Jugoslawienkriege und Geschichtskultur. Vergangenes Unrecht, Umgangsweisen und Herausforderungen

Jugoslawienkriege und Geschichtskultur. Vergangenes Unrecht, Umgangsweisen und Herausforderungen

Organisatoren
Zentrum Politische Bildung und Geschichtsdidaktik, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz; Zentrum für Demokratie Aarau
Ort
Aarau
Land
Switzerland
Vom - Bis
27.01.2018 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Béatrice Ziegler / Julia Thyroff, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz

Unter dem Titel «Jugoslawienkriege und Geschichtskultur. Vergangenes Unrecht, Umgangsweisen und Herausforderungen» fand die siebte Veranstaltung in der inzwischen etablierten Tagungsreihe «Erinnerung – Verantwortung – Zukunft» statt. Die Reihe steht in zeitlichem und inhaltlichem Zusammenhang mit dem Holocaust-Gedenktag und befasst sich mit Fällen vergangenen Unrechts, zugehörigen geschichtskulturellen Umgangsweisen sowie gesellschaftlichen und schulischen Herausforderungen. Jeweils zwei aufeinanderfolgende Veranstaltungen nehmen dazu ein spezifisches vergangenes Unrecht als Ausgangspunkt – im aktuellen Tagungszyklus die Jugoslawienkriege. Die aktuelle Veranstaltung, die von der zum Eidgenössischen Departement des Innern gehörigen Fachstelle für Rassismusbekämpfung FRB gefördert wurde, bildete den thematischen Auftakt des Zyklus und diente der Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen. Sie vereinte Beiträge zu historischen Ereigniskomplexen und zu ihrer geschichtskulturellen Thematisierung. In einer Folgeveranstaltung im Jahr 2019 soll die Thematik dann didaktisch gewendet werden. Dort wird dann die aktuelle didaktische Forschung zum Thema berücksichtigt und steht die didaktisch reflektierte und begründete Präsentation von Materialien, Unterrichtseinheiten und Praxis- / Erfahrungsberichten im Zentrum.

Das erste Panel diente dazu, Bezüge der Thematik zur Schweiz aufzuzeigen. In einer migrationsgeprägten Gesellschaft wie der schweizerischen verbindet ein Teil der Bevölkerung eigene biographische Erinnerungen mit den Jugoslawienkriegen, viele heutige Schülerinnen und Schüler haben unmittelbare familiäre Bezüge zu Region und Thematik, anderen Bevölkerungsteilen sind die Ereignisse medial bzw. geschichtskulturell vermittelt im Bewusstsein. In gesellschaftlichen Diskursen über Migrantinnen und Migranten und die Jugoslawienkriege sind dabei vielerlei kollektive, stereotype Zuschreibungen virulent, die sich ethnischer, kultureller, nationaler oder auch räumlich orientierter Kategorien bedienen («Jugos» etc.) und die immer auch mit Verkürzungen bzw. Komplexitätsreduktionen, Inklusions- und Exklusionsmechanismen verbunden sind.

Dass die migrationsgeprägte Beziehung zwischen der Schweiz und der Region des ehemaligen Jugoslawien nicht erst seit den Jugoslawienkriegen besteht und dass es zu der aktuellen, vielfach pejorativen Wahrnehmung des jugoslawischen Raums auch einen «Kontrapunkt» gibt, zeigte THOMAS BÜRGISSER (Bern) in seinem Vortrag. Er berichtete über die seit den 1960er-Jahren bestehende, bedeutende Handelspartnerschaft zwischen der Schweiz und Jugoslawien, von gegenseitigen Affinitäten, von der Migration jugoslawienstämmiger Arbeitskräfte in die Schweiz, wobei eine Stigmatisierung der Migrantinnen und Migranten vor allem im Kontext der Jugoslawienkriege einsetzte.

Dass die Kriege entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der aus Ex-Jugoslawien stammenden Personen hatten, wurde auch im Vortrag von KATHRIN PAVIC (Basel) deutlich. Sie widmete sich speziell dem «Serbenbild», das zur Zeit der postjugoslawischen Kriege in der Schweiz vorherrschte, der Beschreibung der dabei erfolgenden Zuschreibungen und auch dem Einfluss solcher Zuschreibungen auf Menschen mit serbischem Hintergrund, wobei sie anhand von drei Fallbeispielen Varianten von Umgangsweisen herausarbeitete.

Im Rahmen der Keynote und der darauffolgenden beiden Panels wurde dann der räumliche Fokus gewechselt. Nun standen einerseits historische Ereignisse im Rahmen der Jugoslawienkriege selbst, andererseits Formen des geschichtskulturellen Umgangs mit diesen in Regionen des ehemaligen Jugoslawiens im Zentrum. NADA BOŠKOVSKA (Zürich) widmete sich in ihrer Keynote einer historischen und auch historiographischen Einordnung der Jugoslawienkriege. Sie legte Ausbruch und Verlauf der Jugoslawienkriege dar, diskutierte aber auch mit Blick auf den aktuellen Forschungsstand zum Thema Fragen einer historiographischen Einordnung der Jugoslawienkriege. Es wurde einerseits deutlich, dass die Geschichtsschreibung nach wie vor stark von aktuellen politischen Problemlagen und Parteilichkeiten in den Nachfolgestaaten beeinflusst ist, dass andererseits für die Bearbeitung gewisser Themen wie etwa die Rolle der NATO bzw. der Bombardierungen die Freigabe der Archivmaterialien eine wichtige Voraussetzung ist.

Im darauffolgenden zweiten und dritten Panel gerieten geschichtskulturelle Medien und (Erinnerungs-)Orte in den Blick. Dabei war es Ziel der Tagung, in der Auswahl der Beiträge dem Prinzip der Multiperspektivität Rechnung zu tragen, um unterschiedliche Standpunkte, Akteurinnen und Akteure sowie Perspektiven, unterschiedliche geschichtskulturell wirksame kollektive, ethnische und kulturelle Kategorien und Zuschreibungen und auch unterschiedliche geschichtskulturelle Manifestationen in den Blick nehmen zu können.

Im zweiten Panel wurde die Perspektive auf zwei spezifische geschichtskulturelle Medien gelegt, nämlich einerseits Lieder und andererseits Geschichtslehrmittel. PETRA HAMER (Graz) stellte in ihrem Vortrag «patriotic songs» vor, entstanden im Zeitraum zwischen 1992 und 1995 in Sarajevo. Sie arbeitete die in diesen Songs zu findenden Kategorisierungen heraus und unterschied dabei zwei grundsätzliche Formen, ethnonationale und religiöse Kategorisierungen, die sie in ihrem Vortrag anhand von Liedbeispielen veranschaulichte.

SHKЁLZEN GASHI (Prishtina) widmete sich in seinem Vortrag Geschichtslehrmitteln und der Frage, wie aktuelle Lehrmittel im Kosovo und in Serbien den Kosovokrieg der Jahre 1998 bis 1999 thematisieren. Er zeigte, dass in den Lehrmitteln in Bezug auf die zwei kämpfenden Parteien – Serben und Albaner – die je nach Kontext gegnerische Seite als Aggressor, die jeweils eigene Seite als Opfer dargestellt wird.

Die Vorträge des dritten Panels orientierten sich dann weniger explizit an spezifischen Medien, sondern nahmen vielmehr (Erinnerungs-)Orte in den Blick. ELISA SATJUKOW (Leipzig) widmete sich in ihrem Vortrag Gedenkpraxen, die im Serbien der 2000er-Jahre in Bezug auf die Bombardierung der damaligen Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 zu beobachten sind. Bei den öffentlichen Gedenkpraxen arbeitete sie eine – in jüngster Vergangenheit sogar wiederauflebende – Deutung der Bombardierung als «NATO-Aggression» heraus, in der der eigene Opferstatus hervorgehoben wird, während alternative, nicht-staatliche Deutungsmuster weniger öffentlichen Wiederhall finden.

Ebenfalls der Analyse von Formen des Erinnerns im Umgang mit einem militärischen Ereignis, nun aber in Bezug auf den Umgang mit der Operation «Oluja» im heutigen Kroatien, widmete sich DANIELA ZUNZER (Fribourg). Sie zeigte, dass in Kroatien die Einschätzung der Operation «Oluja» als legitime Aktion breit vorhanden ist, und dass Reflexionen über die eigene Verantwortung und auch Täterrolle bzw. multiperspektivische Betrachtungen des Geschehens demgegenüber weniger präsent bzw. zwar auf nichtstaatlicher Ebene zu finden sind, aber kaum Eingang in offizielles Gedenken finden.

Abgerundet wurde das Panel durch den Vortrag von FRANZISKA ZAUGG (Dublin / Bern), die einen historischen Längsschnitt vorstellte und am Beispiel der Stadt Mitrovica über eine «longue durée» der Gewalt sprach. Sie stellte Mitrovica vor als eine Stadt, die aufgrund ihrer geopolitischen Position im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts immer wieder zum Austragungsort von Konflikten und zum Ort von Gewalt wurde. Zaugg sprach über Umgangsweisen in der Bevölkerung angesichts dieser Ausgangslage und stellte mit der Mitrovica Rockschool ein Projekt vor, das sich die Zusammenarbeit zwischen albanischen und serbischen Bevölkerungsteilen zum Ziel gesetzt hat.

In etlichen Tagungsbeiträgen wurde deutlich, dass es vielfältige Formen des Gedenkens und Erinnerns in den Geschichtskulturen der jugoslawischen Nachfolgestaaten gibt, dass auf Ebene des offiziellen, staatlichen Gedenkens dabei starke Fokussierungen auf die eigene Opferrolle bestehen und dass sich multiperspektivische Betrachtungen und Reflexionen über die Verantwortung auch des eigenen Kollektivs demgegenüber eher in nicht-staatlichen Gedenkpraxen manifestieren. Wohl der einseitigen staatlichen Gedenkpraxis geschuldet war die Feststellung einer Tagungsteilnehmerin in der anschliessenden Diskussionsrunde, an diesem Nachmittag viel über Opfernarrative gehört zu haben. Für eine didaktische Behandlung des Themas, die in der Folgetagung vom Januar 2019 im Zentrum der Auseinandersetzung stehen soll, wird eine zentrale Herausforderung darin bestehen, multiperspektivische Zugänge zu verwirklichen, um Opfer-Täter-Dichotomien, wie sie in zahlreichen geschichtskulturellen Produkten und Praxen derzeit zu beobachten sind, aufzubrechen und damit verbundene Stereotypisierungen und Eingrenzungs- sowie Ausgrenzungsmechanismen zu vermeiden. Dies ist auch und besonders für den Geschichtsunterricht in der Schweiz wichtig. Denn zum einen geht es dabei um geschichtskulturelle Zugänge und historische Narrative von Kindern und Jugendlichen mit Wurzeln in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Sie stehen vor der Herausforderung, ihre Identität mittels eines reflektierten Umgangs in der Verbindung mit der Geschichtskultur der Heimat der Eltern oder Grosseltern und ihrer Zugehörigkeit zur schweizerischen Gesellschaft zu finden. Zum anderen kann und soll der Geschichtsunterricht einen Beitrag dazu leisten, stereotype Zuschreibungen und Stigmatisierungen dieser Kinder und Jugendlichen in der schweizerischen Gesellschaft zu erkennen und zu überwinden.

Konferenzübersicht:

Eröffnung (Monika Waldis, Julia Thyroff)

Panel 1: Schweizerische Perspektiven

Thomas Bürgisser (Diplomatische Dokumente der Schweiz (dodis), Bern): Vergessener Kontrapunkt: Das schweizerische Jugoslawienbild im Kalten Krieg

Kathrin Pavic (freischaffende Historikerin, Basel): «Plötzlich sind wir alle nur noch gewalttätig gewesen». Das «Serbenbild» während der postjugoslawischen Kriege in der Schweiz

Moderation: Vera Sperisen

Keynote

Nada Boškovska (Universität Zürich): Die Jugoslawienkriege. Ausbruch, Verlauf, Forschungsstand

Moderation: Béatrice Ziegler

Panel 2: Geschichtskulturelle Medien / Media of memory culture

Petra Hamer (University of Graz): Ethnonational and religious categorisation in patriotic songs made in Sarajevo, Bosnia-Herzegovina, from 1992 to 1995

Shkëlzen Gashi (Institute for Studies in Society and Culture Alter Habitus, Prishtina): The Kosovo War during 1998–1999 in the history textbooks in Kosovo and Serbia

Moderation: Julia Thyroff

Panel 3: (Erinnerungs-)Orte

Elisa Satjukow (Universität Leipzig): «Ihr habt uns getötet, ihr habt unsere Kinder getötet, aber Serbien habt ihr nicht getötet, weil Serbien kann niemand töten.» Eine Analyse serbischer Gedenkpraxis an die NATO-Bombardierung 1999

Daniela Zunzer (Kollegium St. Michael Fribourg / Mindset Tours GmbH): «Ein Sieg und zugleich ein moralisches Debakel dieses Landes»: Die Erinnerung an die Operation «Oluja» 1995 in Kroatien heute

Franziska Zaugg (University College Dublin / Universität Bern): «Die lange Dauer» – Gewalt und Erinnerung am Beispiel Mitrovicas im 20. und 21. Jahrhundert

Moderation: Philipp Marti

Abschluss und Ausblick (Julia Thyroff)