Mars, Jupiter, Jena: Zur politischen Poetik des Zukunftsromans

Mars, Jupiter, Jena: Zur politischen Poetik des Zukunftsromans

Organisatoren
Kristin Platt / Monika Schmitz-Emans, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.04.2018 - 13.04.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Steffen Münter / Verena Scheithauer, Ruhr-Universität Bochum

Das Genre des Zukunftsromans gewann in der Zwischenkriegszeit scharfe Konturen und prägte den populären Büchermarkt mit einer hohen Anzahl teilweise auflagenstarker Publikationen. Der im Rahmen des Forschungsprojekts „Der verdichtete Raum. Sprache, Text und weltanschauliches Wissen in deutschsprachigen Zukunftsromanen der 1920er- und 1930er-Jahre“ (gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung; seit Mai 2017) ausgerichtete öffentliche Workshop trug die Hypothese einer „politischen Poetik“ an das Korpus der angesprochenen Romane heran und fragte nach dem Beziehungsverhältnis zwischen ästhetischen Figuren, literarischen Verfahren und kulturellem Wissen. Vor diesem Hintergrund betonten die Initiatoren der Tagung die enge Verflochtenheit und Aufeinanderverwiesenheit von Politik und Poetik, die auch schon zeitgenössisch von den Autoren selbst hervorgehoben worden ist.

Die Nachmittagssektion des ersten Tages wurde durch die Projektleiterinnen KRISTIN PLATT (Bochum) und MONIKA SCHMITZ-EMANS (Bochum) eingeleitet, welche als zentrales Thema der Forschungsarbeiten die Frage nach der Entstehung kulturellen Wissens herausstellten. Der Befund, dass ‘Weltschöpfung‘ und ‘Krise‘ wiederkehrende Themen der Zukunftsromane der 1920er- und 1930er-Jahre seien, werfe die Frage nach den weltanschaulichen Mustern auf, die den Erzählungen zu Grunde liegen.

Im ersten Vortrag stellte MONIKA SCHMITZ-EMANS (Bochum) grundlegende Entwicklungslinien des europäischen Zukunftsromans seit dem 19. Jahrhundert vor. Aus einer komparatistischen Perspektive akzentuierte sie, dass die Extrapolation zeitgenössischer Diskurse und Innovationen als ein wesentliches Abgrenzungsmerkmal dieser Gattung gelten müsse. Zukunftsromane seien weniger als Medien des Phantastischen, denn als Medien des Denkbaren zu verstehen. Sie müssten als ‘moderne‘ Romane begriffen werden, da erst ein ausdifferenziertes Geschichtsbewusstsein auch den Blick auf potentielle zukünftige Entwicklungen eröffne. Für eine Analyse der Expandierung des Zeithorizonts biete sich eine Unterscheidung zwischen ‘naher‘ und ‘ferner‘ Zukunft an. Während Romane der nahen Zukunft häufig technologische Entwicklungen thematisierten, gehe es in Romanen der fernen Zukunft um eher spekulative Zukunftsideen. In den Romantexten, in denen eine potentielle Regression der Menschheit beschrieben wird, manifestierten sich nicht zuletzt deutlich die Sinnhorizonte der Zeit, etwa Rezeptionen der darwinschen Evolutionstheorie. Der Rekurs auf mythische Motive in den Erzählungen ziele ergänzend darauf, das Spekulative der Zukunftsentwürfe für die zeitgenössischen Leser verständlich und sinnhaltig zu machen. Mythen fungierten dabei als prärationale Ordnungen, die dem Unbekannten eine bekannte Gestalt verliehen.

ROBERT LEUCHT (Zürich) ging in seinem Beitrag dem „utopischen Ideenfieber“ nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nach und stellte dabei die Figur des Ingenieurs in unterschiedlichen literarischen und außerliterarischen Diskursen in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. In einem intermedialen Zugriff ging Leucht von Raoul Hausmanns Gemälde Die Ingenieure (1920) aus und stellte die These in den Raum, dass die Ingenieursfigur selbst als Interdiskurs verstanden werden könne. Der Vortrag thematisierte Ingenieurfiguren in Romanen unter anderem von Otfrid von Hanstein, Wolfgang Marken und K. Eduard May und diagnostizierte, dass man drei Typen von Ingenieuren identifizieren könne: den Dirigenten, den Zudiener und den Ingenieur als Teil des Kollektivs. Der Ingenieur ließe sich aber darüber hinaus als Epochenfigur auch in Texten sozialreformerischer Provenienz auffinden, wo er als ‘Gesellschaftsingenieur‘ und ‚Gesellschaftstechniker‘ firmiere. Schließlich zeige auch Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930, 1933, 1943) einen prometheischen Gedanken, der implizit auch auf die zeitgenössische Apotheose des Ingenieurs verweise. Abschließend konstatierte Robert Leucht, dass die unterschiedlichen Ingenieursfiguren zwar durch ideologische Ferne, aber ebenso durch diskursive Nähe gekennzeichnet seien.

Im letzten Panel des ersten Tages stellte ANDY HAHNEMANN (Berlin) die Frage, ob ‘Geopolitical Fiction‘ ein vergessenes Genre sei, und erörterte, ob sich der Zukunftsroman in den geopolitischen Diskurs der Zwischenkriegszeit füge. Hahnemann präsentierte die „suggestive Kartographie“ der Geopolitiker als „Summe spezifischer Inszenierungsformen von Raumwissen“. Ihre Karten sollten nicht ein wirklichkeitsgetreues Abbild der Realität herstellen, sondern vielmehr das ‘Wesentliche‘ hervorheben (also eine geopolitische Idee). Während die Kartographen dafür wenige dicke Striche verwendeten, entspräche dieser Markierungstendenz das Metapherngeflecht um ‘Kraft‘, ‘Kräfte‘ und ‘Kraftlinien‘ in der Literatur. Die Texte selbst seien kartographisch zu lesen, die Karten müssten narrativ verstanden werden. Das Suggestive der Kartographie sei vor allem die Autosuggestion eines permanenten Beschwörens einer Selbstermächtigung. Hahnemann verwies darauf, dass dem Schlagwort vom „Volk ohne Raum“, in der Literatur stets das Schlagwort vom „Raum ohne Volk“ entspräche. Abschließend betonte er, dass es einen unauflöslichen Nexus von politischem Raum und Technologie in den Romanen gäbe – das Eine sei nicht ohne das Andere zu denken.

Den zweiten Workshop-Tag eröffnete KRISTIN PLATT (Bochum), die die Zwischenkriegszeit als „Zeit der Katastrophe“ in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen rückte. Die Katastrophe erscheine in den Texten als Wissensfigur, Metapher oder Symbol, sie sei nur als kulturelle Figur verstehbar. ‘Krise‘ und ‘Katastrophe‘ seien keineswegs Synonyme, sondern Metaphern sozialen Wissens, die sich aus unterschiedlichen Diskursen speisten. Während die ‚Krise‘ in der Moderne auf einen Zustand verweise, der in die ‘Normalzeit‘ gehöre, sei die ‚Katastrophe‘ nicht in diese integrierbar. ‘Katastrophen‘ erschienen als Gewalt gegen die Kultur und als Zerstörung menschlicher Identität. Platt stellte vier Thesen zu Erscheinungsformen der ‘Katastrophe‘ in Zukunftsromanen zur Diskussion: 1.) Die ‘Katastrophe‘ sei eng in Vorstellungen vermittelbarer und benennbarer Zeit gebunden. Sie sei selbst eine soziale Zeitkategorie. 2.) Die ‘Katastrophe‘ sei allerdings keine utopische Drohung, sondern unausweichlicher Moment der Gegenwart. Erst nach der ‘Katastrophe‘ könne wieder „Geschichte gemacht“ werden und sei eine Synchronisierung von Mensch, Kultur, Gesellschaft und Politik möglich. 3.) Die ‘Katastrophe‘ in der Zwischenkriegszeit überwältige nicht, sondern sei erzählbar und integriere eigene Zeitfiguren. Anders als die ‘Krise‘ sei sie nicht von Dauer, sondern erscheine als ‘Hürde‘ und ‘Bruch‘. 4.) Mit ihr begegne ein entgrenztes Gewaltgeschehen, dessen Narrativierung Aussagen zulasse über die Ordnungen von Kultur und Gesellschaft. In den Romanen, so resümierte Platt, verursachten ‘Katastrophen‘ soziale Revolutionen, sie hinterließen nicht Ruinen, sondern neue Handlungsräume – geschichtliches Werden werde zurückgewonnen.

Im nachfolgenden Vortrag stellte HANS ESSELBORN (Köln) seine Überlegungen zu „Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Romanen“ vor. Er fragte nach dem lang anhaltenden Erfolg der Romane Dominiks und erörterte inwiefern sie als Beispiel eines gelungenen Emplotments zeitgenössischer politischer und technischer Diskussionen gelten können. Dazu analysierter er systematisch das Handlungsgeschehen des Romans Die Spur des Dschingis Khan (1923), um Figuren und Handlungsverläufe zu typisieren, die die politisch-ideologischen und technisch-innovativen Diskurse konkretisieren und vor allem auch emotionalisieren. Als eine zentrale literarische Strategie einer erfolgreichen Emotionalisierung kann dabei die Entfaltung rassentheoretischer Überlegungen vor der Folie einer romantischen Liebesbeziehung gelten. Im Folgenden zeigte Esselborn auf, wie im Roman mit der Erfindung des ‘Dynotherms‘ und ‘Anti-Dynotherms‘ die zeitgenössische Atomphysik eher spekulativ rezipiert wurde, diese Erfindungen vor allem als diskursiver Knotenpunkt von Rassentheorie und technischer Innovation fungiert habe. Überzeugend wies Esselborn nach, wie in der Figur des weißen Erfinders kolonialrassistisches Wissen über die Überlegenheit der europäischen Völker verdichtet wurde, wobei diesen in Dominiks Romanen die „gelbe Gefahr“ und die aufbegehrenden schwarzafrikanischen Völker gegenübergestellt werden. Der Romanprotagonist Isenbrandt könne allerdings nicht als politische Führerfigur, sondern allenfalls als technokratische Leitgestalt verstanden werden.

Den ersten Vortrag am Freitagnachmittag widmete DINA BRANDT (München) dem Themenfeld von Geschlecht und Sexualität im deutschen Zukunftsroman der 1920er- und 1930er-Jahre unter dem Titel „Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“. Dabei betonte sie, dass die Konstruktion von Männerbildern in der angesprochenen Literatur für das Erkenntnisinteresse ihres Vortrages nur von peripherem Interesse sei. Anhand von Heinz Slawiks Erdsternfrieden (1919) unternahm sie den Versuch, der Rolle der Frau in der projektierten zukünftigen Gesellschaft auf die Spur zu kommen. Der erste auffällige Befund beträfe die Unterrepräsentiertheit der Frauen in den Verfassungen der neuen Gesellschaft. So ist ein Frauenwahlrecht in Erdsternfrieden nicht vonnöten, die staatlich geförderte Prostitution hingegen zeigt sich als Institution der Zukunftsgesellschaft. In den Ingenieursphantasien, so etwa in Hans Richters T 1000. Roman eines Riesenflugzeugs (1927), werde die Unterscheidung von ‘Kameradin‘ und ‘Mädel‘ etabliert, wobei die ‘Kameradin‘ häufig ihrer weiblichen Eigenschaften entledigt wird, das ‘Mädel‘ reduziert ist auf die Rolle als Frau. Auch Thea von Harbous Frau im Mond (1928) weiche nicht von diesem Schema ab. In Eickermanns Großmacht Saturn (1938) werde demonstriert, dass interstellare Paarbeziehungen im Zukunftsroman häufig problematisch seien. Als Fazit resümierte Dina Brandt, dass die Zukunftsromane weit hinter zeitgenössische Diskurse zurückfielen. Zukunftsromane seien Männerromane gewesen und hätten mit Frauen wenig zu tun.

Den abschließenden Beitrag leistete LUCIAN HÖLSCHER (Bochum), der Zeitstrukturen und Verfahren der Verzeitlichung in Zukunftsromanen thematisierte. Am Beispiel des Romans Die Schlacht über Berlin (1933) von Axel Alexander [d. i. Alexander Thomas] stellte er eine Analyse der Temporalstruktur der Zukunftsromane vor. Der Roman thematisiert die fiktive Abwehrschlacht der Truppen des Deutschen Reiches gegen sowjet-russische Bomberangriffe, die letztlich von den Deutschen gewonnen wird. Hölscher betonte, dass es in der Auseinandersetzung mit Zukunftsromanen mindestens vier Zeitebenen zu differenzieren gelte: die gegenwärtige Zukunft, die die Perspektive des Autors betreffe; die zukünftige Gegenwart, die die Perspektive des zeitgenössischen Lesers sei; die gegenwärtige Vergangenheit, die als die Perspektive des Historikers beschrieben werden kann; die vergangene Zukunft, welche als die Perspektive des heutigen Lesers erkannt werden muß. Die Binnenzeit der Erzählung selbst folge im Wesentlichen dem Gang der Ereignisse. Sie sei die symbolische Personifizierung der historischen Zeit, die sich permanent einer historischen Prüfung auszusetzen habe. Hölscher führte aus, dass sich in den Protagonisten des Romans ein den Völkern, die sie verkörpern, zugeschriebenes Alter verdichte. Es handele sich also um akteursgebundene Zeitstrukturen. Im Anschluss an Leibniz, Kant und andere unterschied Hölscher eine ‘leere‘ von einer ‘verkörperten‘ Zeit als zwei Konzepte historischer Zeiten. Unter der „leeren“ Zeit sei die kalendarische Zeitreihe zu verstehen; die „verkörperte“ Zeit sei hingegen die objekt- und subjektgebundene Zeit geschichtlicher Akteure. Als heuristische Begriffe in der Auseinandersetzung mit Zukunftsromanen schlug Hölscher eine Unterscheidung zwischen Fiktionalität, Fiktivität und Realem vor. Unter Fiktionalität könnten demnach die in der Literatur imaginierten Ereignisse verstanden werden, während als fiktiv gelten solle, was sich in der Konfrontation mit der außerliterarischen Wirklichkeit als nicht real erweist. Als Befund hielt er fest, dass der Zukunftsroman sich meist oder zumindest häufig des Modus des Futur II bediene und so eine zukünftige, aber schon abgeschlossene Vergangenheit präsentiere. Hölscher schloß mit der Feststellung, die Zukunft sei ein Zwitter zwischen Realität und Potentialität.

Die Vorträge und anregenden Diskussionen des Workshops zeigten, dass der Begriff der ‘politischen Poetik‘ als heuristisches Instrument zur näheren Bestimmung der Spezifika des Korpus tauglich ist. In einem Resümee und Ausblick konstatierte LASSE WICHERT (Bochum), dass in der vielfach thematisierten Figur des Ingenieurs die „topologische Figuration“ eines Zukunftsgestalters erkennbar sei. Mit Verweis auf Robert Leucht, der in seinem Beitrag gerade die interdiskursive Virulenz und damit auch Wirkmächtigkeit der Figur aufgezeigt habe, lasse sich zeigen, dass in den Romanhandlungen spezifische Signaturen der Epoche deutlich würden. In der abschließenden Diskussion wurden Desiderate aufgezeigt, die in der weiteren Erforschung des Korpus zu berücksichtigen seien. So sei dem Projekt aufzugeben, eine Forcierung des komparatistischen Ansatzes zu verfolgen, um Aussagen darüber treffen zu können, inwiefern sich der deutschsprachige Korpus von anderen unterscheide. Angemerkt wurde ferner, dass eine Untersuchung der phantastischen technischen Innovationen in den Romanen Hinweise darauf liefern könne, ob es sinnhaft sei, auch von einer „technischen Poetik“ zu sprechen, da man nicht zwangsläufig von einem Primat des Politischen im gesamten Korpus ausgehen solle.

Konferenzübersicht:

Sektion: Zukunft im Text
Moderation: Peter Goßens (Bochum)

Monika Schmitz-Emans (Bochum): Themen und Tendenzen des europäischen Zukunftsromans seit dem späten 19. Jahrhundert. Skizze eines Rahmens

Robert Leucht (Zürich): Umkämpftes Morgen. Zukunftsdiskurse und utopisches Ideenfieber nach dem Ersten Weltkrieg

Sektion: Zukunftsroman als Genre
Moderation: Lasse Wichert (Bochum)

Andy Hahnemann (Berlin): Geopolitical Fiction. Ein vergessenes Genre?

Sektion: Entgrenzte Machbarkeit
Moderation: Monika Schmitz-Emans (Bochum)

Kristin Platt (Bochum): Die Zeit der Katastrophe

Hans Esselborn (Köln): Fiktionalisierung und Narrativierung technischer und politischer Diskurse in Hans Dominiks Romanen

Sektion: Handlungsräume echter Männer
Moderation: Medardus Brehl (Bochum)

Dina Brandt (München): „Unnützes Weiberfleisch können die Motoren nicht tragen“. Geschlechter in den Zukunftsromanen

Sektion: Die Eroberung der Zukunft
Moderation: Kristin Platt (Bochum)

Lucian Hölscher (Bochum): Zeitstrukturen in Zukunftsromanen der Zwischenkriegszeit

Lasse Wichert (Bochum): Resümee und Ausblick