Der Referent zeigte exemplarisch am Beispiel der Universität Jena und detaillierten Fällen auf, wie dieses Feindbild erzeugt und aufrechterhalten wurde, um russische und insbesondere russisch-jüdische Studentinnen, die dem Verdacht staatsgefährdender Umtriebe besonders ausgesetzt waren, am Studium zu hindern. Resümierend postulierte Neumann, dass ohne das Voranschreiten der russländischen, vielfach jüdischen Frauen der Zulassungsprozess zum Frauenstudium im Deutschen Reich weitaus langsamer verlaufen wäre. Zugleich habe der Nimbus des politischen Extremismus aber auch für lang anhaltende Skepsis gegenüber der Emanzipationsidee der Frauenbildungsbewegung gesorgt.

Sowohl zeitlich als auch thematisch anknüpfend präsentierte JENS RIEDERER (Weimar) seine Forschungen zum Thema „Ein eigenes Lesezimmer nur für Frauen? Der Weimarer ,Verein Frauenbildung-Frauenstudium‘ und seine Bibliothek um 1900“. Da von den circa 500 Bibliotheken von Frauenbildungsvereinen des Deutschen Reichs im Jahr 1909 heute nur noch wenige erhalten oder bekannt seien, darunter das Helene-Lange-Archiv in Berlin und das Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, ist es ein Anliegen des Referenten, den Weimarer „Verein Frauenbildung-Frauenstudium“ und seine Bibliothek wieder in das historische Bewusstsein zu holen. Riederer zeichnete dafür zunächst die Geschichte des Vereins ab 1888 von seinen Weimarer Wurzeln (Hedwig Kettler) über seine Anfänge in Berlin im Jahr 1895 bis hin zu seiner erneuten „Rückkehr“ nach Weimar nach und stützte sich dabei auf verschiedene Quellen. Bemerkenswert ist unter anderem, dass der Verein bereits 1908 über einen mehr als 1500 Bücher umfassenden Bestand verfügte und diese in seinem seit 1908 bestehenden öffentlichen Lesezimmer mit weitreichenden Öffnungszeiten seinen Vereinsmitgliedern zur Verfügung stellte. Spätestens 1909 war das Lesezimmer auch für weibliche Nicht-Vereinsmitglieder zugänglich. Männer hingegen waren zwar nicht ausdrücklich ausgeschlossen, faktisch aber nicht als Besucher vorgesehen, so Riederer. Mit geschätzten neun bis zehn Leserinnen pro Tag des Jahres 1907 konnte das Weimarer Lesezimmer immerhin eine ähnlich hohe Frequenz an Besuchern verzeichnen wie die allgemeine Volksbücherei in Weimar desselben Jahres. Den Vortrag rundeten illustrierende Einblicke in die sehr heterogenen Bestände der ehemaligen Bibliothek ab, wobei deutlich wurde, dass deren weitere wissenschaftliche Erschließung nicht nur Auskunft über die Sammlungsstrategien des Vereins gibt, sondern auch Fragen zum Thema Frauenbildung erhellen kann.

VERONIKA DUMA (Potsdam/Wien) stellte ihre mit dem Herbert-Tumpel-Preis ausgezeichnete Biografie der österreichischen Sozialdemokratin, Widerstandskämpferin und Überlebende des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück, Rosa Jochmann (1901–1994), vor. Die zahlreichen dafür ausgewerteten Quellen (Nachlässe, autobiografische, behördliche und mediale Zeugnisse) dienen ihr sowohl der Illustration als auch der Grundlage der Argumentation der Arbeit. Dumas nimmt dabei Stellung zu unterschiedlichen Aspekten und Problemfeldern wie bspw. der fehlenden umfassenden Biographie zu Rosa Jochmann, zur Autobiografik, der Akteurinnenperspektive, dem strategischen Einsatz von Geschlecht und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung ebenso wie den Themenfeldern Widerstand und Erinnerung im Verhältnis von Geschlecht. Methodisch knüpft Duma dabei an zahlreiche Forschungskonzepte an, beispielsweise zu geschlechterspezifischen Handlungsräumen, Widerstand und Geschlecht oder (Frauen)-Biographieforschung. Insbesondere letztere führte die Referentin detaillierter aus. Dabei gab sie Einblicke in den theoretischen Diskurs der Biographieforschung und die im Buch adaptierten Theorien wie beispielsweise der Biographie als soziales Produkt (Gabriele Rosenthal). Diese Ausführungen diskutierte Duma anschließend ganz konkret an den Kapiteln „Zerstörte Autobiografie“ und „(Zeit-)Zeug_innenschaft“ ihrer Arbeit. Darin stellt Duma ihre Protagonistin als trainierte Erzählerin ihrer Lebensgeschichte sowie Zeitzeugin mit einer Stimme gegen das Vergessen, Verdrängen und Relativieren der Verbrechen des Nationalsozialismus ebenso heraus wie die Differenz von erlebter und erzählter Lebensgeschichte.

Im abschließenden Vortrag des Workshops thematisierte ANNEMARIE MÜLLER (Jena) den Männerverbund und Geselligkeitsverein „Schlaraffia“, der zugleich den Untersuchungsgenstand ihrer Dissertation bildet. In dieser fragt sie nach den Bedingungen unter denen sich ein transnationaler Männerverbund konstituierte. Im Vortrag fokussierte die Referentin auf das Mitteilungsorgan der Vereinigung, wofür sie 32 Jahrgänge der „Schlaraffia Zeyttung“ ab 1874 untersuchte. Dafür zeichnete sie zunächst die Geschichte der Zeitschrift nach und fragte nach zentralen Funktionen (Vernetzung, Darstellung, Werbung etc.) und weiteren Aspekten wie Auflagenhöhe, Herausgeber- und Autorenschaft oder Art und Sprache der Beiträge der Vereinszeitung. Ausgehend von den Nummern der Zeitung stellte Müller das Frauenbild des Vereins und Partizipationsmöglichkeiten von Frauen am Vereinsleben in das Zentrum ihrer Ausführungen. Dabei konstatierte sie, dass Frauen überwiegend in direktem Zusammenhang mit den männlichen Schlaraffen thematisiert und primär der Sphäre Haus und Familie als gleichzeitig erweiterten „Meta-Vereinsraum“ („Heimburg“) zugeordnet wurden. Auch die sichtbare Teilhabe von Frauen am Vereinsleben sei vorwiegend auf temporäre Partizipation als „Burgfrau“ oder „Burgmaid“ festgelegt gewesen. Zugleich müsse der tatsächliche Einfluss der Frauen auf das Vereinsleben aber deutlich höher bewertet werden, so die Referentin, fand sie doch Anhaltspunkte dafür, dass Beiträge auch von Frauen sowohl partiell als auch vollständig verfasst worden sind.

Der Workshop mit seiner thematischen und zeitlichen Offenheit hat erneut die enorme Spannweite und anhaltende Relevanz der Frauen- und Geschlechtergeschichte eindrücklich demonstriert. Für die Referierenden und Zuhörenden bildete dieses Format zudem ein wichtiges Podium zur Vorstellung und den Austausch über aktuelle Forschungsprojekte und gemeinsamen Vernetzung. Bleibt zu wünschen, dass der Workshop auch in Zukunft fortgesetzt wird.

Konferenzübersicht:

Gisela Mettele (Jena): Begrüßung

Anita Henneberger (Magdeburg): „Unsre schon erlangte Freude in Trauer zu verwandeln.“ Der Kindstod in der Dynastie der Ernestiner von 1600 bis 1800

Jana Tempelhoff (Magdeburg): Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Berufschancen für Frauen als Lehrerinnen in der Frühen Neuzeit

Andreas Neumann (Jena): „Studentinnen: russisch – jüdisch – staatsgefährdend!? Über die ambivalente Wirkung eines russisch-deutschen Praxistransfers“

Jens Riederer (Weimar): Ein eigenes Lesezimmer nur für Frauen? Der Weimarer „Verein Frauenbildung-Frauenstudium“ und seine Bibliothek um 1900

Veronika Duma (Potsdam/Wien): Rosa Jochmann. Eine Biografie

Annemarie Müller (Jena): Von Rittern und Verlobungsanzeigen. „Derer Schlaraffia Zeyttungen“ als Kommunikationsmedium des transnationalen Männerbundes Schlaraffia (1859-1937)


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