Nachhaltigkeit vor 1900 – auf der Suche nach Antworten auf gesellschaftliche und ökologische Herausforderungen

Nachhaltigkeit vor 1900 – auf der Suche nach Antworten auf gesellschaftliche und ökologische Herausforderungen

Organisatoren
Universität Göttingen, Projekt "Nachhaltigkeit als Argument"
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.03.2018 - 02.03.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Sven-Philipp Brandt, Althistorisches Seminar, Universität Göttingen

Nachhaltigkeit ist ein weites Feld und als Forschungskonzept in der Geschichte bzw. Umweltgeschichte noch nicht endgültig etabliert – seine Verwendung gilt abseits der reinen Begriffsgeschichte oft als problematisch. Aktuelle Definitionen von Nachhaltigkeit sind in einer großen Anzahl vorhanden und beziehen sich auf verschiedenste Lebensbereiche, wie beispielsweise Natur, Bildung oder Finanzen.

Der Workshop, der vom Göttinger Projekt „Nachhaltigkeit als Argument“ organisiert wurde, hatte sich zum Ziel gesetzt, anhand ausgewählter Ansätze Anwendungsversuche von Nachhaltigkeit in der (umwelt-)historischen Praxis zu beleuchten.

Zu Beginn der Tagung gab der Projektkoordinator, ANSGAR SCHANBACHER (Göttingen), einen einleitenden Überblick über den Begriff „Nachhaltigkeit“ sowie die Verwendung äquivalenter Begriffe im angelsächsischen, romanischen und slawischen Sprachraum. Anschließend führte er in das Verhältnis von Umweltgeschichte und Nachhaltigkeit ein, in dem er einen Bogen von Georgescu-Roegens Entropiemodell über das Drei-Säulen-Modell der Nachhaltigkeit bis hin zu den Ansätzen der ökologischen Ökonomie spannte und damit den Rahmen der Tagung skizzierte. Als Überleitung zu den überwiegend vormodernen Beiträgen legte Schanbacher die Begriffsgeschichte von Nachhaltigkeit vor 1900 dar, insbesondere die Forstwissenschaft mit den zentralen Protagonisten John Evelyn, Wilhelm Gottfried Moser sowie Hans Carl v. Carlowitz.

Der erste thematische Vortrag wurde von AMBER BRÜSEWITZ (Gent) gehalten, die sich unter dem Gesichtspunkt von Resilienz und Vulnerabilität der Frage näherte, inwieweit vormoderne Gesellschaften auf massive Landschaftszerstörungen im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen reagieren konnten. Hierbei konzentrierte sie sich auf den Peloponnesischen Krieg und die mehrfache Verheerung des attischen Landes durch die Spartaner. Aufgrund der literarischen Quellen der Zeit wird in der Forschung davon ausgegangen, dass sich in Folge der Zerstörungszüge die evakuierten Athener dauerhaft hinter den großen Stadtmauern niederließen und weite Teile des ländlichen Raums Attikas hierdurch verwaisten. Dieser These trat Brüsewitz mit einer Vielzahl archäologisch erschlossener Gräber entgegen, die den Schluss nahelegen, dass sich die Besiedlung der ländlichen Demen wohl nicht signifikant verringerte und die Evakuierungen sich nicht übermäßig auf die Siedlungsstruktur Attikas ausgewirkt haben dürften.

MARCUS HELLWING (Halle / Saale) befasste sich in seinem Beitrag mit der Wasserversorgung des antiken Roms zur Zeit des Kaisers Augustus. Hierbei versuchte er insbesondere die Maßnahmen, die Augustus ergreifen ließ, im Hinblick auf den Aspekt der Nachhaltigkeit zu untersuchen. Anhand der Quellen wurde zwar deutlich, dass Augustus Initiativen zur Verbesserung der Wasserversorgung ergriff, indem er sowohl den Tiber reinigen als auch neue Wasserleitungen aus dem Appenin anlegen ließ. Doch ist gemäß Hellwing ein Konzept im Sinne der Nachhaltigkeit nicht zu erkennen. Vielmehr reduzierten sich die Initiativen auf die Behebung zeitgenössischer Probleme, die in ihrer Rückschau auch durch die literarische Verarbeitung durch die Historiker sowie Augustus' Tatenbericht selbst erst den Anschein eines nachhaltigen Konzepts bekämen.

Mit einem Beitrag aus der klassischen Philologie ergänzte LARS KESSLER (Rostock) die Reihe der altertumswissenschaftlichen Beiträge, indem er Columellas „De re rustica“ im Hinblick auf Knappheit und Endlichkeit von Ressourcen untersuchte. Hierbei legte er seinen Fokus auf die verbreitete Annahme, dass "die Antike" Erde und Gestein für lebendig gehalten habe und damit einhergehend die Wirksamkeit religiöser Naturbilder ein affirmatives Vorbild für eine nachhaltige Beziehung zur Umwelt bieten könne. Er dekonstruierte jedoch diese These anhand Columellas rhetorischem Spiel mit dem Bild der Mutter Erde und der Frage nach der Materialität der Erde im Sinne von Natur.

STEPHAN EBERT (Darmstadt) widmete sich in seinem Vortrag den Hungersnöten als Extremereignissen im Frühmittelalter und eventuellen nachhaltigen Handlungen in Momenten großer Not. Hierzu analysierte er im Hinblick auf die Aspekte Vulnerabilität und Resilienz die Daten des Old World Drought Atlas hinsichtlich möglicher Ursachen der Missernten, um anschließend die Maßnahmen näher zu betrachten, die Karl der Große in seinen Kapitularien während der ersten großen Misserntephase seiner Regentschaft am Ende der 770er-Jahre verordnete. Hierbei zeigte sich als Strategie ein Zusammenspiel von religiösen Maßnahmen durch den Klerus sowie das Fasten und eine Abgabenpflicht der wohlhabenderen Laien, um der Versorgungskrise zu begegnen. Dies könne als ein Versuch religiöser Nachhaltigkeit im Sinne eines harmonischen Verhältnisses von Mensch und Gott angesehen werden, in der Natur zum Medium zwischen Gott und Mensch werde.

JANINA KRÜGER (Trier) erläuterte einleitend das in ihrer Projektgruppe erarbeitete Verständnis von Resilienz und die Anwendung des Konzepts in der historischen Forschung. Anschließend befasste sie sich mit den wirtschaftspolitischen Maßnahmen Karls I. von Anjou in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Zuge der Auseinandersetzungen um Sizilien mit dem Hause Aragon. Der Verlust Siziliens als wichtiger Getreidelieferant nach langen kriegerischen Auseinandersetzungen hatte Karl bewogen, in Apulien eine massive Förderung des Getreideanbaus umzusetzen und damit den Verlust Siziliens zu kompensieren. Krüger versuchte hierbei die von ihr als komplementär aufgefassten Begriffe Vulnerabilität und Resilienz für andere historische Zusammenhänge operationalisierbar zu machen.

TERESA HERBRAND (Göttingen) betrachtete unter dem Gesichtspunkt Gewässerregulierung und Nachhaltigkeit in Kurhannover im 18. und 19. Jahrhundert Maßnahmen an der Gewässerinfrastruktur von Leine und Fuhse. Im Mittelpunkt standen dabei die Aushandlungsprozesse, die sich im Kontext der am Ufer befindlichen Weiden ergaben, da diese neben der Uferbefestigung auch den Holzbedarf der Anrainer deckten, gleichzeitig aber der Nutzung der schiffbaren Leine und flößbaren Fuhse entgegenstanden. Mit der Analyse dieser Aushandlungsprozesse zeigte Hebrand Denkmuster und Spuren von Handeln auf, die zielgerichtet, auf Langfristigkeit angelegt und von nutzenorientierten und naturnahen Prinzipien geprägt waren.

Am Folgetag befasste sich LENA MARIA KAISER (Essen) mit der Versorgung der Bevölkerung im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel im 18. Jahrhundert. Hierbei richtete sie ihren Fokus auf die Planung und Anlegung öffentlicher Getreidemagazine, die in Hungersnöten die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung sicherstellen sollten. Sie ging dabei nicht nur der Frage nach, inwieweit die Konzeption der Getreidemagazine nachhaltig war, sondern auch welche Einflüsse sich im Nachhinein als problematisch bei der Durchführung des Konzepts erwiesen.

SEBASTIAN ENGELMANN (Tübingen) setzte sich in seinem pädagogikgeschichtlichen Vortrag mit Bernhard Heinrich Blasches Nachhaltigkeitskonzeption und dessen Bedeutung für die Umwelt- und Naturbildung auseinander. Der bisher in der Forschung weniger beachtete Pädagoge Blasche konzipierte zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen mit der Natur verbundenen Pädagogikansatz, da der Mensch als natürliches Wesen auf die Natur angewiesen sei und daher jedes pädagogische Konzept die Naturbezogenheit des Menschen zu beachten habe. So kommt Blasche zu dem Schluss, eine Pädagogik, die keinen nachhaltigen Umgang mit der Natur anstrebe, könne keine „gute“ Pädagogik sein. Jedoch zeigte Engelmann exemplarisch anhand des Bienenmodells Blasches auch die Widersprüche des Konzepts auf, die sich weitergefasst auf die naturbezogene Pädagogik rückbeziehen ließe.

In Anlehnung an den Werbespruch „Sie finden Nachhaltigkeit modern? Wir auch - Seit über 300 Jahren.“ des Dachverbands der deutschen Forstwirtschaft zeigte DAVID VOLLMUTH (Göttingen), dass sich die deutsche Forstwirtschaft als Erfinder der Nachhaltigkeit konstruiert. Dies sei bereits während der Entstehung der Forstwissenschaften im 19. Jahrhundert zu beobachten, wie sich anhand der sechs verschiedenen "Nachhaltigkeitsschulen" von Förstern in jener Zeit zeige. So hatte sich schon im frühen 19. Jahrhundert das Verständnis des Begriffs bei manchen Förstern vom ursprünglichen Carlowitzschen Sinn als Prinzip der kontinuierlichen Holzversorgung entfernt, in dessen Folge durch das "Rechnen mit dem Ertrag" der Wald zur Holzplantage wurde - mit teils katastrophalen Folgen für Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft.

KLARA SCHUBENZ (Mainz) widmete sich daran anschließend auf literarischer Ebene dem Berufsstand des Försters mit dem Schwerpunkt auf Waldgeschichten im 19. Jahrhundert. Hierbei konzentrierte sie sich auf die Veränderungen der deutschen Landschaft durch die Begründung der Forstwissenschaft im Jahrhundert zuvor. Im Zentrum ihre Vortrags stand Otto Ludwigs Drama "Der Erbförster", das sie in den historischen Kontext der Revolution von 1848 und wechselnder Eigentumsrechte setzte und in dem sie einen beginnenden Wandel des negativen Bildes der Förster hin zu einem sehr positiven ausmachte.

Auch der anschließende Beitrag von LISA CRONJÄGER (Basel) befasste sich mit der Forstwissenschaftsgeschichte, nämlich den Forschungsreisen des Forstwissenschaftlers und Akademiedirektors Edmund von Berg, die ihn im Jahre 1858 nach Finnland führten, um den Zustand der dortigen Wälder zu begutachten. In seinem als Auftragsarbeit verfassten Reisebericht empfahl er dem finnischen Senat eine "Nachhaltigkeitswirthschaft", die auf "wissenschaftlichen Grundsätzen" basieren und forstwissenschaftlich verwaltet werden sollte. Er gilt daher als Begründer einer nachhaltigen Forstwirtschaft in Finnland, die jedoch in der Rezeption von Bergs weitestgehend unbemerkt blieb, da diese sich überwiegend auf sein Wirken in Zentraleuropa konzentriert. Beide Wirkungskreise verbindend ging Cronjäger der Frage nach, ob Konzeptionen der Nachhaltigkeit aufgrund ihrer Ambivalenz gesellschaftliche Aushandlungsprozesse ermöglichen oder mit Techniken der Kontrolle einhergingen.

SOPHIE MACK (Göttingen / Hannover) ging anschließend der Frage nach, inwieweit die Planung und Erbauung des Spiegelglasortes Grünenplan, die im 18. Jahrhundert von Carl I, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, und seinem Oberhofjägermeister Johann Georg von Langen durchgeführt worden war. Durch landschaftswissenschaftliche Methoden wie der Analyse historischer Karten, Forstaufzeichnungen, Archivbestände und Sekundärliteratur sowie durch die Untersuchung heutiger landschaftlicher Strukturen und unter Hinzuziehung wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze stellte sie zur Diskussion, dass im Falle der Siedlung Grünenplan ein Wirkungskomplex zu nachhaltiger Landnutzung geführt habe.

Zum Abschluss stellte NADJA HENDRIKS (Augsburg) einen Teil ihres Dissertationsvorhabens vor. Hierbei konzentrierte sie sich auf die Region Donauried und die Gemeinde Buttenwiesen, in der sich seit den 1960er-Jahren eine vernetzte und engagierte Bürgerprotestbewegung gegen diverse Großbauprojekte entwickelt hatte (u.a. gegen einen Bombenabwurfplatz der NATO, eine Teststrecke für Magnetschwebebahnen oder ein AKW). Einen besonderen Fokus legte Hendriks dabei auf die Rolle des örtlichen Bischofs sowie die Protestsymbole wie das Magnetschwebebahnkreuz, die häufig auf regionale historische Ereignisse und deren Rezeption rekurrierten. Hendriks zeitgeschichtliches Beispiel bot einen gelungenen abschließenden Ausblick auf Diskussionen um „Nachhaltigkeit“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
In der Abschlussdiskussion zeigte sich, dass der Wunsch nach einer verhältnismäßig einheitlichen Begriffsdefinition für Nachhaltigkeit sowie seiner Teilsubstitute, wie z.B. Resilienz, zwar groß ist, die Umsetzung jedoch nicht nur aufgrund von Fächergrenzen, sondern auch durch unterschiedliche zeitliche und thematische Schwerpunkte problematisch bleibt. Ein Lösungsansatz könne daher sein, für bestimmte Epochen mit ähnlicher Quellensituation entsprechende Begriffe mit einer einheitlichen Definition anwendbar zu machen, ohne den Begriff Nachhaltigkeit für den Gebrauch in den Geschichtswissenschaften insgesamt durch eine einheitliche oder gar verbindliche Definition einzuengen.

Konferenzübersicht:

Einführung:

Ansgar Schanbacher (Göttingen): Umweltgeschichte und Nachhaltigkeit

Amber Brüsewitz (Gent): “Deep was their trouble and discontent”: resilience theory and the impact of the Peloponnesian War on classical Attica

Marcus Hellwing (Halle / Saale): Aqua Augusta – Kaiser Augustus und die Wasserversorgung der Stadt Rom

Lars Keßler (Rostock): Knappheit und Endlichkeit von Ressourcen in Columellas Traktat über die Landwirtschaft

Stephan Ebert (Darmstadt): Nachhaltigkeit in Momenten großer Not? Die Interaktion mit der Natur am Beispiel von Extremereignissen im Frühmittelalter

Janina Krüger (Trier): Resilienz in Süditalien am Beispiel wirtschaftspolitischer Maßnahmen Karls I. von Anjou in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts

Teresa Herbrand (Göttingen): Gewässerregulierung und Nachhaltigkeit in Kurhannover im 18. Jahrhundert

Lena Maria Kaiser (Essen): „Ansehnliche und beständige Magazine sind zu allen Zeiten dem publico heylsahm “ Planung und Anlegung von öffentlichen Getreide-magazinen im Fsm. Braunschweig-Wolfenbüttel des 18. Jahrhunderts

Sebastian Engelmann (Tübingen): Bernhard Heinrich Blasches Nachhaltigkeitskonzeption und ihre Bedeutung für die Umweltbildung

David Vollmuth (Göttingen): Der Begriff der Nachhaltigkeit im Verständnis der Förster des 19. Jahrhunderts

Klara Schubenz (Mainz): Über die sorgenden Förster in Waldgeschichten des deutschen Realismus

Lisa Cronjäger (Basel): „Um nur etwas Ordnung in das Chaos zu bringen“. Nachhaltigkeit in Edmund von Bergs forstwissenschaftlichen Reiseberichten

Sophie Mack (Göttingen / Hannover): Grünenplan im Hils: gehören Ressourcen-Nutzung und Nachhaltigkeit zusammen

Nadja Hendriks (Augsburg): "Global denken – lokal handeln". Nachhaltigkeit(en) auf lokaler Ebene


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts