Zur historischen Erforschung von Männlichkeit. Perspektiven auf ein Forschungsproblem

Zur historischen Erforschung von Männlichkeit. Perspektiven auf ein Forschungsproblem

Organisatoren
Claudia Berger / Jan-Hendryk de Boer / Anna Strommenger, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen
Ort
Essen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.06.2018 - 23.06.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Kyra Palberg, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Welche Rolle spielt ‚Gender‘ als soziale und analytische Kategorie in der Geschichtswissenschaft – auch außerhalb der Geschlechtergeschichte – und welchen Aufgaben muss sich eine gendersensible Geschichtswissenschaft stellen? Um diese und andere Fragen nach ‚Gender‘ und Geschlechterkonstruktionen in der Geschichtswissenschaft vertiefen und beantworten zu können, haben Claudia Berger, Jan-Hendryk de Boer und Anna Strommenger (alle Duisburg-Essen) einen Workshop im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln“ organisiert. Unter dem Titel „Zur historischen Erforschung von Männlichkeit. Perspektiven auf ein Forschungsproblem“ diskutierten sie mit Expert/innen über Geschlechter in der Geschichte mit einem Fokus auf Männlichkeitskonstruktionen.

Zur Einführung sprach FALKO SCHNICKE (London) über Männlichkeiten in Bild und Text und stellte vier heuristische Modelle zum Schreiben von Männlichkeitsgeschichte vor. Angefangen bei Karin Hausens bekanntem Aufsatz zu Geschlechtscharakteren, der eine polarisierte Kategorisierung von Geschlecht etablierte, leitete er zu Martina Kessel und dem Ideal des ‚ganzen Mannes‘ über, das männliche und weibliche Eigenschaften vereint. Er stellte zudem Raewyn Connells Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ vor und endete mit aktuelleren Theorien zur Intersektionalität, die gesellschaftliche Ungleichheit mehrdimensionaler verstehen und die Überschneidungen verschiedener Diskriminierungsformen in einer Person beschreibbar machen. Mit diesem Überblick lieferte Schicke eine theoretische Grundlage, die für den Verlauf des Workshops tragend war. Wie die Theorieansätze in der historischen Arbeit fruchtbar gemacht werden können, zeigte er zudem beispielhaft anhand eines Briefes Heinrich von Treitschkes an seine Frau Emma von Bodmann, der mit den Worten beginnt: „ich empfinde eine fast unmännliche Sehnsucht nach Dir, die über das Maß der einem ehrbaren Professor gestatteten Herzenswärme entschieden hinausgeht“.1 Schnicke stellte unter anderem das Motiv der männlichen Beherrschung in den Vordergrund, welches im Laufe des Workshops immer wieder aufgegriffen wurde und sich in den verschiedenen Vorträgen wiederfand. Die Diskussion warf vor allem die Frage auf, inwieweit ein Fokus auf Männlichkeit patriarchale Herrschaftsansprüche reproduziere.

Insbesondere an die Überlegungen zur Intersektionalität knüpfte der Vortrag von BETTINA BROCKMEYER (Bielefeld) zu (post)kolonialem Erinnern an. Sie beschrieb ‚gender‘ als relationale Kategorie, die immer in Zusammenhang mit ‚race‘ und ‚class‘ erforscht werden müsse. Als Quelle zog sie das Buch Eine deutsche Frau im Inneren Deutsch-Ostafrikas heran, das die Kolonialistin Magdalene Prince basierend auf ihren Tagebucheinträgen verfasst hat. Brockmeyer fokussierte sich vor allem auf Princes rassistische und sexualisierte Beschreibungen von men of colour. In den Beschreibungen Mpangires, der Ende Dezember 1896 von Tom Prince zum neuen Sultan von Uhehe ernannt worden war, liest Brockmeyer einen erotischen Unterton, der ihrer Interpretation nach auf eine Affäre von Magdalene Prince und Mpangire hindeuten könnte. Damit bestätigte sie eine These tansanischer Historiker, die auch die Ermordung Mpangires in anderem Licht erscheinen lässt: 1897 ließ Tom Prince Mpangire durch den Strang hinrichten, weil er gegen die deutsche Herrschaft intrigiert habe. Brockmeyers Anliegen war es, Magdalene Prince als Person mit agency zu beschreiben und damit neue und plurale Erzählungen in die Kolonialgeschichte zu tragen.

Auch BEA LUNDT (Berlin) verortete ihren Vortrag in der außereuropäischen Geschichte und verknüpfte Fragen von ‚gender‘ und ‚race‘. Lundt knüpfte spontan unmittelbar an den vorangegangenen Vortrag an, indem sie sich auf europäische Beschreibungen von men of colour fokussierte. Sie sprach zum Männlichkeits-Modell des afrikanischen Unabhängigkeitskämpfers und ersten Präsidenten Ghanas, Kwame Nkrumah. Anhand europäischer Gestaltungen und verschiedener Auflagen seiner Biografie zeigte Bea Lundt die europäischen Versuche, Kwame Nkrumah in etablierten europäischen Kategorien wie Nationalität und Männlichkeit zu fassen und beschreibbar zu machen. Um dies zu verdeutlichen, verglich sie die Titel der englischen und der deutschen Ausgabe: Ghana bzw. Schwarze Fanfare. Die Geschlechterbilder des sozialistisch geprägten Nkrumahs spielten in dem Vortrag keine Rolle, außerdem wurde seine Selbstdarstellung innerhalb der Autobiographie nicht thematisiert.

Ebenso wie Bea Lundt legte auch JÖRN EIBEN (Hamburg) ein Augenmerkt auf die wechselseitige Konstituierung von Männlichkeit und Nation. Mit einem diskursanalytischen Blick auf Fußball im Deutschen Kaiserreich zeigte er, wie Männlichkeit sich in Debatten um Fußball als Volkssport konstituierte. So schaute er auf zeitgenössische Diskussionen über das Für und Wider des Fußballs und deren Beziehungen zu anderen Wissensordnungen. Der Sport wurde beispielsweise in einer engen Verbindung zum Militarismus besprochen, sodass Aspekte der soldatischen Ausbildung, der ganzheitlichen Körperformung und des Kampfes besonders wichtig erschienen. Die zunehmende Akzeptabilität des Fußballs im militärischen Bereich hatte nach Eiben dann auch vor allem mit strategisch-taktischen Veränderungen des modernen Krieges zu tun. Viele Begriffe der ‚Fußballsprache‘ entstammten auch heute noch dem Militärischen, wie etwa ‚Angriff‘, ‚Flanke‘ oder ‚Sturm‘. Ein Schwerpunkt des Vortrags lag auf den vom Fußball ausgeschlossenen: Mädchen, Frauen und ‚Stubenhockern‘. Die Aktualität von Eibens historischer Analyse zeigte sich dann vor allem in der nach wie vor vorherrschenden Verbindung von Fußball und heterosexueller, überhöhter Männlichkeit – dies wurde über Exkurse zu gegenwärtigen Debatten über homosexuelle Fußballspieler und Frauenfußball deutlich.

Der zweite Teil des Workshops behandelte die Frage „Hat Herrschaft ein Geschlecht?“, sollte sich von klassischen Vortragsformaten lösen und eine gemeinsame Diskussion ermöglichen. Eröffnet wurde das Panel durch drei Impulsvorträge aus der Mediävistik, die aufeinander aufbauten und die Geschlechtlichkeit von Herrschaft in den Mittelpunkt stellten.

AMALIE FÖSSEL (Duisburg-Essen) sprach unter dem Titel „virilis ingenii femina“ über Herrschaft und Geschlecht im Mittelalter. Sie lehnte sich an die Definitionen Max Webers an und bestimmte ‚Macht‘ als die Möglichkeit zur Willensdurchsetzung und ‚Herrschaft‘ als die institutionalisierte Form der Machtverstetigung, die auf Legitimität basiert. Herrscherinnen wurde nach Fößel häufig Beeinflussbarkeit und mangelnde Gerechtigkeit vorgeworfen. Das Überwinden der „natürlichen weiblichen Schwäche“ sei in der Figur der ‚Virago‘ als erstrebenswert konstituiert worden.

JAN-HENDRYK DE BOER (Duisburg-Essen) knüpfte an die Frage der Geschlechtlichkeit von Herrschaft an und thematisierte Päpste im 14. Jahrhundert, indem er deren Herrschaft als Männerherrschaft charakterisierte. Er blickte auf (weibliche) Semantisierungen, mit denen männliche Herrschaft beschrieben wurde. So sei die Kirche mal als ‚Mutter der Gläubigen‘, mal als ‚Braut Christi‘ bezeichnet worden. De Boer vertrat die These, dass diese Metaphern dazu dienten, Handlungsaufforderungen zu generieren. Sie wirkten als zweites semiologisches System, innerhalb dessen festgelegt werde, wie auf Herrschaftsansprüche reagiert werden müsse. Da Herrschaftspraxis situativ sei, müsse Herrschaft immer wieder plausibilisiert und aufs Neue durchgesetzt werden. Dazu diene der (häufig inkonsistente) Metapherngebrauch.

CATHÉRINE LUDWIG-OCKENFELS (Gießen) verband die Untersuchung weiblicher Herrschaft mit Überlegungen zu weiblicher Forschung. So widmete sie sich der kritischen zeitgenössischen Sicht auf weibliche Herrschaft anhand normativer Texte. Am Beispiel ihres Dissertationsprojektes über die Handlungsräume Anna Maria Luisa de‘ Medici (1667–1743) sprach sie darüber hinaus über die Beobachtung einer vorwiegend weiblich geprägten Forschungslandschaft, als auch die Verengung, die die Erforschung weiblicher Herrschaft durch eine häufige Fokussierung auf die Kunstförderung einzelner Herrscherinnen erfahre. Die Forschungsergebnisse zu frühneuzeitlichen Fürstinnen sollten immer im Bewusstsein der eigenen Sozialisation der Forscher/innen reflektiert werden.

Die sehr ergiebige Abschlussdiskussion wurde von ANNA STROMMENGER und CLAUDIA BERGER (beide Duisburg-Essen) über Impulsvorträge zu „Genderperspektiven im wissenschaftlichen Alltag“ eingeleitet. Unter der Frage „Theorie als Praxis?“ diskutierten sie die Möglichkeiten und Grenzen der Kategorie ‚Geschlecht‘ in der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Alltagssprache wurde als gewachsenes Konstrukt eingeführt, welches die an ihrer Ausbildung beteiligten kulturellen Umstände mit abbilde. Demnach wirke Sprache zwar vertraut, sei aber nicht herrschaftsfrei. In Bezug auf die geschichtswissenschaftliche Arbeit wurde die Dringlichkeit betont, ungleiche Geschlechterverhältnisse herauszustellen und diese weder durch das generische Maskulinum noch durch unzutreffendes ‚Gendering‘ zu ‚verschleiern‘. Die Referentinnen bezeichneten die Suche nach einer geschlechtergerechten Sprache als „Drahtseilakt“ und fragten, ob ein zu konventioneller Sprachgebrauch weiter dazu beitragen könne, bestimmte Identitäten zu verschweigen und an ihrem sprachlichen Ausschluss mitzuwirken. Sie fragten aber auch, ob nicht zugleich ein konsequentes ‚Gendering‘, z.B. über die Nutzung eines Gender-Gaps oder Gender-Sternchens, eine falsche Teilhabe suggeriere, die historisch nicht gegeben war, und ein modernes Geschlechterverständnis auf historische Akteur/innen projiziert. Die Institution Universität wurde außerdem als hegemonial-männlich geprägt beschrieben. So würden Genderthematiken häufig ausgeklammert und „Sondergebieten“, wie den Gender Studies zugeordnet, wo sie die Eigenlogik der anderen Fächer nicht in Frage stellen, und gleichzeitig als eigener Forschungsbereich in ihrer Bedeutung abgewertet werden könnten.

In der abschließenden Diskussion wurden all diese Thesen und Fragen aufgegriffen und gleichermaßen über theoretische Herangehensweisen wie praktische Erfahrungen beleuchtet.

Konferenzübersicht:

Claudia Berger / Jan-Hendryk de Boer / Anna Strommenger (alle Duisburg-Essen): Begrüßung und Einführung

Falko Schnicke (London): Männlichkeiten in Bild und Text. Vier historische Perspektiven

Bettina Brockmeyer (Bielefeld): Race, class, gender und (post)koloniales Erinnern. Überlegungen zur Kolonialgeschichte

Bea Lundt (Berlin): Zum Männlichkeits-Modell des afrikanischen Unabhängigkeitskämpfers und ersten Präsidenten Ghanas, Kwame Nkrumah (1909–1972)

Jörn Eiben (Hamburg): Beherrscht und mutig. Der Fußball im Deutschen Kaiserreich und die Produktion von Männlichkeit

Amalie Fößel (Duisburg-Essen): virilis ingenii femina. Herrschaft und Geschlecht im Mittelalter

Jan-Hendryk de Boer (Duisburg-Essen): Männerherrschaft? Die Päpste im 14. Jahrhundert

Cathérine Ludwig-Ockenfels (Gießen): Weibliche Herrschaft – weibliche Forschung? Fürstinnen der Frühen Neuzeit als Forschungsobjekte

Anna Strommenger, Claudia Berger (beide Duisburg-Essen): Theorie als Praxis? Genderperspektiven im wissenschaftlichen Alltag

Anmerkung:
1 Heinrich von Treitscke, Briefe 3, hg. v. Max Cornicelius, Leipzig 1920, S. 11.


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger