„It’s the economy, stupid …“? Begriff und Praxis der Ökonomisierung in der Zeitgeschichte

„It’s the economy, stupid …“? Begriff und Praxis der Ökonomisierung in der Zeitgeschichte

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Abteilung II: Geschichte des Wirtschaftens
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.03.2018 - 03.03.2018
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Von
Marcel Schmeer, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Ein Gespenst scheint die westlich-liberalen Gesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts heimgesucht zu haben – das Gespenst der Ökonomisierung. Als Zeitdiagnose und Kampfbegriff spukt es gleichsam allgegenwärtig durch die deutschsprachigen (sozial-)wissenschaftlichen und publizistischen Debatten unserer Gegenwart. Wie kam es zu jener inflationären Nutzung der Ökonomisierungsvokabel zur Beschreibung der (wirtschafts-)politischen Wandlungsprozesse seit den 1970er-Jahren? Und lassen sich in diesem Zeitraum tatsächlich Transformationen im Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausmachen, die mit dem Begriff der Ökonomisierung ausreichend beschrieben werden können? Diesen Leitfragen widmete sich eine von der Abteilung für die „Geschichte des Wirtschaftens“ des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausgerichtete Konferenz vom 1. bis zum 3. März 2018. Beinahe 20 durchweg anregende Vorträge in neun Panels beleuchteten den Gegenstand dabei nicht nur aus wissens- und diskursgeschichtlicher Perspektive, sondern berücksichtigten auch die konkrete praktische Dimension möglicher Ökonomisierungen.

Einführend betonte RÜDIGER GRAF (Potsdam), dass nicht primär der Frage nachgegangen werden sollte, ob die vielfach von ihren zahlreichen Kritikern gestellte Diagnose einer gesellschaftlichen Ökonomisierung verifiziert oder falsifiziert werden könne. Vielmehr solle geklärt werden, was von wem zu welcher Zeit und warum in verschiedenen Handlungsfeldern und Gesellschaftssphären darunter verstanden wurde. Ziele seien eine konsequente Historisierung der bis heute andauernden Diskussionen und die intensive Prüfung des Begriffs auf seine Tauglichkeit als analytische Kategorie für die Zeitgeschichte. Gleichzeitig warnte Graf davor, die dem Ökonomisierungsnarrativ implizit zugrundeliegende Linearität oder Teleologie (im Sinne eines „Verfalls“ der heilen Boom- bzw. Nachkriegsordnung) ungeprüft nachzuzeichnen und den Blick stattdessen auch auf Gegentendenzen zu richten.

So schillernd wie omnipräsent der Begriff der Ökonomisierung unzweifelhaft ist, krankt er doch an seiner immensen definitorischen Unklarheit: Erschöpft er sich in der Übertragung von Marktmechanismen in bisher marktfremde Bereiche? Wie lässt er sich von anderen Kategorien abgrenzen? Und handelt es sich in bestimmten Feldern nicht um eine (eher oberflächliche) Übernahme ökonomischer Semantiken? Die ersten beiden Panels der Tagung widmeten sich diesem Problemkontext und warfen die Frage nach terminologischer Schärfung sowie analytischem Mehrwert auf.

UTE VOLKMANN (Bremen) stellte aus soziologischer Perspektive ein differenzierungstheoretisches Stufenmodell gesellschaftlicher Ökonomisierung zur Diskussion, das eine graduelle Unterscheidung derartiger Prozesse sowohl in zeitlicher wie auch sozialer Perspektive ermögliche. Dergestalt ließen sich verschiedene Intensitätsgrade von „Ökonomisierungsdruck“ auf unterschiedliche „Wertsphären“ (Max Weber) unterscheiden, denen ursprünglich andere Leitwerte zugrunde lagen. Gleichermaßen erlaubt das Modell, Formen des individuellen wie kollektiven Widerstands gegen diese „ökonomische Infizierung“ der jeweiligen Systeme zu identifizieren. Aus rechtshistorischer Perspektive widmete sich LOUIS PAHLOW (Frankfurt) sodann „Diskurse[n] und Strategien einer Ökonomisierung des Rechts“ seit den 1970er-Jahren. Er fragte nach der Genese spezifisch ökonomischer Denkstile im Rahmen des law and economics approach und ihrer Adaption in den Rechtswissenschaften. Als „ökonomische Analyse des Rechts“ sei in den USA eine „freiwillige Internalisierung“ ökonomischer Leitkategorien erfolgt, während in Westeuropa eine stärkere Skepsis vorgeherrscht habe. In der Konsequenz habe die Rechtswissenschaft in den USA mit Blick auf Gesetzgebungsprozesse weiterhin die Deutungshoheit behalten, während die westeuropäischen Gegenbewegungen zu einer „(Selbst-)Aufgabe legislativer Expertise“ geführt hätten.

Das zweite Panel rückte in Form dreier begriffsgeschichtlicher Tiefenbohrungen die konkurrierenden, substitutiven oder komplementären Termini „Kommerzialisierung“, „Vermarktlichung“ und „Finanzialisierung“ in den Mittelpunkt. ROMAN KÖSTER (Freiburg) ging zunächst dem „Topos der Kommerzialisierung“ nach, der seit Werner Sombart einen festen Platz in der deutschsprachigen Kapitalismuskritik des 20. Jahrhunderts gehabt habe. In den 1920er-Jahren sei Kommerzialisierung zum Schlagwort der Beschreibung einer „Durchlaufepoche“ eines Übergangs zu einer bürokratisierten Wirtschaft geworden. In der frühen Bundesrepublik habe dann etwa Wilhelm Röpke amerikanisierungskritisch dem „Fluch der Kommerzialisierung“ das deutsche, ordoliberale Modell einer „funktionierenden Wirtschaftsordnung“ gegenübergestellt; gleichermaßen habe sich auch die marxistische Kapitalismuskritik der „Kommerzialisierung“ angenommen. Seit den 1970er-Jahren habe sich der Begriff schließlich als Topos einer „neuen Kapitalismuskritik“ etabliert. RALF AHRENS (Potsdam) warf ein Schlaglicht auf den historiographischen Mehrwert der Kategorie „Vermarktlichung“. Der Begriff erlaube es im Gegensatz zu „Ökonomisierung“, unterschiedliche, konflikthafte und kontingente Prozesse – über ein spezifisches Strukturmerkmal – analytisch zusammenzudenken. Er impliziere dabei aber nicht notwendigerweise die den Alternativtermini oft zugrundeliegenden dichotomen Gegensätze von Markt und Staat bzw. einer damit einhergehenden Privatisierungskritik. Vielmehr schließe Vermarktlichung sowohl genuin ökonomische Kontexte ein als auch Bereiche, die ursprünglich nicht (nur) Marktmechanismen unterworfen waren. Er eigne sich damit gleichermaßen für die Analyse unterschiedlicher Marktvorstellungen, verweise auf die Prozesshaftigkeit und Eigenzeitlichkeit der Implementation von Marktmechanismen und sensibilisiere schließlich für die Verfasstheit von Märkten bzw. die ihnen zugrundeliegenden Akteursbeziehungen und -dynamiken. Zum Abschluss des Panels kritisierte LAURA RISCHBIETER (Konstanz), dass es sich bei den hier zu diskutierenden Begriffen womöglich um „alten Wein in neuen Schläuchen“ handele. Als kaum unterscheidbare Figürchen einer „konzeptionellen Matrjoschka“ würden diese vielmehr auf den Kapitalismus selbst als übergeordnete Analysekategorie (zurück-)verweisen. Derlei Instrumente sollten vielmehr als Sonde dienen, um einem „Strukturwandel des Kapitalismus“ nachzugehen wie er sich etwa hinter den hitzigen Diskussionen über inter- bzw. transnationale Finanzialisierungsprozesse verberge, die den Aufstieg der ökonomischen Leitinstanz des „Finanzmarkts“ seit den 1980er-Jahren begleitet hätten.

Nach diesen ebenso grundsätzlichen wie produktiven Dekonstruktionsbemühungen endete der erste Konferenztag mit einer Abenddiskussion. GABRIELE METZLER (Berlin), WERNER PLUMPE (Frankfurt am Main) und der per Videotelefonie hinzugeschaltete ARMIN NASSEHI (München) debattierten dabei über die Frage „Gab es eine Ökonomisierung und woran erkennt man sie?“ Metzler verwies darauf, dass Deregulierungs- und Ökonomisierungsmaßnahmen auch eine Folge der politischen Debatten über „Unregierbarkeit“ nach dem Scheitern keynesianischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitiken in den 1970er-Jahren waren. Der Soziologe Nassehi argumentierte mit Blick auf eine mögliche Ökonomisierung luhmannianisch mit der „Expansionsdynamik sozialer Systeme“, die freilich auch für die Wirtschaft gelten würde. Ein Mehrwert bei der Analyse der Ökonomisierungsdiagnose liege darin, diese als spezifische Strategie der „Optionssteigerung“ zu begreifen, die sich auch in Politisierungs- und Kulturalisierungsprozessen zeigen könne. Werner Plumpe hingegen betonte, dass sich der Strukturwandel seit den 1970er-Jahren zwar oberflächlich als „Ökonomisierung“ deuten ließe, bei genauerem Hinsehen allerdings andere Prozesse (wie die Kommodifizierung oder die funktionale Differenzierung, die eher einer Ent-Ökonomisierung entsprochen habe) analytisch bedeutsamer seien. Alle Diskutant/innen lehnten den Begriff der Ökonomisierung einhellig als Analysekategorie ab, sahen allerdings Potentiale in der Untersuchung des dahinterliegenden Diskursphänomens.

Die dritte Sektion warf Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Globalisierungs- und Ökonomisierungsprozessen auf. ANDRÉ STEINER (Potsdam) zeigte anhand einiger Fallbeispiele (etwa Carl Zeiss), dass Globalisierungserfahrungen Unternehmen nicht notwendigerweise zu Ökonomisierungsprozessen zwingen. Umgekehrt zeitige zunehmende Ökonomisierung nicht unbedingt mehr grenzüberschreitendes unternehmerisches Engagement, sondern könne sich auch gegenteilig äußern. Unter „Ökonomisierung“ verstand Steiner dabei mit Blick auf die Neue Institutionen-Ökonomie Strategien der Vermarktlichung steigender Transaktionskosten, etwa durch Outsourcing oder Schließung von Unternehmensteilen. BENJAMIN MÖCKEL (Köln) beschäftigte sich mit dem Wechselspiel von Marktkritik und Marktaffirmation innerhalb der fair-trade-Bewegung im Spannungsfeld von „Ökonomisierung und Responsibilization“ seit den 1980er-Jahren. Fairer Handel sei dabei von den zentralen Akteuren nicht als karikativer Prozess, sondern durchaus als Vorbereitung für den Wettbewerb auf globalen Märkten konzeptualisiert worden. Das vorherrschende Narrativ könne als eine „Ökonomisierung des Moralischen“ (Birger Priddat) bezeichnet werden. Möckel schlug vor, das Konzept der Ökonomisierung einerseits als zu historisierendes Diskursfeld zu betrachten und andererseits für die Analyse von „Konsumentenmacht und Moral“ nutzbar zu machen.

Im nachfolgenden Panel beschäftige sich zunächst ALINA MARKTANNER (Köln) mit dem Einsatz von Unternehmensberatern in der westdeutschen Verwaltung. Sie ging dabei von der These aus, dass deren Engagement gewisse Ökonomisierungsprozesse indiziert habe, die seit den 1960er-Jahren einem tiefgreifenden Wandel unterworfen gewesen seien. Während Berater in der Verwaltungssphäre zunächst als Dienstleister – etwa für die Optimierung interner Prozessabläufe – eingesetzt wurden, wurden ihre Gutachten in Zeiten staatlicher Sparsamkeitserwartungen ab den 1980er-Jahren zunehmend zur argumentativen Ressource für Politiker gegenüber einer kritischen Öffentlichkeit. MARCUS BÖICK (Bochum) fokussierte am Beispiel des privaten Sicherheitsgewerbes auf die Frage nach einer „Privatisierung öffentlicher Sicherheitsaufgaben“ seit den 1970er-Jahren und rückte langfristige Wandlungsprozesse von nichtstaatlicher bzw. privatwirtschaftlicher Sicherheitsproduktion und -konsumption im 20. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Intensive Aushandlungsprozesse zwischen den Sphären von Politik, Öffentlichkeit, Gesellschaft und Unternehmen hätten sich um die Frage nach „Sicherheit als Dienstleistung“ gedreht, während sich parallel ein neuartiger „Sicherheitsmarkt“ etabliert habe. „Ökonomisierung“ könne in diesem Fall als Leitperspektive zur Analyse verschiedenartiger Kooperationen und Kongruenzen von Staatlichkeit und Sicherheitswirtschaft fungieren.

Das fünfte Panel fragte nach einer „Ökonomisierung des Privaten“ und wurde mit einem Vortrag von HANNAH AHLHEIM (Göttingen/Berlin) über die „Ökonomisierung des Schlafs“ im 20. Jahrhundert eingeleitet. Schlaf und Schlafforschung seien vielfach mit ökonomischen Aspekten verknüpft gewesen: In den 1920/30er-Jahren sei Schlaf fordistisch als im Gleichklang mit Schichtarbeit und industriellem Takt zu optimierendes Phänomen wahrgenommen worden. In den 1950er-Jahren wurde Schlaf schließlich als schützenswerte Ressource und Konsumgut konzipiert; gleichsam wurde das Individuum stärker in die Verantwortung für einen „gesunden Schlaf“ genommen. Bis in unsere Gegenwart habe ein intensiver Verwissenschaftlichungsprozess eingesetzt, der ein „hochspezifisches, gleichsam extrem popularisiertes Schlafwissen“ generiert habe, das vielfach von Rentabilitätsvorstellungen („Leistungsschlaf“) geprägt sei. CHRISTOPHER NEUMAIER (Potsdam) widmete sich anschließend dem „Preis der Familie“ und der Ökonomisierung sozialer Beziehungen im Rahmen einer historiographischen Analyse ökonomischer Erklärungsmodelle für soziales Handeln in Familien (new home economics), wie sie der US-Wirtschaftswissenschaftler Gary Becker in den 1980er-Jahren entwickelt hatte. Neumaier betonte, dass der Erfolg mathematischer Erklärungsmodelle in ihrer scheinbar objektiven Erklärung sozialer Zusammenhänge liege, diese aber freilich nicht prädiskursiv zu verstehen seien. Vielmehr könnten sie als theoretische Herrschafts- und Ordnungsinstrumente, aber auch als Sozialtechnologien begriffen werden.

In der Sektion „Gesundheit und soziale Arbeit“ widmete sich NICOLE KRAMER (Frankfurt am Main) den Ökonomisierungsdynamiken in der Sorgearbeit und innerhalb sozialer Dienste, die sie als konkrete Folgen des massiven Ausbaus und der weitreichenden Strukturveränderungen im Wohlfahrtssektor in den 1970er-Jahren beschrieb. Seit Ende der 1960er-Jahre sei in der Sozialpolitik zunehmend ein Ausgreifen der Ökonomie auf Gesundheitsfragen festzustellen. Entgegen der heutigen Verfallsnarrative hätten sich diese Vorgänge jedoch nicht in reinen Rationalitätserwägungen erschöpft, sondern auch die soziale Leistungssteigerung berücksichtigt und somit zur Verbesserung von Lebensbedingungen geführt. Erst in den 1990er-Jahren sei die Heimpflege als lukratives Marktsegment auch durch private Anbieter erschlossen worden. MARTIN LENGWILER (Basel) nahm in vergleichender Perspektive die Reformprozesse der Krankenversicherungssysteme in der Schweiz und in Großbritannien seit den 1980er-Jahren in den Blick. In einem Spannungsverhältnis von „managerialism“ und „consumerism“ sei in beiden Fällen – mit Zeitverzögerung – einerseits ein wachsender privater Gesundheitsmarkt entstanden; andererseits hätten sich die Akteurslogiken im öffentlichen Gesundheitswesen verändert und angepasst. Die Übernahme ökonomischer Semantiken sollte nicht gleich als Adaption neuer Nenn- oder Leitwerte im Gesundheitswesen verstanden, sondern auch in ihrer symbolpolitischen Wirkung betrachtet werden.

Im mit „Kunst und Kommerz“ überschriebenen siebten Panel warf MICHAEL HUTTER (Berlin) aus systemtheoretischer Perspektive ein Schlaglicht auf den „Aufstieg des ästhetischen Kapitalismus“ und fragte nach den verflochtenen Prozessen einer Ökonomisierung in ästhetischen und einer Ästhetisierung in ökonomischen „Spielen“. Spiele konstituierten letztlich eigene Sinnwelten und Ökonomien nach je eigenen Wertmaßstäben und Spielregeln, in welche die jeweiligen Spieler integriert seien. Eine Ökonomisierung des Ästhetischen äußere sich dann etwa in der wirtschaftlichen Wertmessung von Kunst (z. B. durch Auktionen), während eine Ästhetisierung ökonomischer Spiele beispielsweise in der ästhetischen Aufladung von Gebrauchsgütern durchscheine. Mit einem per se kommerziellen Feld beschäftigte sich KLAUS NATHAUS (Oslo), der Kritik und Praxis der Ökonomisierung in der Popmusik seit der „Massenkulturära“ analysierte. Während schon Adorno und Horkheimer in der modernen „Massenkultur“ die Logik der (Musik-)Kultur durch den Einfluss der ökonomischen Sphäre bedroht sahen, hätten sich mit dem Aufkommen der Rockmusik in der Musikindustrie neue Verwertungsmöglichkeiten zwischen „Authentizität“ und „Kommerz“ etabliert. Dieser Prozess sei einhergegangen mit einer Reformulierung feldspezifischer Werte, wobei Musik, die sich von der Massenkultur distanzierte und auf ihre Autonomie beharrte, sich nunmehr wiederum selbst als besonders einträglich erwies. Im gegenwärtigen, „Blockbuster“-orientierten Musikbusiness hingegen ginge eine Gewinnkonzentration auf wenige Akteure mit einer Vielfalt und Optionssteigerung der Kunstprodukte für die Kunden einher. Nathaus resümierte, dass Feldautonomien nicht unbedingt durch den Allokationsmechanismus „Markt“ bedroht werden müssen, sondern selbst zum Geschäftsmodell avancieren können.

Die vorletzte Sektion widmete sich den „Eigenlogiken und Ökonomien von Sport und Wissenschaft“. DÉSIRÉE SCHAUZ (Göttingen) zeichnete mit Blick auf die Science and Technology Studies (STS) die intensiven Debatten um eine Ökonomisierung der Wissenschaft seit den 1990er-Jahren nach, die sich zwischen den beiden Polen einer „Krisenerzählung“ sowie der „Betonung des ökonomischen Werts von Wissenschaft“ entsponnen hätten. Während bereits in den späten 1960er-Jahren ein „Ausverkauf“ moniert worden sei, hätten die Ökonomisierungsdebatten der 1990er-Jahre vor allem durch die „Diskursereignisse“ der Bologona-Reform oder der Exzellenzinitiative an Fahrt aufgenommen. Der Gefährdungsdiskurs sei vor allem in den Geisteswissenschaften geführt worden, die einerseits einen Bedeutungsverlust fürchteten, gleichermaßen aber auch die Freiheit wissenschaftlichen Arbeitens bedroht sahen. Dennoch stand Schauz der „Ökonomisierung“ als Analysekategorie skeptisch gegenüber: Dieser „Protestbegriff“ trage nicht langfristig, weil er ältere, „hausgemachte“ Probleme des Wissenschaftsbetriebs verdecke. CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Marburg) zeichnete den deutschen „sportlichen Sonderweg“ von der „Amateurisierung“ zurück zum „Normalfall der Entamateurisierung“ im (professionellen) Sport nach und beleuchtete dabei die zentrale Rolle von kommerziellen Sportartikelherstellern. Der deutsche Amateurstatus sei dabei als zu Beginn des 20. Jahrhunderts „künstlich geschaffene Autonomiesphäre“ zu begreifen, die vor allem auf den einflussreichen Sportfunktionär Carl Diehm zurückreiche, der „Leibesübungen“ als „Kulturgut und Selbstzweck“ konzipierte, die „Eigenwelt des Sports“ bemühte und den Berufssport als „Amateurbetrug“ brandmarkte. Sukzessive hätten Sportartikelhersteller über direkte Kontakte zur Sportpolitik und auch das individuelle Sponsoring von Sportlern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zahlreiche Einfallstore zur Kommerzialisierung aufgestoßen. Sie hätten damit als „Motor der Entamateurisierung“ fungiert und das „lange Ende“ dieses „Sonderwegs“ eingeläutet.

Im abschließenden Panel wurden Fragen nach einer „Ökonomisierung der Umwelt“ aufgeworfen. NICOLAI HANNIG (München) richtete seinen Blick auf die Praxisebene der „Techniken der Ökonomisierung“ und spürte der Entstehung eines „Risikokalkulationsmarktes“ bzw. der Kalkulation von Naturkatastrophen durch große Rückversicherer im 20. Jahrhundert nach. Vor dem Hintergrund (potentiell) großer Schadenssummen hätten sich entgegen eines naturalistischen Verständnisses von Umweltkatastrophen unterschiedliche Formen staatlichen wie privatwirtschaftlichen Unsicherheitsmanagements herausgebildet. Die Assekuranz habe Naturkatastrophen zunehmend als „größtes Risikoforschungsfeld“ perzipiert. Ökonomisierung habe dabei eine „Verdatung“ von Risiken für die Debatte zwischen Versicherungen und Regierungen gemeint. Seit den 1970er-Jahren hätten schließlich auch Experten aus der Geo-Risikoforschung ihre Expertise als Dienstleistung für die Versicherungsbranche angeboten. Insgesamt hätten diese Prozesse dazu beigetragen, das „allgemeine (gesellschaftliche wie politische) Unwohlsein“ gegenüber der Versicherung von Umweltrisiken in ihr Gegenteil zu verkehren. Schließlich widmete sich RÜDIGER GRAF in vergleichender Perspektive der Ökonomisierung des Umweltverhaltens in den USA und Deutschland seit den 1970er-Jahren. Die Regulierung der Umwelt als sich neu konstituierendes Politikfeld sei dabei von konkurrierenden Expertengruppen beeinflusst worden. Graf konzentrierte sich in seinem Vortrag vor allem auf die Rolle der Ökonomen, die sich durch ihr Analyseinstrumentarium als „prädestinierte Problemlöser“ verstanden hätten. Dieser Hegemonieanspruch war einerseits mit einem kräftigen Bedeutungsgewinn ökonomischer Steuerungstechniken in diesem Politikfeld verbunden. Gleichermaßen sei aber auch die Frage nach „Markt und Moral“ aufgeworfen worden. Ökonomische Prinzipien standen dabei nicht im Gegensatz zu moralischen Appellen; vielmehr folgte die konkrete Implementierung bestimmter Steuerungsansätze wiederum selbst moralischen Wertüberzeugungen.

Gab es also eine Ökonomisierung – und wenn ja, wie viele? Oder handelt es sich vielmehr um ein inzwischen reichlich abgegriffenes Buzzword der Gegenwartspublizistik, das besser aus dem analytischen Werkzeugkoffer der Zeitgeschichte verschwinden sollte? Trotz oder gerade wegen der radikalen Infragestellung der im Rahmen der Potsdamer Konferenz intensiv abgeklopften Kategorien lieferte die Tagung auch in ihrer Perspektivenvielfalt einen wichtigen Impuls zum Verständnis vergangener und gegenwärtiger Debatten über die vielgestaltigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungsprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Es bleibt zu hoffen, dass diese „kreative Zerstörung“ weitere Forschung in diesem Bereich anstoßen wird, hat die Veranstaltung doch im besten Sinne mehr Fragen als Antworten aufgeworfen. In allen Vorträgen wurden auf hohem Niveau Risiken und Nebenwirkungen, gleichermaßen aber auch die Potentiale einer weiteren Auseinandersetzung mit Begriff und Praxis der „Ökonomisierung“ in der Zeitgeschichte aufgezeigt. Und möglicherweise bedeutet die nun erfolgende zeit-historiographische Behandlung des Themas ja auch, dass wir inzwischen Zeitzeugen eines weiteren Paradigmenwechsels werden – auf dem Weg in eine Epoche nach dem Primat der Ökonomie?

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Rüdiger Graf (Potsdam)

Ökonomisierung in soziologischer und rechtswissenschaftlicher Perspektive
Moderation: André Steiner (Potsdam)

Ute Volkmann (Bremen): Ökonomisierung des Nicht-Ökonomischen: ein differenzierungstheoretischer Bezugsrahmen

Louis Pahlow (Frankfurt am Main): Diskurse und Strategien einer Ökonomisierung des Rechts

Ökonomisierung und historische Begriffsalternativen
Moderation: Martin Sabrow (Potsdam)

Roman Köster (Freiburg): Die Ökonomisierung aller Dinge? Der Topos der Kommerzialisierung in der Kapitalismuskritik des 20. Jahrhunderts

Ralf Ahrens (Potsdam): Von der Hierarchie zum Handel? Vermarktlichung als historische Forschungsperspektive

Laura Rischbieter (Konstanz): Finanzialisierung und Ökonomisierung. Alter Wein in neuen Schläuchen?

Öffentliche Abenddiskussion: Gab es eine Ökonomisierung und woran erkennt man sie?
Moderation: Rüdiger Graf (Potsdam)

Gabriele Metzler (Berlin)
Armin Nassehi (München)
Werner Plumpe (Frankfurt am Main)

Globalisierung als Ökonomisierung?
Moderation: Christopher Neumaier (Potsdam)

André Steiner (Potsdam): Wirtschaftliche Globalisierung = Ökonomisierung der Unternehmen?

Benjamin Möckel (Köln): Das Private ist global? Der „faire Handel“ im Kontext von Ökonomisierung und Responsibilization

Die Ökonomisierung des Staates
Moderation: Christopher Neumaier (Potsdam)

Alina Marktanner (Köln): Ökonomisierung als „gesunder Menschenverstand“. Unternehmensberater in der (west-)deutschen Verwaltung, 1970er bis 2000er Jahre

Marcus Böick (Bochum): Ökonomisierung des Gewaltmonopols? Die Sicherheitswirtschaft und die Privatisierung öffentlicher Sicherheitsaufgaben seit den 1970er-Jahren

Eine Ökonomisierung des Privaten?
Moderation: André Steiner (Potsdam)

Hannah Ahlheim (Göttingen/Berlin): Timing, Tablette und Powernap: Die Ökonomisierung des Schlafs im 20. Jahrhundert

Christopher Neumaier (Potsdam): Der Preis der Familie: die Ökonomisierung sozialer Beziehungen?

Gesundheit und Soziale Arbeit
Moderation: Alexander Nützenadel (Berlin)

Nicole Kramer (Frankfurt): Ökonomisierung unter Vorbehalt. Quasi-Märkte, Sorgearbeit und die Reform sozialer Dienste

Martin Lengwiler (Basel): Versicherungen und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens

Kunst und Kommerz
Moderation: Hannah Ahlheim (Göttingen/Berlin)

Michael Hutter (Berlin): Ökonomisierung der Kunst? Ein systemtheoretischer Beitrag

Klaus Nathaus (Oslo): Das einträgliche Unbehagen in der Massenkultur. Zur Ökonomisierung der Populärmusik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Eigenlogik und Ökonomie von Sport und Wissenschaft
Moderation: Ralf Ahrens (Potsdam)

Désirée Schauz (Göttingen): Ökonomisierung der Wissenschaft. Eine Herausforderung des kritischen Programms der Wissenschaftsforschung

Christian Kleinschmidt (Marburg): Sportlicher Sonderweg. Von der „Eigenwelt“ der Leibesübungen zur globalen „Kommerzialisierung“

Die Ökonomisierung der Umwelt
Moderation: Ralf Ahrens (Potsdam)

Nicolai Hannig (München): Gefahren berechnen. Versicherungen und die Kalkulation von Naturkatastrophen

Rüdiger Graf (Potsdam): Markt und Moral. Die Ökonomisierung des Umweltverhaltens seit den 1970er Jahren