Religion – Staat – Nation: Überlegungen zu einer Kirchen- und Religionsgeschichte der Slowakei im 20. Jahrhundert

Religion – Staat – Nation: Überlegungen zu einer Kirchen- und Religionsgeschichte der Slowakei im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Collegium Carolinum e.V., Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.02.2018 - 22.02.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Zora Piskačová, Collegium Carolinum Email:

Am Collegium Carolinum entsteht derzeit unter der Leitung von Martin Schulze Wessel und Martin Zückert ein „Handbuch der Kirchen- und Religionsgeschichte der Slowakei im 20. Jahrhundert“. Dazu fand in München ein erster Workshop statt, bei dem die zentralen Fragen des geplanten Überblickswerks diskutiert wurden. Wie Martin Zückert in seiner Begrüßung betonte, liegt das Ziel des Handbuches nicht allein darin, Wandel und Kontinuitäten in der kirchlichen und religiösen Entwicklung der Slowakei zu untersuchen. Es soll auch nach dem Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften sowie der Rolle von Religion und Kirchen in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext gefragt werden. Mit den Beziehungen zwischen Religion und Nation und der Interaktion von Religion und Staat sind zwei Themenschwerpunkte gesetzt, die für das gesamte 20. Jahrhundert in den Blick genommen werden sollen. Beim Workshop, der den Autoren/innen die Möglichkeit bot, „work in progress“ zu präsentieren und ihre Ideen in der Diskussion mit Kommentatoren/innen weiterzuentwickeln, lag der Schwerpunkt allerdings auf der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es ging also ausdrücklich nicht darum, das ganze Themenspektrum des Handbuchs abzudecken. Vielmehr sollten anhand von Fallbeispielen grundsätzliche Fragen diskutiert werden.

Dem Workshop vorangestellt war ein Abendvortrag von ROMAN HOLEC (Bratislava), der über die Rolle der Eliten in der Slowakei während des langen 19. Jahrhunderts und die Vielfältigkeit des Verhältnisses zwischen Kirchen und Staat sprach. Holec bezeichnete die katholische Kirche einerseits als Akteurin der Modernisierung, welche die slowakische bürgerliche Gesellschaft nachhaltig geprägt habe, indem sie sozialen Aufstieg ermöglichte. Auf der anderen Seite habe sie die Säkularisierung gebremst und als eine der Hauptstützen des Neoabsolutismus nach dem Vormärz gedient. In dieser Zeit erlebte die mehrheitlich katholische Slowakei zudem einen starken Zuwachs protestantischer Eliten, die sich insbesondere im öffentlichen und politischen Leben überproportional durchsetzten. Holec zufolge gerieten die zwei identitätsprägenden Konzepte Religion und Nation permanent miteinander in Widerstreit – ein Konflikt, der 1907 auch über die Region hinaus Aufsehen erregte als die Polizei im Dorf Černová in eine Gruppe slowakischer Demonstranten schoss, die gegen die Einweihung einer katholischen Kirche durch einen magyarischen Priester protestierten. Bei diesem Vorfall, der als „Tragödie von Černová“ bekannt wurde, kamen 15 Menschen ums Leben, viele wurden verletzt. Doch stärker als in den böhmischen Ländern sei es der slowakischen katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit gelungen, sich aus der Defensive zu befreien, in die sie nach dem Ende der Habsburgermonarchie geraten war, und zu einer Akteurin mit nationalem Charakter zu werden. Ihr Einfluss auf das Bürgertum ging jedoch zurück.

MARTIN ZÜCKERT (München) stellte allgemeine Überlegungen zum Religiösen in der Zeit des Nationalen vor. Er betonte, dass trotz der fortschreitenden Säkularisierung und des allgemeinen Übergangs von religiösen zu nationalen Deutungssystemen, die Kirchen in der Ersten Tschechoslowakischen Republik wichtige Akteurinnen blieben und sich um gesellschaftliche Präsenz bemühten. Dabei sei es nicht nur zu einer Sakralisierung der Nation gekommen, sondern auch zu einer Nationalisierung der Religion. Inwiefern dieses Phänomen eine Rolle bei der nationalen Mobilisierung spielte, ist eine wichtige Forschungsfrage des geplanten Handbuchprojekts. Zückert diskutierte eine Reihe zentraler Themen, wie beispielsweise die Überrepräsentation der Protestanten in der slowakischen Politik, ihr Verhältnis zu den Katholiken sowie die starke Konfessionsbindung in der slowakischen Politik. Die habe den östlichen Teil der Republik ebenso vom westlichem unterschieden, wie die Akzeptanz der neugegründeten Tschechoslowakischen Kirche, die in der Slowakei gering gewesen sei. Zückert wies zudem darauf hin, dass das Verhältnis zwischen konfessionellen Bindungen und nationalen Zugehörigkeiten hier nach dem Jahr 1945 relevant blieb. Dies habe zum Beispiel den Wandel der „konfessionellen Landschaft“ infolge der Zwangsumsiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg betroffen. Daher lohne es sich auch, die religiösen Dimensionen der Aussiedlung der Magyaren und Deutschen sowie die Reaktion der Kirchen auf diese zu untersuchen. Zugleich hätten nationale Positionen auch über das Territorium der Tschechoslowakei hinaus gewirkt, etwa beim Aufeinandertreffen tschechischer und slowakischer Bischöfe während des Zweiten Vatikanischen Konzils.

RÓBERT LETZ (Bratislava) gab einen grundlegenden Einblick in die Geschichte der römisch-katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit. In seiner (wegen Krankheit verlesenen) Präsentation, stellte er nicht nur die Neuorganisation der Kirche nach 1918 dar, sondern schilderte auch die zahlreichen und häufig national gedeuteten Antagonismen zwischen den slowakischen und den ungarischen Bischöfen. Schließlich setzte er sich mit den politischen Aktivitäten der katholischen Kirche auseinander und beschrieb unter anderem die Wiederbelebung der Slowakischen Volkspartei, die Kircheninteressen vertrat und sich für die Gründung von römisch-katholischen Gymnasien und den Bau neuer Kirchen einsetzte.

Die Frage danach, welche Rolle Religion oder Kirchen für die magyarische Minderheit in der Slowakei spielten, erörterte ATTILA SIMON (Komárno). Er konstatierte zwar zahlreiche Parallelen zwischen der magyarischen und der slowakischen Gesellschaft, charakterisierte aber auch die spezifischen Probleme der Magyaren in der Slowakei. Darunter nannte er zum einen die bis heute unerfüllte Forderung nach einer ungarischen Diözese. Zum anderen sei insbesondere die reformierte Kirche, die als magyarische Nationalkirche betrachtet wurde, mit dem tschechoslowakischen Staat in Konflikt geraten, weil der versucht habe, sie von Ungarn abzutrennen und die Kodifizierung ihrer Kirchenverfassung verweigerte. Von den anti-ungarischen Maßnahmen nach dem Zweiten Weltkrieg seien die Konfessionen der ungarischen Minderheit in der Slowakei in unterschiedlicher Weise betroffen gewesen: Während die katholischen und lutherischen Gläubigen sich mit Maßnahmen zur Slowakisierung konfrontiert gesehen hätten, habe die reformierte Kirche hauptsächlich wirtschaftliche Verluste zu verzeichnen gehabt, da sie als eine ungarisch-nationale Institution angesehen wurde. Simon gab abschließend einen Ausblick auf die kommunistische Tschechoslowakei, in der sich – anders als in der slowakischen katholischen wie evangelischen Kirche – kein nennenswerter magyarischer religiöser Dissens entwickelt habe. Unter den Themen, die noch weiter untersucht werden müssten, führte Simon schließlich die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in der Südslowakei und die Frage nach ihren ungarischen, jüdischen beziehungsweise tschechoslowakischen Identitäten an.

Das Bemühen der deutschen Protestanten in der Zwischenkriegszeit, eine eigenständige evangelische Kirche zu gründen, war zunächst gescheitert. Anders als im Fall der Magyaren änderte sich diese Situation allerdings Ende der 1930er-Jahre. Wie MICHAL SCHVARC (Bratislava/Wien) in seinem (ebenfalls verlesenen) Beitrag über die deutsche protestantische Minderheit in der Slowakei zeigte, entstand 1939 eine eigenständige deutsche evangelische Kirche, die ein kooperativer Partner der Nationalsozialisten war und finanzielle Zuwendungen aus dem Dritten Reich erhielt. Dementsprechend wurde sie nach Kriegsende verboten, ihr Besitz wurde verstaatlicht und die Geistlichen und Gläubigen wurden größtenteils des Landes verwiesen. Martin Zückert fügte dem hinzu, dass es jedoch auch deutsche evangelische Geistliche gegeben habe, die im Land bleiben wollten und hofften, sich den slowakischen Lutheranern anschließen zu können. Er sprach die Frage ihrer Integration sowie der geistlichen Betreuung der verbleibenden deutschen Minderheit an und betonte für die Zeit bis 1945, dass auch das Verhältnis zwischen den deutschen Protestanten und Katholiken und ihre nationale Ausrichtung im kirchlichen Rahmen näher betrachtet werden sollten.

Im Zentrum des Vortrags von ANNA BISCHOF (München) stand der Gustav-Adolf-Verein, der seit dem 19. Jahrhundert auch in der Slowakei tätig ist. Trotz des angeblich unpolitischen Charakters dieses evangelischen Förderwerks, das die Unterstützung evangelischer Gemeinden in mehrheitlich katholischen Gebieten zum Ziel hat, sei der Verein im Laufe der Zwischenkriegszeit dem allgemeinen Trend der deutschen evangelischen „Auslandsarbeit“ gefolgt und habe sich zunehmend der deutschen Diaspora gewidmet; vor allem sei er in der Zips aktiv gewesen. Zwar habe der Gustav-Adolf-Verein eine Rolle bei der deutschnationalen Mobilisierung gespielt und sich völkischer Rhetorik bedient, doch sei er weniger radikal aufgetreten, als etwa der „Verein bzw. Volksbund für das Deutschtum im Ausland“. Er habe versucht, seine Unabhängigkeit von Staat und Kirche zu erhalten. In bescheidenem Umfang förderte er auch slowakische und ungarische Gemeinden weiter. Dabei flossen die Hilfsgelder nicht nur aus Deutschland in die Slowakei, sondern in einigen Fällen auch in die umgekehrte Richtung: Als der Gustav-Adolf-Verein während der Wirtschaftskrise in den 1920er- Jahren beinahe zahlungsunfähig war, wurden in der Slowakei Gelder zu seiner Unterstützung gesammelt.

MILOSLAV SZABÓ (Bratislava) untersuchte das Verhältnis zwischen dem Slowakischen Staat und der katholischen Kirche während des Zweiten Weltkriegs. Dabei ging es einerseits um die Frage, inwiefern slowakische katholische Geistliche, die politische Ämter in dem – im Zuge der deutschen Ostexpansion – entstandenen Staat bekleideten, bereit waren, die nationalsozialistische Ideologie umzusetzen. Anderseits ging es um die Reaktion der katholischen Kirche und ihrer Vertreter auf die verschiedenen Beschränkungen, die der Slowakische Staat aufgrund seiner Verbindung zum NS-Regime einführte. Szabó veranschaulichte diese Problematik anhand der Phänomene Antisemitismus und Korporatismus. Seine Forschungsergebnisse deuteten an, dass sich die katholische Kirche in der Slowakei den Deportationen der Juden, ihrer formellen Distanzierung zum Trotz, praktisch nicht entgegenstellte. Dagegen hätten die Slowaken zunächst versucht, ihre Verfassungsreform aktiv und ohne Rücksicht auf ihre Bindung an das NS-Regime zu verwirklichen.

MICHALA LÔNČÍKOVÁ (Bratislava) setzte sich mit der Geschichte der Juden in der Slowakei zwischen 1938 und 1946 auseinander. Dabei ging sie einerseits auf die Politik der regierenden Hlinka-Partei gegenüber der jüdischen Bevölkerung ein. Für die Partei sei der 1941 beschlossene „Judenkodex“ handlungsleitend gewesen, der das Judentum als Rasse definierte und die völlige staatsbürgerliche Entrechtung der Juden in der Slowakei festschrieb. Andererseits befasste Lônčíková sich mit der komplizierten Frage nach jüdischer Identität in dieser Zeit. Sie zeigte, dass trotz der Zersplitterung der jüdischen Gemeinschaft in verschiedene Strömungen und Gruppen in der Situation der Verfolgung die ungewöhnliche Kooperation zwischen orthodoxen Juden und Zionisten zustande kam.

Der letzte Vortrag galt einem Fallbeispiel aus Südosteuropa. In diesem Exkurs stellte KLAUS BUCHENAU (Regensburg) das Verhältnis zwischen dem kroatischen Ustascha-Staate und der katholischen Kirche vor. Der Vergleich mit dem Slowakischen Staat zeige zahlreiche Parallelen, aber auch Unterschiede: In beiden Fällen habe eine klare ideologische Schnittmenge zwischen dem Regime und der katholischen Kirche existiert. Während in der Slowakei die Hlinka-Partei eine etablierte Massenbasis besaß und von einem Priester geführt wurde, kam es in Kroatien zwischen katholischen Geistlichen und der Ustascha erst nach deren Machtergreifung zu einer engeren Kooperation. Auch habe der Ustascha-Staat wesentlich aggressiver agiert als der Slowakische Staat. Sein blutiger Kampf gegen die orthodoxen Serben mit dem Ziel eines homogenen kroatischen Staates, sei parallel mit dem allgegenwärtigen Antisemitismus gelaufen und, so Buchenau, in eigener Regie durchgeführt worden. Dieses Thema ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund des heutigen serbischen Nationalismus, der sich stark gegen die katholische Kirche und kroatische Kriegsverbrechen richtet, höchst aktuell.

Die Schlusskommentare gaben noch einmal wichtige Impulse für die Arbeit am Handbuch. So wies KARL SCHWARZ (Wien) auf die Bedeutung der Ausbildung des geistlichen Nachwuchses und ihrer institutionellen Dimension in der Slowakei sowie die rechtshistorische Perspektive der Problematik hin. Klaus Buchenau warnte vor der Essentialisierung des slowakischen Raumes und betonte, dass man über die institutionelle Ebene der Religion auch auf die Mikroebene schauen solle. Unter anderem gelte es, den privaten Umgang etwa kommunistischer Politiker mit Religion zu untersuchen. Im Zusammenhang mit den von Buchenau angesprochenen zahlreichen konfessionellen Traditionen hob Martin Schulze Wessel die Auffassung der Slowakei als eine räumlich konstruierte religiöse Landschaft hervor und betonte, dass eine solche Darstellung die Rolle der einzelnen nationalen Gruppen effektiv veranschaulichen könne. Zusätzlich wurden auch die Bedeutung der Auslandsslowaken und mögliche Wege, wie man sie mithilfe der Analyse transnationaler Netzwerke thematisch in das Handbuch einbringen könnte, debattiert.

Der Workshop brachte nicht nur viele Anregungen für die Arbeit an den Texten, er verdeutlichte auch, wie wichtig eine überkonfessionelle, transnationale Betrachtungsweise, die ihre Analyseebenen jenseits der klassischen Kirchengeschichtsschreibung ansiedelt, für das Gelingen des Projekts ist. Dieser Ansatz wurde bereits beim „Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder“ gewählt, das 2009 am Collegium Carolinum erschien.1 Für die multikonfessionelle und multiethnische Slowakei, in der die entsprechenden Trennlinien noch schärfer gezogen sind und Religionsgeschichte bisher praktisch ausschließlich von und für die einzelnen Religionsgemeinschaften geschrieben wurde, ist er noch entscheidender.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag

Roman Holec (Bratislava): „Kirche – Staat – Nation“: Die slowakischen Eliten im langen 19. Jahrhundert

Begrüßung und Einführung

Martin Zückert (München): Kirchen und Religion in der Slowakei im 20. Jahrundert

Sektion I: Religion und Nation – ethnische Vielfalt und Einflüsse aus dem Ausland
Moderation: Roman Holec (Bratislava)

Martin Zückert (München): Das Religiöse in der Zeit des Nationalen – Überlegungen zur Slowakei im 20. Jahrhundert

Róbert Letz (Bratislava): Zur Geschichte der römisch-katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit

Attila Simon (Komárno): Die kirchliche und religiöse Bindung der Magyaren in der Slowakei – Spezifika und Probleme

Michael Schvarc (Bratislava/Wien): Die deutsche Minderheit und die Kirchen: Das Beispiel der Deutschen Evangelischen Landeskirche AB in der Slowakei 1939-1945

Anna Bischof (München): Konfessionelle vs. nationale Diasporahilfe? Aktivitäten des evangelischen Gustav-Adolf-Vereins in der Slowakei

Sektion II: Staat, Gesellschaft und Konfessionen im Zweiten Weltkrieg
Moderation: Ulrike Lunow (München)

Miloslav Szabó (Bratislava): Ein „christlicher Staat“? Die Slowakei 1939-1945

Michala Lônčíková (Bratislava): Between Religion and Race: Jewish Community in Slovakia (1938-1945)

Klaus Buchenau (Regensburg): Exkurs – Wie katholisch war der kroatische Ustascha-Staat (1941-1945)?

Kommentare und Abschlussdiskussion
Moderation: Anna Bischof (München)

Karl Schwarz (Wien)
Klaus Buchenau (Regensburg)

Anmerkung:
1 Martin Schulze Wessel / Martin Zückert (Hrsg.), Handbuch der Religions- und Kirchengeschichte der böhmischen Länder und Tschechiens im 20. Jahrhundert, München 2009.


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