Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und ‚Weltoffenheit‘. 3. Workshop des Netzwerks "Lutherische Orthodoxie revisited"

Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und ‚Weltoffenheit‘. 3. Workshop des Netzwerks "Lutherische Orthodoxie revisited"

Organisatoren
Netzwerk „Lutherische Orthodoxie _revisited_. Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und ‚Weltoffenheit‘
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.03.2018 - 09.03.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Tilman Pfuch, Forschungsprojekt "Das ernestinische Wittenberg (1486-1547)", Stiftung Leucorea Wittenberg

Das von der DFG geförderte und von Joar Haga (Stavanger / Oslo) und Sascha Salatowsky (Gotha) geleitete Netzwerk „Lutherische Orthodoxie revisited. Konfessionelle Muster zwischen Identitätsverpflichtung und ‚Weltoffenheit‘“ lud zu seinem dritten Workshop nach Leipzig ein, um unter dem Titel „Politik und Religion“ zu diskutieren, welche Auswirkungen die lutherische Konfessionalisierung auf die Politik hatte bzw. wie die politischen Verhältnisse die Gestalt der lutherischen Konfession bestimmte.

In seiner Begrüßung benannte SASCHA SALATOWSKY (Gotha) einige methodische Vorgaben für die Bearbeitung des Themenfeldes „Politik und Religion“, die für die Klärung der Frage, ob es überhaupt eine spezifisch „lutherische“ Politik im Sinne des Konfessionalisierungsparadigmas gegeben habe, relevant sein könnten: erstens die Berücksichtigung des Politikverständnisses der anderen Konfessionen, um vor diesem interkonfessionellen Hintergrund die möglichen Eigentümlichkeiten des Luthertums besser in den Blick zu bekommen; zweitens eine Binnendifferenzierung innerhalb des Luthertums, und zwar nicht nur im Blick auf die üblichen Einteilungen (Orthodoxie, Spiritualismus, Pietismus etc.), sondern auch und vor allem im Blick auf Territorien, Institutionen (Universitäten, Konsistorien), Berufsgruppen (Juristen, Theologen), Obrigkeit etc. sowie drittens die Einnahme einer europäischen Perspektive, um erkennen zu können, wie sich das Themenfeld „Politik und Religion“ in anderen staatlichen, politischen, sozialen und kulturellen Zusammenhängen verändert hat. Vierstens sollte eine breite Dokumentenbasis berücksichtigt werden, die neben Dogmatiken auch juristische Traktate, Fürstenspiegel, philosophische Abhandlungen, Konsistorialakten, Gutachten der juristischen und theologischen Fakultäten, Briefkorrespondenzen und Predigten einbezieht. In diesem Zusammenhang seien auch politisch-religiöse Utopien zu verhandeln. Insgesamt biete das Themenfeld „Politik und Religion“ die Möglichkeit, das Luthertum in seiner gesellschaftlich-politischen Ausrichtung als einer „Reformation des Lebens“ in den Blick zu bekommen.

Nach einem Grußwort des Generalsekretärs der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Christian Winter, wurden in der ersten Sektion zunächst zwei Texte kurz vorgestellt und dann gemeinsam diskutiert. Als erster stellte SASCHA SALATOWSKY (Gotha) die Disputation „De religione lutherana, disquisitio politica“ des Wittenberger Theologen Andreas David Carolus (1685 in Wittenberg gedruckt) vor. Die antijesuitische Thesenreihe habe zum Ziel gehabt, zu zeigen, dass das Luthertum keine staatsschädigende Religion sei. Die gemeinsame Arbeit an dem Text erbrachte, dass die Disputation als Auslegung von CA 16 bei aller situationsbedingten Obrigkeitsfreundlichkeit dennoch klare Grenzen für das Recht der Obrigkeit benenne, müsse diese sich doch an die Vorgaben des Wortes Gottes halten. Selbst in der gattungsbedingten apologetischen lutherischen Obrigkeitshörigkeit ließe sich also ein Kritikpotential der Konfession erkennen.

Anschließend brachte STEFAN MICHEL (Leipzig) einen Ausschnitt aus Veit Ludwig von Seckendorffs „Christen-Staat“ (1685) in die Diskussion ein. Dort findet sich eine deutliche Herrscherkritik bis zu der Frage hin formuliert, inwieweit ein Recht auf Widerstand gegen Tyrannen erlaubt sei. Damit war bereits vor dem Aufkommen des Pietismus ein Diskussionsstand erreicht, der auf die Möglichkeit einer guten Regentschaft abzielte. Diskutiert wurde unter anderem die Besonderheit Seckendorfs, Themen der Staatslehre erbaulich zu besprechen.

Der Abend wurde mit einem einem Referat JOHANNES TRÄGERS (Leipzig) beschlossen, der einen Ausschnitt seiner Forschungen zum Leipziger Konsistorium vorstellte. Träger brachte die Frage des Patronatsrechts als eines der zentralen Themen der Auseinandersetzungen zwischen den lutherischen Vertretern aus Politik und Religion am Ende des 16. Jahrhunderts in die Diskussion und griff damit – den zeitlichen Blickwinkel der vorherigen Einheiten erweiternd – eine Debatte zu Beginn des Zeitraums der Ausbildung der lutherischen Orthodoxie auf. Auf die Auseinandersetzungen zwischen Obrigkeit, Stadt- bzw. Bürgergemeinde und Geistlichkeit hinweisend, zeigte er, wie widerständig die lutherischen Theologen hinsichtlich der Vorgaben weltlicher Autoritäten sein konnten, insofern kirchliche Arbeitsfelder betroffen waren. Träger stellte dar, dass die Realisation des landesherrlichen Kirchenregiments ein konsensualer Aushandlungsprozess gewesen sei, der zum Schluss juristisch entschieden wurde. Grundlage dafür sei das Ineinandergehen von Recht und Religion im lutherischen Bekenntnis gewesen.

Am zweiten Tag griff ROBERT VON FRIEDEBURG (Lincoln) die Diskussion des Vortages auf und betonte die Rolle der Juristen bei der Etablierung einer ausdifferenzierten Staatsordnung. Sie hätten durch ihr Wirken den Fürsten als Person durch den Fürstenstaat ersetzt, womit der Staatsapparat – und nicht mehr der einzelne Herrscher – die Handlungsentscheidungen vollzogen habe. Nach einer Darstellung der Idee des guten Fürsten, wie sie sich in der Propagierung der – an Antike und Altes Testament anknüpfenden – Vorstellung der Einheit von Staat und Kultus gezeigt habe, illustrierte von Friedeburg, wie diese positive Haltung gegenüber dem Staat im Laufe des 30-jährigen Krieges zusammengebrochen sei. Dazu habe unter anderem die Neuentdeckung des staatskritischen Luther geführt. Durch diese Wahrnehmungsumwandlung seien die orthodoxen Lutheraner schließlich von den Fürsten als Gefahr wahrgenommen worden, wohingegen sich die Calixtinianer als staatstreu herausgestellt hätten. Damit, so von Friedeburg, seien speziell innerhalb der lutherischen Konfessionskultur vonstattengegangene Entwicklungen hinsichtlich des Verhältnisses von Politik und Religion auszumachen, die sich nicht im Katholizismus wiederfänden.

Im Anschluss stellte STEFFI SCHMIDT (Rostock) die Verbindungen der schwedischen Theologen zum deutschen Luthertum nach dem 30-Jährigen Krieg vor. Dabei demonstrierte sie, inwiefern sich der synkretistische Streit nach Schweden hin ausbreitete und welche Methoden die einzelnen Interessensträger anwandten. Nicht offizielle, sondern vor allem persönliche Kontakte seien entscheidend gewesen für die Positionierungen zu Beginn der Auseinandersetzungen. Für das Verhalten der schwedischen Kirche sei vor allem wichtig gewesen, sich von der theologischen Unterordnung unter die Wittenberger bzw. der Anerkenntnis des sächsischen Kurfürsten als Führer des Corpus Evangelicorum zu emanzipieren. Die Frage nach der Führungsmacht auf Seiten der Evangelischen innerhalb des Reiches, provoziert durch das weitgehende Engagement des Schwedenkönigs, im Grunde genommen also ein politischer Streit, sei somit durch theologische Kontroversen ausgetragen worden.

In die folgende zweite Sektion zur politischen Praxis führte THOMAS TÖPFER (Leipzig) ein: in seinem Quellenreferat stellte er die Frage nach der Geschichte der politischen Bildung im Luthertum und bearbeitete dazu die Handschrift „Methodus auf die politischen Sachen“. Diese, von Andreas Reyher, unter Ernst dem Frommen Rektor des Gothaer Gymnasiums, verfasste Schrift, stellt ein Kompendium der Wissensbestände dar, die im Gothaer Herzogtum einem Schulkind bekannt sein sollten. Der „Methodus“ war Vorlage für eine Druckschrift für den Unterricht der Schüler im Herzogtum Gotha. Diskutiert wurde, welche konfessionellen Voraussetzungen bedingten, dass solch umfassende Unterrichtsanleitungen nur in lutherischen Gebieten nachweisbar sind, wobei auch auf die teilweise mangelnde Quellenlage hingewiesen werden musste.

SIGRID WESTPHAL widmete sich (Osnabrück) dem Verhältnis von Politik in Religion in den lutherischen Gebieten des Reiches. Mit dem Ziel, noch einmal die verfassungsmäßigen Grundlagen zu erläutern, erinnerte sie daran, dass Herrschaft im Alten Reich ein konsensual-dynamischer Aushandlungsprozess gewesen sei, bei dem rechtlich-politische Lösungen durch kommunikatives Verhalten erarbeitet wurden. Westphal stellte dar, dass die Reformation hinsichtlich der Reichsverfassung als rechtlich-politisches Problem des ewigen Landfriedens von 1495 verstanden werden kann. Für das Alte Reich mit seiner Verzahnung von Reich und Territorien und dem Zweck, Frieden zu erhalten, sei die Reformation vor allem ein Sicherheitsproblem gewesen. Folgerichtig betonte Westphal den rechtlich-politischen Charakter des Religionsfriedens von 1555. Während die Lutheraner die Calvinisten theologisch ausgrenzten, hätten sie gegenüber Kaiser und Reich politische Einigkeit demonstriert. So sei der dreißigjährige Krieg in lutherischen Stellungnahmen als politischer Angriff auf CA-Verwandte eingeordnet worden. Diese Verschiebung der theologischen Wahrheitsfrage auf territoriale und juristische Aspekte sei allerdings gerade kein spezifisch lutherischer Aspekt, sondern mache auf die Besonderheit des Alten Reichs als Aushandlungsraum aufmerksam. Eine unverkennbar lutherische Besonderheit zu identifizieren, könne deshalb nur gelingen, wenn man sich noch stärker als bisher den verschiedenen Akteuren der lutherischen Konfessionalisierung auf unterschiedlicher Ebene, vor allem aber vor Ort, widme.

Wie sehr die Entstehung der Universität Jena als Zentrum der lutherischen Orthodoxie im Spannungsfeld zwischen universitärer Autonomie und fürstlichem Absolutismus stand, untersuchte DANIEL GEHRT (Gotha). Nach Verdeutlichung der Gründe, warum Jena als ein Hort des Luthertums galt, das vor allem durch das Wirken von Flacius und Gerhard geprägt worden sei, präsentierte er detailliert, wie der Landesfürst auf das Geschehen der Theologischen Fakultät entscheidenden Einfluss hatte – vor allem durch Stellenbesetzungen. Dennoch konnten auch die Fürsten nicht ungebunden agieren, wie Gehrt an dem Umstand zeigte, dass Entlassungen von Professoren nie theologisch, sondern immer zivilrechtlich begründet wurden, worin sich zeige, dass der Fürst gebunden an geltendes Recht gehandelt habe. Damit konnte Gehrt ein illustratives Beispiel frühneuzeitlicher Aushandlungssituationen und zugleich die enge Verknüpfung von Territorien, Dynastien und Konfessionen am Beispiel des lutherischen Jena darstellen.

Unter dem Thema „Politik und Gesellschaft“ stand die letzte Sektion des Workshops. SIVERT ANGEL (Oslo) beschäftigte sich mit der Rhetorik und Politik im dänischen Reich unter Christian III. und analysierte dazu nach einer einführenden Vorstellung der Bedeutung Christians für die Entwicklung der lutherischen Kultur in Dänemark vor allem Begräbnisreden auf Christians Tod. Dabei machte er deutlich, wie in Wittenberg etablierte Methoden auch unter dänischen Theologen ihre Wirkung entfalteten, dabei aber durchaus angepasst oder radikalisiert wurden. Vor allem am Beispiel des Wirkens von Niels Hemmingsen (1513–1600) erschloss Angel, wie anders lutherische Konfessionalisierung aussehen konnte, wenn sie sich außerhalb der Bedingungen des Reiches vollzog.

Zum Schluss sprach JOAR HAGA (Oslo) über die Konstruktion des Luthergedächtnisses bei Hans Poulsen Resen (1561–1638). Dabei zeigte er, wie dieser die Reformation anlässlich der Feierlichkeiten 1617 theologisch mithilfe der klassisch-christlichen Licht-Dunkel-Metaphorik deutete und eine liturgische Form schuf, die biblische Bilder und historische Erinnerung miteinander zu einem neuen Bedeutungszusammenhang verknüpfte. Erst nach der absolutistischen Wende habe diese Lichtmetaphorik auf die Obrigkeit angewendet einen neuen Bedeutungszusammenhang erfahren. Gesellschaftliche Veränderungen hätten so auf die Bedeutungsänderung theologischer Bildsprache eingewirkt.

In der offenen Abschlussdiskussion wurden die Ergebnisse des Treffens noch einmal dargestellt: Statt einem Gesamtbild seien nur einzelne konfessionelle Marker erkennbar geworden, die vor allem daran erinnerten, dass das Luthertum als ein diverses und heterogenes Phänomen eingeschätzt werden muss. Als Aufgabe bleibe, das Verhältnis von Politik und Religion auch in Zukunft auf den unterschiedlichen Hierarchieebenen genauer zu beschreiben.

Konferenzübersicht:

Christian Winter Generalsekretär der SAW, Leipzig) / Sascha Salatowsky (Gotha): Begrüßung und Einführung

1. Sektion: Luthertum und Politik

Stefan Michel (Leipzig): Veit Ludwig von Seckendorffs Ansicht von der Obrigkeit im Christen-Staat (1685)

Sascha Salatowsky (Gotha): Kernlehren lutherischer Politik? Die Disputation De religione lutherana, disquisitio politica des Wittenberger Theologen Andreas David Carolus (1685)

Johannes Träger (Leipzig): Konfliktfelder lutherischer Kirchenleitung: Die Auseinandersetzung des Leipziger Konsistoriums um das jus patronatus des Leipziger Rates (1599–1605)

Robert von Friedeburg (London): Wie sieht es mit „dem“ Luthertum im Hinblick auf die Obrigkeit aus? Oder: Wer hat nun Recht, Troeltsch und Honecker oder Schwarzkopff?

Steffie Schmidt (Rostock): Theologisch geeint, politisch entzweit? Schwedische Theologen und das deutsche Luthertum nach dem Dreißigjährigen Krieg

2. Sektion: Politische Praxis

Thomas Töpfer (Leipzig): „Politik“ im Kontext des universalen Wissenskonzepts der Gothaer Bildungsreformen nach dem Dreißigjährigen Krieg

Siegrid Westphal (Osnabrück): Lutherische Konfessionspolitik im Spannungsfeld von Integration und Abgrenzung

Daniel Gehrt (Gotha): Von Flacius bis Gerhard. Die Entstehung der Universität Jena als Zentrum der lutherischen „Orthodoxie“ im Spannungsfeld zwischen universitärer „Autonomie“ und fürstlichem „Absolutismus“

3. Sektion: Politik und Gesellschaft

Sivert Angel (Oslo): Die politische Rolle der Predigt und die Wissenskultur lutherischer Homiletik des 17. Jahrhunderts

Joar Haga (Oslo): Chiliasmus, Utopie und die lutherische Stadt. Der Fall Kopenhagen

Abschlussdiskussion


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