Wissenschaft, Religion und politischer Dissens im langen 19. Jahrhundert

Wissenschaft, Religion und politischer Dissens im langen 19. Jahrhundert

Organisatoren
Christoffer Leber / Claus Spenninger, Internationales Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.02.2018 - 17.02.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Sabrina Ladenburger, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die politische Dimension ist aus Debatten um das Verhältnis von (Natur-)Wissenschaften und Religion im 19. Jahrhundert nicht wegzudenken. Als Beispiele hierfür seien etwa die bildungspolitischen Ziele antiklerikal motivierter Wissenschaftler oder die Mobilisierung naturwissenschaftlicher Argumente im Zeitalter der Kulturkämpfe genannt. Die komplexe Verflechtung von Wissenschaft, Religion und Politik zu untersuchen, war das Ziel eines Nachwuchsworkshops am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München am 16. und 17. Februar 2018. Veranstaltet wurde der Workshop von Christoffer Leber und Claus Spenninger, beides Doktoranden des Internationalen Graduiertenkollegs „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ an der LMU München.

In der Entwicklung des europäischen Antiklerikalismus und Freidenkertums spielten die Naturwissenschaften eine eminente Rolle. Dabei wurden die Naturwissenschaften häufig als argumentative Ressource mobilisiert, um Religion und Kirchen zu kritisieren sowie politische und sozialreformerische Forderungen zu rechtfertigen. Diese Forderungen waren häufig von der Annahme begleitet, dass Religion und Wissenschaft in einem unüberbrückbaren Konflikt miteinander stünden. Seit einigen Jahrzehnten wird diese einseitige Konfliktthese jedoch zunehmend relativiert und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Religion und Politik treten stärker in den Vordergrund. Gegenstand des Workshops waren daran anschließend die vielseitigen, häufig unübersichtlichen Verflechtungen von wissenschaftlicher Argumentation, politischem Dissens und religiösen Bezugnahmen.

Die zu Beginn des Workshops formulierten Leitfragen lauteten: Welches Verständnis von Wissenschaft, Religion und Politik spielte in den jeweiligen Fallstudien eine Rolle? Wie verhielt sich der Themenkomplex Wissenschaft, Religion und Politik zur nationalen, wie zur transnationalen Ebene? Welche Rolle spielten die Naturwissenschaften als Legitimationsressource und als Mittel der Religionskritik?

Der Workshop war dabei in vier Panels unterteilt: Das erste Panel widmete sich dem Verhältnis von (Natur-)Wissenschaft, Antiklerikalismus und Religionskritik. Im ersten Vortrag untersuchte CAROLIN KOSUCH (Rom) die Legitimierung und Popularisierung antiklerikaler Positionen durch Naturwissenschaftler im Italien des 19. Jahrhunderts. Am Beispiel der Debatten um die Einführung der Feuerbestattung zeigte sie, wie Mediziner und Naturwissenschaftler im Zuge der italienischen Einheitsbewegung versuchten, gesundheits- und sanitätspolitische Reformen durchzusetzen und diese Forderungen mit dezidiert kirchenkritischen und antikatholischen Positionen verbanden. Dabei argumentierte Kosuch, dass die Feuerbestattung in Italien im 19. Jahrhundert weitestgehend ein Elitenphänomen blieb und die Forderungen und Popularisierungsversuche der italienischen Naturwissenschaftler vor allem auf ein spezifisches akademisch geprägtes Milieu beschränkt blieben.

Anschließend zeigte VITALIJ FASTOVSKIJ (München) die Komplexität des Religionsverständnisses im russländischen Sozialismus des frühen 20. Jahrhunderts auf. Durch das wiederaufkommende europäische Interesse an religiösen Fragen um die Jahrhundertwende sei die Trennung zwischen dem von sozialistischen Akteuren propagierten „Licht der wahren Wissenschaft“ einerseits und der mit dem Staat verbundenen Kirche andererseits kritisiert worden. Stattdessen diskutierten sozialistische Akteure eine Vielzahl neuer Interpretationen. Die Diversifizierung der sozialistischen Bewegung im Zarenreich des frühen 20. Jahrhunderts führte auch unterschiedliche Positionen bezüglich des Verhältnisses von Sozialismus, Wissenschaft und Religion mit sich. Fastovskij konzentrierte sich dabei maßgeblich auf die Interpretationsansätze des gemäßigten sozialistischen Flügels. In diesem Kontext gab es Ansätze, die die religiöse Überlieferung mit den modernen Wissenschaften als prinzipiell vereinbar betrachteten. Kritisiert wurde von Vertretern dieser Richtung dagegen vor allem die Vermischung von Staat und Kirche.

Das zweite Panel beschäftigte sich mit den Verhältnis von Wissenschaft, Dissens und politischen Ordnungsentwürfen. In seinem Vortrag untersuchte CLAUS SPENNINGER (München) die Ideen naturwissenschaftlicher Materialisten im deutschsprachigen Raum der 1850er-Jahre zur „Steuerung des Fortschritts“. Im Fokus stand dabei das Wechselverhältnis von Materialismus, Willensfreiheit und Fortschrittsdenken. Entgegen älterer Lesarten, so argumentierte Spenninger, verneinten Materialisten wie Carl Vogt (1817-1895), Jacob Moleschott (1822-1893) und Ludwig Büchner (1824-1899) die menschliche Willensfreiheit nicht gänzlich, sondern sahen diese nur stark von stofflichen Bedingungen eingeschränkt. Über ein wissenschaftliches Verständnis der Ernährung, so erklärten die Materialisten, ließe sich der gesellschaftliche Fortschritt nicht nur rechtfertigen, sondern letztendlich auch steuern. Das Christentum und seine Institutionen präsentierten die Materialisten dabei als das zentrale Hindernis auf dem Weg zur Verwirklichung des gesellschaftlichen Fortschrittes.

Daran anschließend sprach CHRISTOFFER LEBER (München) am Beispiel des Homo Sapientissimus über soziale und biopolitische Utopien in der Monismusbewegung um 1900. Alle dualistischen Systeme ablehnend verfolgten die Monisten das Ziel, die gesellschaftliche Stellung der Kirchen im deutschen Kaiserreich zu unterminieren und durch naturwissenschaftliche, positivistische Konzepte zu ersetzen. Am Beispiel der monistischen Akteure Franz Müller-Lyer und Paul Kammerer wurden unterschiedliche Visionen des Neuen Menschen im Monismus demonstriert, die einerseits durch soziologische, andererseits durch evolutionsbiologische Theorien fundiert waren. Dabei sollte aufgezeigt werden, dass der Neue Mensch stets als Projektionsfläche des monistischen Ideals von „Kulturbeherrschung“ (im Sinne der wissenschaftlichen Steuerung des zivilisatorischen Fortschritts) diente.

Die US-amerikanische Wissenschaftshistorikerin LYNN K. NYHART (Wisconsin) hielt am Ende des ersten Tages die Keynote-Lecture des Workshops. Nyhart sprach über „The Great Disruption. Biologists, Revolutions, and the Values of Science, ca. 1848“. In ihrem Vortrag widmete sich Nyhart der Frage, was es im deutschsprachigen Raum um 1848 bedeutet habe, Naturwissenschaft zu betreiben und wie sich dieses Selbstverständnis zu politischem Handeln verhielt. Am Beispiel der beiden Biologen Carl Vogt (1817-1895) und Matthias Jacob Schleiden (1804-1881) – beide vertraten in philosophischen, politischen und religiösen Fragen unterschiedliche Positionen – zeichnete Nyhart überzeugend das Verhältnis der Naturwissenschaftler zur Revolution von 1848/49 nach. Beide Forscher beteiligten sich aktiv an der Revolution, traten hierbei jedoch kaum als Naturwissenschaftler auf. Wie Nyhart argumentierte, konnten Individuen um 1848 zwar sowohl Wissenschaft und gleichzeitig auch aktiv Politik betreiben, allerdings vermischten sich diese Positionen nicht zwingend. Nyhart machte auch darauf aufmerksam, dass politisch motivierte Naturwissenschaftler im 19. Jahrhundert nicht ausschließlich in der politischen Linken zu finden waren. Zudem waren die meisten Naturforscher 1848 passiv geblieben. Gerade jene Wissenschaftler, die nicht im linken Spektrum auftraten, sowie jene, die sich nicht an vorderster Front an der Revolution beteiligt hatten, gelte es stärker in den Blick zu nehmen, um das Verhältnis von Wissenschaft, Religion und Politik eingehender zu untersuchen.

Das dritte Panel widmete sich europäischen Dimensionen und transnationalen Netzwerken. LAURA MENEGHELLO (Siegen) eröffnete den zweiten Tag des Workshops mit einem Vortrag über den niederländischen Physiologen und Materialisten Jacob Moleschott (1822-1893). An Moleschotts beeindruckender europäischer Karriere, die sich sowohl in den Niederlanden, in Deutschland, der Schweiz und in Italien abspielte, so argumentierte Meneghello, lassen sich die transnationalen Verflechtungen von Wissenschaft, Religion und Politik deutlich analysieren. Meneghello demonstrierte anhand von Moleschotts Reden im italienischen Senat sowie seinen populärwissenschaftlichen Schriften, dass sich Moleschotts politische und wissenschaftliche Tätigkeit nicht voneinander trennen ließen. In beiden Bereichen verfügte Moleschott über ein breites, transnationales Netzwerk. Moleschotts transnationale wissenschaftliche Karriere gipfelte schließlich in seinem Umzug nach Italien und seiner Berufung zum Senator des jungen italienischen Königreichs.

Im Anschluss untersuchte JOHANNES GLEIXNER (Prag), wie Wissenschaftlichkeit am Ende des 19. Jahrhunderts in den böhmischen Ländern als antiklerikaler und politischer Kampfbegriff gebraucht wurde. Gleixner bettete seinen Vortrag einerseits in den Kontext einer neuen Massenöffentlichkeit im tschechischen Raum während des 19. Jahrhunderts ein. Andererseits argumentierte er dafür, antiklerikale Diskurse vor allem auf der lokalen Ebene, als Phänomen der Kleinstadt zu analysieren. Gleixner zeigte, wie Wissenschaftsaktivisten in den böhmischen Ländern vor der Aufgabe standen, die Grenzen des Geltungsanspruchs von Wissenschaft neu zu definieren, um so auch gegenüber religiösen Fragen Stellung beziehen zu können. Anhand von Fällen aus dem tschechischen „Kulturkampf“ der Jahrhundertwende verdeutlichte Gleixner das Spannungsfeld von antiklerikalen Aktivisten und kirchlichen Funktionären in den böhmischen Ländern.

Das letzte Panel beschäftigte sich mit Wissenspopularisierung und Deutungskonflikten im Verhältnis von Wissenschaft, Religion und Politik. Die Rolle von Popularisierung und unterschiedlichen Deutungen untersuchte BRITT SCHLÜNZ (Berlin) am Beispiel des juristischen Prozesses um die stigmatisierte Nonne Sor Patrocinio (1811-1891) im Spanien der 1830er-Jahre. Schlünz zeigte, wie im Kontext des Ersten Carlistenkrieges und des spanischen Thronfolgekonflikts das Auftreten von Stigmata an der Nonne Sor Patrocinio von politischer Seite aus als potentiell staatsgefährdend wahrgenommen wurde. Der Fall um die Nonne wurde als Problem der öffentlichen Hygiene behandelt und der liberale Staat nahm sich die Medizin zu Hilfe, um die politischen Deutungsansprüche der katholischen Kirche einzuhegen.

Abschließend warf MIRIAM WILHELM (Oldenbourg) einen Blick auf das Verhältnis von Wissenschaftspopularisierung und Kunst am Beispiel der Münchener Salonmalerei im Fin de Siècle. Im Fokus von Wilhelms Ausführungen stand dabei der Münchener Maler Gabriel von Max (1840-1915), dessen Bilder häufig naturwissenschaftliche Bezüge aufwiesen und welcher auch im Austausch mit Naturwissenschaftlern stand. Hieran zeigte Wilhelm, wie wissenschaftliche Debatten durch visuelle Popularisierungsstrategien einem breiteren Publikum zugänglich gemacht wurden. Gerade anhand des Gemäldes_ Vivisektion_ von Max argumentierte Wilhelm für die Bedeutung der Translation wissenschaftlicher Inhalte in bildkünstlerische Positionen im Kontext der Popularisierung naturwissenschaftlichen Wissens. Die Visualität und Einprägsamkeit von Bildern stellten dabei ein besonders wirksames Mittel zur Wissenschaftspopularisierung dar.

Die während dieses einführenden Workshops immer wieder aufgegriffene Vielschichtigkeit und Komplexität des Verhältnisses von (Natur-)Wissenschaft, Religion und politischem Dissens spiegelte sich während der zwei Tage auch im Programm wider. So wurden im Kontext des „langen 19. Jahrhunderts“ unterschiedliche Zeiträume und Themenkomplexe abgedeckt. Besonders hervorzuheben ist jedoch vor allem die geographische Breite der vorgestellten Inhalte. Untersuchungen zu Wissenschaft und Religion konzentrieren sich häufig auf den angelsächsischen Kontext oder einseitig auf die Kulturkämpfe. Der Workshop deckte dagegen die Bandbreite protestantischer, katholischer und auch orthodoxer Regionen ab und untersuchte das Verhältnis von Wissenschaft und Religion aus (wissenschafts-)historischer, kulturhistorischer und kunsthistorischer Perspektive.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Wissenschaft, Antiklerikalismus & Religionskritik

Carolin Kosuch (Rom): Schreibkulturen. Zur Legitimierung und Popularisierung antiklerikaler Positionen durch italienische Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts

Vitalij Fastovskij (München): Das »Licht der wahren Wissenschaft«. Religionskritik im russländischen Sozialismus des frühen 20. Jahrhunderts

Panel 2: Wissenschaft, Dissens & politische Ordnungsentwürfe

Claus Spenninger (München): Die Steuerung des Fortschritts. Ernährung, Willensfreiheit und Selbstoptimierung im naturwissenschaftlichen Materialismus der 1850er Jahre

Christoffer Leber (München): Homo Sapientissimus. Soziale und (bio-)politische Utopien in der Monismusbewegung um 1900

Keynote-Lecture:
Lynn K. Nyhart (Wisconsin): The Great Disruption. Biologists, Revolutions, and the Values of Science, ca. 1848

Panel 3: Europäische Dimensionen & transnationale Netzwerke

Laura Meneghello (Siegen): Verflechtungen von Wissenschaft und Politik in einer transnationalen Wissenschaftlerkarriere. Der Materialist Jacob Moleschott zwischen Nationalstaatsbildung und internationalem Wissenstransfer

Johannes Gleixner (Prag): Grenzen der Politisierbarkeit. Wissenschaftlichkeit als antiklerikaler und politischer Kampfbegriff am Ende des 19. Jahrhunderts in den böhmischen Ländern

Panel 4: Wissenspopularisierung & Deutungskonflikte

Britt Schlünz (Berlin): Ein Wunder auf dem wissenschaftlichen Prüfstand. Der Prozess um die stigmatisierte Nonne Sor Patrocinio im Spanien der 1830er Jahre

Miriam Wilhelm (Oldenburg): Wissenschaft als Bild. Visuelle Popularisierungsstrategien in der Münchener Salonmalerei des Fin de Siècle

Abschlussdiskussion