71. Baltisches Historikertreffen

71. Baltisches Historikertreffen

Organisatoren
Baltische Historische Kommission
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.05.2018 - 27.05.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Klöker, Under und Tuglas Literaturzentrum der Estn. Akademie der Wissenschaften, Tallinn; Stefan Donecker, Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien

Nach der Eröffnung durch den Ersten Vorsitzenden der Baltischen Historischen Kommission, MATTHIAS THUMSER (Berlin), waren zunächst die jüngeren Fachkolleginnen und -kollegen am Wort: Die Präsentation aktueller Forschungsprojekte am Samstagvormittag kann längst als Tradition gelten; neu in diesem Jahr war der gemeinsame Schwerpunkt auf der Geschichte des Mittelalters, der die ersten vier Vorträge miteinander verband.

In ihrem Vortrag widmete sich KERSTIN HUNDAHL (Lund) der dänischen Expansionspolitik auf dem Gebiet des heutigen Estland im frühen 13. Jahrhundert. Die militärische Eroberung im Jahr 1219 erwies sich als nicht nachhaltig. Die Rückgewinnung Estlands auf dem Verhandlungsweg im Jahr 1238 stellte einen weitaus bedeutsameren Erfolg dar, der zu einer langfristigen Konsolidierung der dänischen Herrschaft führte. Da die dänische Historiographie des 19. Jahrhunderts aber mehr Interesse an militärischen Glanztaten als an diplomatischen Erfolgen hatte, blieben die Ereignisse von 1238 bis heute weitgehend unbeachtet.

Anschließend wandte sich GREGORY LEIGHTON (Cardiff) dem Herrschaftsverständnis des Deutschen Ordens zu. Anhand zweier zentraler Quellen aus dem 13. Jahrhundert, der Livländischen Reimchronik und eines Hartmann von Heldrungen zugeschriebenen Briefes, demonstrierte Leighton die Sakralisierung des Territoriums. Nicht nur die Bewohner Livlands mussten aus Sicht des Ordens bekehrt werden, auch das Land selbst bedurfte einer Christianisierung. Livland wurde zum „Land der Gottesmutter“ stilisiert; die Landschaft selbst erhielt eine spirituelle Bedeutung, die die Aktivitäten des Ordens in ein sakralisiertes Raumverständnis einbettete.

Einer „Stadt zweier Herren“ widmete sich RŪTA BRUSBĀRDE (Kiel). Im 15. Jahrhundert befand sich die Stadt Riga de facto unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, de jure aber noch unter der Herrschaft des Erzbischofs. In diesem Spannungsverhältnis vermochten die Rigaer Ratsherren einen erheblichen politischen Spielraum zu erkämpfen, indem sie ihre Politik gegenüber den beiden Stadtherren geschickt zwischen Kooperation und Konfrontation variierten. Mittels sozial- und personengeschichtlicher Methodik arbeitete Brusbārde eine Charakteristik des Rates als sozialpolitischer Führungsgruppe heraus, die einen Beitrag zum Verständnis individueller Entscheidungen der Ratsherren leisten kann.

Abgeschlossen wurde die Mittelaltersektion von ALEXANDER BARANOV (Berlin), der die Tätigkeit des livländischen Ordensmeisters Bernd von der Borch (1471–1483) zwischen Rom, Riga und Moskau verfolgte. Gestützt auf dessen ungewöhnlich umfangreich erhaltene Korrespondenz präsentierte Baranov eine politische Biographie des Ordensmeisters, die sein Verhältnis zu Rivalen und Verbündeten innerhalb des Deutschen Ordens, den Konflikt mit den Erzbischöfen von Riga, die Unterwerfung des Bistums Dorpat sowie die diplomatischen Beziehungen mit Moskau und Pleskau umfasste. Durch die zusammenfassende Betrachtung dieser Teilaspekte konnte Baranov die übergeordnete, langfristige politische Strategie des Ordensmeisters verdeutlichen.

MARTIN KLÖKER (Tallinn) eröffnete den zweiten Teil der Tagung, der unter dem Titel "Literarischer Wandel in der Geschichte der baltischen Literaturen" stand, mit einer Einführung und gab einen Einblick in die komplexen Wandlungsprozesse in der Verflechtung von deutscher, estnischer und lettischer Literaturgeschichte. Gerade in der regionalen Perspektive liefert die Analyse literarischen Wandels zentrale Bausteine zur Charakteristik und zum Verständnis der jeweiligen Literatur, indem die eindimensionale „nationalsprachige“ Literaturgeschichtsschreibung überwunden und nicht mehr lediglich als eine „Erfolgsgeschichte“ geschrieben wird. Vielmehr stehen die Prozesse der Veränderung ergebnisoffen im Kern des Interesses, sodass auch vermeintliche Irrwege oder Nebenaspekte in ihrer Bedeutung angemessen berücksichtigt werden können.

CORNELIUS HASSELBLATT (Zuidhorn) konnte dies an der Entwicklung der estnischen Literatur im 19. Jahrhundert aufzeigen. Er gab einige Beispiele dafür, dass die spätere Existenz der estnischen Literatur ganz wesentlich mit dem damaligen Interesse im Ausland zu tun hatte. Während in Deutschland zwischen 1830 und 1880 zahlreiche Beiträge zur estnischen Literatur erschienen, sei in Estland noch wenig auf dem Gebiet der Rezeption geschehen. Für den deutschsprachigen Raum waren Jacob Grimm und besonders Wilhelm Schott wichtige Multiplikatoren, die sich für Estland begeisterten. Wichtigste Publikationsorgane waren das „Archiv für wissenschaftliche Kunde von Russland“ und das „Magazin für die Literatur des Auslandes“. In Finnland gab es mildere Zensurverhältnisse und ein Interesse an estnischen Texten. Hier erschienen die erste wissenschaftliche Studie zur estnischen Literatur (1856), die Volksausgabe des Epos „Kalevipoeg“ (1862) und die erste Gesamtausgabe estnischer Märchen (1866). Erst danach habe sich in Estland eine eigene Rezeption und Wahrnehmung der estnischen Literatur entwickelt, die ohne die Unterstützung aus Helsinki, St. Petersburg und Berlin schwerlich in Gang gekommen wäre.

Im Anschluss daran wandte sich JAAN UNDUSK (Tallinn) der kaum bekannten „sibirischen Vorgeschichte des Schriftstellers Jaan Kross“ zu und stellte auf der Basis von Korrespondenzen aus der Verbannung (1951–1954) die unter schwersten Bedingungen erfolgten schriftstellerischen Anfänge vor. Kross las aus Estland übersandte Bücher und habe geschrieben, um sich wie ein menschliches Wesen zu fühlen und in geistiger und intellektueller Form zu bleiben. Viele der hier entstandenen Texte sind im Manuskript erhalten, etwa der Versroman „Tiit Pagu“ über die Verwandlung eines bürgerlichen Korpsstudenten in ein Mitglied der sozialistischen Gesellschaft nach dem Vorbild von Puschkins „Eugen Onegin“, ein sozialkritisches Stück zu einem amerikanischen Thema mit dem Titel „Marc Edfordi kaitsekõne“ (Die Verteidigungsrede von Marc Edford) und das lange Gedicht „Gameš“. Obwohl diese in ihrer Form professionellen Werke einen starken humanistischen Aspekt aufweisen, war Kross später dankbar, dass diese Versuche, dem trivialen System der stalinistischen Literatur zu entsprechen, nicht publiziert wurden. Denn aus dem Scheitern in diesem sowjetischen Literatursystem heraus wandelte sich sein Werk zu dem des estnischen Literaten von Weltrang.

KRISTI VIIDING (Tallinn) betrachtete daraufhin die literarische Blüte in Riga in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts als Resultat des intensiven Wandlungsprozesses im Verständnis und in der Funktion der Literatur. Im Zentrum standen dabei die gedruckten und handschriftlichen Werke von David Hilchen (1561–1610) sowie seine umfangreiche Korrespondenz, die am Under- und Tuglas-Literaturzentrum in Tallinn bearbeitet wird. Auf dieser Basis wurden Verflechtung und Konflikt als Beweggründe für den literarischen Wandel in Riga dargestellt: Einerseits fand eine Integration der Rigaer humanistischen Literatur in die europäische Literaturszene statt, was mit der Übernahme des humanistischen Literaturverständnisses, der Motive und Gattungen von den westlichen Humanisten sowie der Gestaltung von Hilchens eigenem, für das Nordbaltikum innovativen, Literatenprofil einherging. Andererseits kam es zur Einführung der humanistischen Satire (gegen Georg Herbers, 1599) als einer völlig neuen Stufe der Aneignung der antiken Literatur und Mythologie im ganzen Nordbaltikum und zur Invention eines neuen Mythologems (Riga als Hölle) sowie der – aus der Satire ersichtlichen – Hoffnung, mit der Dichtkunst die Gesellschaft in Riga um 1600 verändern zu können.

Dem Deutschbalten Christoph Fürecker galt der Vortrag von MĀRA GRUDULE (Riga). Als wohl bekanntester Autor in der älteren lettischen Poesie hat Fürecker mit fast 180 Liedern die Grundlagen für ein neues lutherisches Liederbuch geschaffen, indem er die alten geistlichen Lieder, darunter 28 Texte von Martin Luther, ins Lettische übersetzt und dabei – wie auch in Nachdichtungen von Werken zeitgenössischer deutscher Dichter – zum ersten Mal Versmaß und Reim angewendet hat. Das Interesse an der Gedichtform und sein ausdrucksvoller, an Antithesen, Hyperbeln und rhetorischen Figuren reicher Stil verweisen auf das Barockzeitalter. Gleichzeitig verwendete Fürecker typisch lettische Phraseologismen, Reduplikationen und Diminutive sowie einzelne Elemente der lettischen geistigen Welt und kommt dadurch dem lettischen Adressaten einen Schritt näher. Dennoch vereinfachte er die Texte nicht; Luther und Paul Gerhard bekommen lettische Züge und sprechen ein ausdrucksvolles und wohlklingendes Lettisch, sodass seine Lieder schon mehrere Jahrhunderte lang einen bleibenden Platz in den lettischen Kirchenliederbüchern einnehmen, der „geplante Wandel“ also erfolgreich war.

Der nächste Beitrag stand zunächst ganz im Zeichen der Aufklärung und wurde von HEINRICH BOSSE (Freiburg im Breisgau) eröffnet, der die baltische Entwicklung von „‚Lockeren Öffentlichkeiten‘ im 18. Jahrhundert“ als „gebremsten Wandel“ interpretierte. Unter der Bewegung der Texte, Meinungen und Autoren gab es laut Bosse innerhalb der zweistöckigen Öffentlichkeit noch eine zweite kommerzielle Bewegung: die der Buchproduktion und -distribution, die in einer Expansion begriffen war, in Deutschland allerdings stärker als in den Ostseeprovinzen. Der resultierende Wandel könne im Kern auf zwei Faktoren zurückgeführt werden: Erstens auf Verflechtungen, die von Beginn an mit dem deutschen Buchmarkt bestanden, seit der Mitte des Jahrhunderts auch mit russischen Bildungsinstitutionen sowie Zeitschriften St. Petersburgs; zweitens auf Gewinnstreben, das sich in der Verdichtung des Buchhandels zeigt. Die Anfänge nach dem Nordischen Krieg wurden von Buchdruckern und Buchbindern geleistet; gefördert durch einen Erlass Katharinas 1784. Zusätzlich traten namhafte Verleger auf, die nicht zuletzt durch Gründung von Zeitungen und Zeitschriften an der Ausbreitung ihres Handels arbeiteten, der zugleich der Ausbreitung der Aufklärung diente.

HANS GRAUBNER (Göttingen) untersuchte die Wandlungsimpulse der Königsberger Aufklärer Hamann, Lindner und Herder in Livland, gruppiert um den Rigaer Patrizier Berens, an dessen zwiespältiger Haltung zwischen ständischer Beharrung und aufgeklärter Gesinnung die Chancen und Grenzen ihres Wirkens ablesbar sind. Hamann scheiterte zwar mit seinen Erziehungsvorstellungen im baltischen Landadel, aber seine Propagandaschrift, welche den Kaufmann als Stand über den Ritter erhebt, war in der Auseinandersetzung zwischen Patriziat und Ritterschaft für Berens nützlich. Dasselbe galt für die Schulactus des Rektors Lindner, die mit ihrem Zarenlob die Stadt vor der Ritterschaft in Petersburg hervorheben sollten, während Lindners konservative Pädagogik in Riga Beifall fand. Herder schließlich musste in Riga eine vielfältig eingeschränkte Doppelexistenz als Prediger und Lehrer sowie als anonym aufstrebender Literat führen. Während keiner der drei Königsberger in Livland blieb, erlebte Berens, wie die Statthalterschafts-Verfassung die ständischen Verfestigungen lösen konnte – und votierte letztlich bei der Entscheidung zwischen Aufhebung der Leibeigenschaft und Besitzstandswahrung des Landeigentums für letzteres. Die Impulse der Königsberger versiegten in Riga nach Wiedereinführung der alten Verfassung; die deutschbaltische Literatur stagnierte für fast ein Jahrhundert.

Demgegenüber wandte sich THOMAS TATERKA (Wismar) dem herausragenden Element der Aufklärung im Baltikum zu, indem er „deutsche“ Aufklärung und „undeutsche“ Volksaufklärung im 18. und 19. Jahrhundert gegenüberstellte. Der hier festgestellte „Wandel durch Aufklärung“ betrifft Taterka zufolge zwei Bewegungen: eine horizontale innerhalb der „deutschen“ Oberschicht, die maßgeblich von den Gelehrten getragen wurde und im städtischen Patriziat und im Landadel allmählich starken, aber keinesfalls uneingeschränkten Widerhall fand, und eine vertikale, hauptsächlich von Pastoren geführte Aufklärung „nach unten“, also zu den „undeutschen“ niederen Ständen. Diese Popularisierung im Sinne der „Volksaufklärung“ steht im Baltikum immer unter der Bedingung, dass mit der Übersetzung in die anderen Sprachen und der dafür notwendigen Entwicklung neuer literarischer Formen auch literarischer Wandel einhergeht.

Zum Abschluss der Tagung trug LIINA LUKAS (Tartu) ihre Überlegungen zur Entstehung einer „baltischen“ Dichtung vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vor. Anhand von Gedichtsammlungen mit regionalen Bezug konnte sowohl die zunehmende Thematisierung baltischer Stoffe aufgezeigt, als auch die Herausbildung einer regionalen Autorschaft im Spannungsfeld von „Wandel und Kontinuität“ verfolgt werden. Als Ausgangspunkt wurde die Sammlung „Kuronia. Oder: Dichtungen und Gemälde aus den ältesten kurländischen Zeiten“ (Mitau 1791) von Karl August Kütner vorgestellt, zu der um 1800 eine ganze Reihe von oft kurzlebigen literarischen Zeitschriften trat. Über weitere Musenalmanache, Taschenbücher und Kalenderalmanache, Ulrich von Schlippenbachs „Kuronia, eine Sammlung vaterländischer Gedichte“ (1806) und „Wega, ein poetisches Taschenbuch für den Norden“ (1809) sowie „Livonas Blumenkranz“ (1818) führte die Entwicklung bis zum „Baltischen Album“ (1848) Rehbinders, in dem est-, liv- und kurländische Autoren zu einem stattlichen „baltischen“ Kreis vereint auftraten.

Der mit den beiden Sektionen gegebene Einblick in die aktuelle Mittelalterforschung zum Baltikum und den literarischen Wandel in der Region fand großen Anklang. Obwohl letztlich nur Schlaglichter auf einzelne Aspekte geworfen werden konnten, wurde doch allgemein deutlich, dass der Blick auf Transformationsprozesse wesentlich zum Verständnis der regionalen Literaturen beitragen kann.

Konferenzübersicht:

Matthias Thumser (Berlin): Eröffnung

Aktuelle Projekte zur Geschichte des Baltikums

Kerstin Hundahl (Lund): To Have Conquered and Lost – The Danish Conquest of Estonia in 1219 and 1238 and the Subsequent Historiographical Representation

Gregory Leighton (Cardiff): wy uns dy lant zcu Leifflandt seint ankomen: The Function of Landscape in the Ideology of the Military Orders in Livonia in the 13th Century

Ruta Brusbārde (Kiel): Stadt zweier Herren – Die Ratsherren der Stadt Riga im Spannungsfeld zwischen dem Erzbischof und dem Meister des livländischen Ordenszweiges (1415–1470)

Alexander Baranov (Berlin): Zwischen Rom, Riga und Moskau: Zur Person und Tätigkeit des livländischen Ordensmeisters Bernd von der Borch (1471–1483)

Literarischer Wandel in der Geschichte der baltischen Literaturen

Martin Klöker (Tallinn): Einführung

Cornelius Hasselblatt (Zuidhorn): Rettung durch Rezeption. Zur Genese der estnischen Literatur im 19. Jahrhundert

Jaan Undusk (Tallinn): Wandel durch Scheitern. Die sibirische Vorgeschichte des Schriftstellers Jaan Kross

Kristi Viiding (Tallinn): Wandel durch Verflechtung, Wandel durch Konflikt. David Hilchens literarisches Erbe

Māra Grudule (Riga): Geplanter Wandel. Der Deutschbalte Christophor Fürecker als Reformator lettischer Poesie

Heinrich Bosse (Freiburg im Breisgau): Gebremster Wandel. „Lockere Öffentlichkeiten“ im 18. Jahrhundert

Hans Graubner (Göttingen): Wandlungsimpulse zwischen Anpassung und Widerstand. Königsberger Aufklärer in Livland (Hamann, Lindner, Herder)

Thomas Taterka (Wismar): Wandel durch Aufklärung. „Deutsche“ Aufklärung und „undeutsche“ Volksaufklärung im 18. und 19. Jahrhundert

Liina Lukas (Tartu): Wandel und Kontinuität. Von der Gelegenheitsdichtung zur „baltischen“ Dichtung