Bewegte Gruppen im Transit- und (Zwangs-)Migrationsraum Mitteldeutschland, 1945-1949. Besatzungsgeschichte, Fremdheitserfahrungen, Lager- und Lebenswelten

Bewegte Gruppen im Transit- und (Zwangs-)Migrationsraum Mitteldeutschland, 1945-1949. Besatzungsgeschichte, Fremdheitserfahrungen, Lager- und Lebenswelten

Organisatoren
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden; Historisches Seminar, Universität Erfurt; Historisches Seminar, Universität Siegen
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.10.2017 - 21.10.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Juliane Wenke, Historisches Seminar, Universität Erfurt; René Bienert, Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)

Der Workshop hatte das Ziel einer gemeinsamen Evaluierung für ein Forschungsprojekt, welches derzeit an der Professur für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik an der Universität Erfurt (Christiane Kuller) in Zusammenarbeit mit der Professur für Europäische Zeitgeschichte nach 1945 an der Universität Siegen (Claudia Kraft, seit März 2018 Professur für Zeitgeschichte: Kulturgeschichte, Wissens- und Geschlechtergeschichte am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien) durch die vier Historiker/innen Juliane Wenke, Nora Michalski, René Bienert und Jens Schley vorbereitet wird. Hierbei standen im Mittelpunkt das Ausloten von Forschungslücken, die Formulierung innovativer Fragestellungen, der Abgleich und die Zusammenführung unterschiedlicher Forschungstraditionen bzw. Wissensbestände.

Zur Idee des Forschungsprojektes: Anders als für die Besatzungsgebiete der späteren Bundesrepublik, wo sowohl die Geschichte der dortigen Displaced Persons als auch die der Flüchtlinge und Vertriebenen nach 1945 inzwischen als gut erforscht und dokumentiert gelten kann, blieb in der DDR und auch nach 1990 eine wissenschaftliche und erinnerungskulturelle Beschäftigung mit diesen Themen – geschweige denn eine Zusammenschau der verschiedenen 'Gruppen' – für Mitteldeutschland und die spätere Sowjetische Besatzungszone (SBZ) weitgehend aus. An dieser Stelle setzt das Forschungsprojekt an.

Der Idee eines evaluativen, das Projekt weiter vorbereitenden Arbeitstreffens entsprechend wurden zum Workshop gezielt Experten/innen sowie Gäste eingeladen, die mit ihren eigenen Forschungen Impulse für das Thema setzen oder Teilthemen ebenfalls im Blick ihrer Forschungen haben. Der Workshop strukturierte sich entlang einzelner Hauptaspekte sowie Leitfragen des geplanten Projekts in fünf Panels und sollte Raum zu ausführlicher Diskussion bieten. Ziel war es, die einzelnen Zugänge zum Thema zu schärfen, in den Kontext aktueller Forschungsfragen der Migrations- und Besatzungsgeschichte zu stellen und gleichzeitig neue Perspektiven zu den geschilderten Aspekten der Nachkriegsgeschichte zu eröffnen. Ein ausführlicher inhaltlicher Leitfaden diente den Teilnehmern/innen zur Vorbereitung und Fokussierung auf die inhaltlichen Schwerpunkte und Forschungsfragen sowie auf Fragen zur Methodik. Dies ermöglichte einen direkten Einstieg in die Diskussion.

Nach einer Begrüßung durch den Direktor des HAIT, Thomas Lindenberger, und einer kurzen Einführung folgte mit Panel I der Einstieg in das Vorhaben und seine Grundlagen. Schon nach den ersten Beiträgen entwickelte sich rasch eine intensive und fruchtbare Diskussion zum aktuellen Stand der Forschung in Migrations- und Besatzungsgeschichte, aber auch zu den aus dem Workshoptitel resultierenden grundsätzlichen Fragestellungen nach den Akteuren und deren Agency sowie zu konkreten (Zeit-)Räumen. Dabei kam man schnell überein, dass ein innovatives Potential des Projekts im Zusammendenken der unterschiedlichen Forschungsfelder (NS-Forschung; Besatzungsforschung; DP-Forschung; Vertriebenenforschung) besteht, welche üblicherweise nicht nur aufgrund der Zäsur von 1945 noch immer getrennt behandelt, sondern auch bisher meist methodisch unterschiedlich untersucht werden. Dementsprechend gilt es für das Projekt, Fragestellungen und Zugänge zu entwickeln, welche diese Zusammenschau ermöglichen.

In Panel II wurden die verschiedenen "Bewegten Gruppen" sowie Einheimische und Besatzer als Akteure in den Blick genommen und in Bezug auf Migrationsphänomene des Untersuchungszeitraumes diskutiert. Anders als in der bisherigen Forschung üblich, sollen diese im Projekt weder einzeln oder isoliert noch als bloß passive Adressaten bspw. von Hilfs- oder Abwehrhandeln betrachtet, sondern in ihrem Zusammenwirken untersucht und dabei in ihrer jeweiligen Agency, ihren Interessen und Handlungsräumen ernst genommen werden. In der Diskussion wurde dieser Ansatz durchaus bekräftigt, jedoch auch daran erinnert, dass dabei auf die unterschiedlichen Begriffe (und damit verbundenen Konzepte) von "Gruppe" und handelnden Individuen zu achten ist. Im Ergebnis wurde zudem festgehalten, dass insbesondere die Untersuchung der Entstehung von Gruppen und -zugehörigkeiten zwischen Selbst- und Fremdbezeichnungen vielversprechend sein kann. Denn die Konstituierung von Gruppen ist einerseits ein Akt von außen durch (häufig diskriminierende) Bezeichnungen und Zuschreibungen, vielfach auch durch rechtliche Kategorien; es ist andererseits aber auch ein Selbst-Aneignen durch selbstermächtigende Praktiken innerhalb der Handlungsräume der Akteure. Um das doppelte Wirken von Selbst- und Fremdbezeichnungen genauer nachzuzeichnen, erscheint es sinnvoll, sich die Entwicklung von Gruppen konkret auf der Mikroebene anzuschauen: Wie zeigt sich bspw. die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeit mit Blick auf die jeweilige Versorgung(-ssituation)?

Im Panel III standen Beispiele für die Überlieferungssituation und Quellenlage zu Projektteilbereichen sowie entsprechende Zugänge und Potentiale im Zentrum: Obwohl sich die das Kriegsende prägende politische Zäsur oftmals auch in der Überlieferungssituation widerspiegelt, so erlauben doch bestimmte Quellengruppen durchaus eine zäsurübergreifende Betrachtung – etwa bei der Versorgungssituation –, und ermöglichen so die Untersuchung von Wandel und (zäsurüberdauernden) Kontinuitäten bzw. das Nachzeichnen von Zäsuren jenseits der großen politischen Daten. Vor allem wurde auch angesichts der (teils disparaten) Quellen(-lage) noch einmal deutlich, dass und wie bereits das Ordnungssystem der Überlieferung und die Materialarten selbst dazu beitragen, dass Gruppen "gemacht" bzw. gar verfestigt werden, aber auch, wie diese als historische Phänomene heute noch sichtbar werden können. Die enorme Vielfalt der Quellenarten und der damit verbundenen Zugänge stellt aber zugleich auch einen besonderen Mehrwert des geplanten Projekts dar.

Nach dem Blick auf Grundlagen, Akteure und Quellen standen in Panel IV am zweiten Tag zunächst raumbezogene Faktoren und Zugänge im Fokus. Auf der Mikroebene wurden dabei zunächst vor allem die Lager als mehr oder weniger klar begrenzte, geographische und soziale Räume in den Blick genommen. Abgesehen davon, dass Lager (und campscapes bzw. Lagerwelten) in ihrer Prozesshaftigkeit nicht nur in der (unmittelbaren) Nachkriegszeit eine bestimmende Existenzform darstellten, können sie mit Blick auf das Projektthema vor allem als Ordnungsversuche von Migration und ihren Folgen begriffen werden, als Brennpunkte im Rahmen von Migrationsprozessen. Gleichzeitig kommt dabei aber auch den Alltagspraktiken sowie den Aneignungsprozessen der Akteure eine wichtige Rolle zu, welche Räume nicht nur entstehen lassen, sondern selbst wiederum von eigenen Raumvorstellungen geprägt werden. Daher gilt es, die Prozesshaftigkeit von Räumen zu berücksichtigen und diesen nicht als festen „Container“ zu begreifen. Gleiches gilt für die im Untersuchungsgebiet vielfach veränderten und dynamischen Grenzen, werden diese doch ebenso durch Akteure etabliert, verändert, imaginiert oder negiert. Dies bezieht sich sowohl auf die verschiedenen Untersuchungsebenen von Lagern, etwa nach deren unterschiedlichen Arten und -funktionen, aber auch auf einer darüber hinausgehenden Ebene wie etwa beim Blick auf Lage und Umgebung (Zentrum vs. Peripherie, Grenz- bzw. angrenzende Gebiete) und Zuschreibungen (Selbst- und Fremdwahrnehmungen).

Im abschließenden Panel V ging es darum, im Projekt im Sinne eines „Public-History“-Ansatzes auch die Potentiale des Themas für einen Dialog zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu reflektieren. Die Diskussion erbrachte drei miteinander korrespondierende Dimensionen: 1. Projektbegleitende und möglichst laufende Präsentation von Ergebnissen, vor allem online (bspw. Blog, Website). 2. sollen – unter Einbeziehung von Geschichtswerkstätten, Geschichtsvereinen – Formate vor Ort gefunden werden, welche die Ergebnisse ortsbezogen präsentieren, an die dortige Erinnerungskultur "anknüpfen" und Ausstellungen, Diskussionsveranstaltungen, Rundgänge etc. realisieren können. 3. sollen Rückkopplungen vor Ort mit wissenschaftlichen Zugängen etabliert werden, bspw. durch Formate der Citizen-Science, welche einen ernsthaften Dialog zwischen gesellschaftlichen Prozessen, erinnerungskultureller Arbeit und wissenschaftlicher Forschung erlauben. Für diesen partizipativen Prozess sollen Strukturen erprobt werden, die auch aktuelle gesellschaftliche Fragen zum gegenwärtig hochbrisanten Themenfeld Migration adressieren.

In der Abschlussdiskussion wurde nochmals unterstrichen, dass das Gesamtprojekt in mehreren Teilprojekten realisiert werden sollte, bspw. mit Fokus auf verschiedene Mikroräume (Betrieb, Lager, Grenzraum usw.), die aber jeweils in größere Raumeinheiten eingebunden und als von diesen beeinflusst zu denken sind. Die Zäsur von 1945 ist im Workshop kritisch diskutiert worden, eine Erweiterung des Untersuchungszeitraumes in die NS-Zeit hinein erlaubt stattdessen, die Zugänge zu den vielfältigen Einflussfaktoren differenzierter aufnehmen können. Der Untersuchungsraum 'Mitteldeutschland' blieb in seiner Begrifflichkeit ebenfalls umstritten, eine Alternative zur Benennung des spezifischen Untersuchungsgegenstandes als Transit- und Migrationsraum (zwangs-)bewegter Gruppen steht jedoch noch aus. Nochmals betont wurde auch, dass eine Etablierung von 'Ordnungen' innerhalb eines konkreten Raumes wie z.B. Lager immer zeitlich begrenzt und prozessual ist, dass „Ordnungen“ nicht nur von der Politik und Verwaltung imaginiert und vorgegeben, sondern durch Akteurshandeln gemacht und angepasst oder auch verworfen werden. Eine Hauptaufgabe des Projektes wird somit auch sein, zu überprüfen, in welche Gruppenbildungsprozesse die Akteure des kriegsbedingten Migrationsgeschehens eingebunden waren und sich diese aneigneten - oder auch nicht. Zudem gilt es die jeweiligen Gruppen-Begriffe in ihrer konkreten und vielfältigen Bedeutung und Anwendung sorgfältig zu betrachten.

Der evaluative Charakter des Workshops erwies sich für die hier skizzierten Fragen als sehr produktiv und die dichten sowie sehr konstruktiven Diskussionen gaben wichtige Impulse. Nachdem nicht nur im Zuge des Workshops zahlreiche Institutionen ihr Interesse am weiteren Fortgang des Projekts sowie eventueller Zusammenarbeit bekundet haben, werden derzeit weitere Kooperationsmöglichkeiten ausgelotet und die Entwicklung der künftigen Projektstruktur vorangetrieben.

Konferenzübersicht:

Panel I - Ordnung(en) im Chaos - Migrations- und Besatzungsgeschichte Mitteldeutschlands 1945

Philipp Ther (Wien): Verbindung von Migrations- und Besatzungsgeschichte

Stefan Donth (Berlin): Besatzungsgeschichte Mitteldeutschlands im Kontext von Migrationsbewegungen

Barbara Stelzl-Marx (Graz): Besatzungsgeschichte und Repatriierung nach 1945 in Österreich

Kommentar: Nora Blumberg (Leipzig)
Moderation: Mike Schmeitzner (Dresden)

Panel II - Bewegte Gruppen, Einheimische und Besatzer als Akteure – Handlungsräume, Interaktionen, Wahrnehmungen und Beziehungsgeflechte

Jannis Panagiotidis (Osnabrück): Zusammenwirken und Interaktion der beteiligten Gruppen im Bewegungsraum („doing Fremdheit“)

Michael Schwartz (Berlin) Beziehungsgeflechte zwischen bewegten Gruppen und Umgebungsgesellschaft am Beispiel von Flüchtlingen nach 1945 (Beitrag entfiel)

Birgit Glorius (Chemnitz): Interdisziplinärer Ansatz - Humangeographie und Migration

Kommentar: Juliane Wenke (Erfurt / Eisenach)
Moderation: Claudia Kraft (Siegen)

Panel III - Quellen zur Besatzungs- und Migrationsgeschichte im regionalen Raum – Zugänge und Potentiale

Frank Boblenz (Weimar): Die mitteldeutschen Archive und ihre Potentiale für Besatzungs- und Migrationsgeschichte und relevante Quellengruppen

Henning Borggräfe (Bad Arolsen): Nachkriegsdokumente von Displaced Persons - Die Unterlagen des ITS - Bad Arolsen

Beate Berger (Leipzig): Kommunale Akten - Das Spezialinventar zur Zwangsarbeit im Stadtarchiv Leipzig

Uta Bretschneider (Veßra): Lebensgeschichtliche Interviews und Zeugnisse - Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in Mitteldeutschland

Kommentar: Jens Schley (Weimar / Berlin)
Moderation: Clemens Vollnhals (Dresden)

Panel IV - Mitteldeutschland als Transit- und (Zwangs-)Migrationsraum? Zwischen ‚campscapes‘ und ‚people on the move‘ - Lager- und Lebenswelten von Menschen in Migration

Mathias Beer (Tübingen): Besatzungsgeschichte als Lagergeschichte

Iris Helbing (Meiningen): Der Mikrokosmos der Lager: Lager für polnische DP-Kinder in der britischen Besatzungszone (Beitrag entfiel)

Steffi Kaltenborn (Magdeburg): Historischer Raum – Lagerwelten von Flüchtlingen und Vertriebenen in Mitteldeutschland, 1945 – 1949

Kommentar: René Bienert (Wien)
Moderation: Christiane Kuller (Erfurt)

Panel V - Wie darstellen? – Zugänge der Public History zur Darstellung und Vermittlung von Migrations- und Besatzungsgeschichte

Jens Schley (Weimar / Berlin): Einführung I - Von der Musealisierung über die Inszenierung zur Vermittlung - Migrationsgeschichte vermitteln und darstellen

Stefanie Kuhn (Berlin): Einführung II - Migrationsgeschichte im Museum - Das Beispiel FHXB

Anja Neubert (Leipzig): History Apps und Augmented Reality - Migrationsgeschichte und Nachkriegsgeschichte digital (Beitrag entfiel)

Moderation: René Bienert (Wien)

Abschlussdiskussion: Noch ein Forschungsprojekt? oder Chancen für neue Zugänge zur Migrations- und Besatzungsgeschichte im regionalen Raum

Claudia Kraft (Siegen), Christiane Kuller (Erfurt), Mike Schmeitzner (Dresden), Clemens Vollnhals (Dresden)


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