49. Konferenz der International Association of Labour History Institutions (IALHI)

49. Konferenz der International Association of Labour History Institutions (IALHI)

Organisatoren
International Association of Labour History Institutions (IALHI), Amsterdam
Ort
Mailand
Land
Italy
Vom - Bis
12.09.2018 - 15.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Marquet, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

Die Jahrestagungen des Netzwerks von Bibliotheken und Archiven der Arbeiterbewegung und linker Gruppierungen zeichnen sich in den letzten Jahren durch eine Verbindung von historischer Fragestellung und Projektberichten der Gedächtniseinrichtungen aus. „The sources of '68” lautete in diesem Jahr das die Überlieferung in den Gedächtniseinrichtungen zum Epochenjahr 1968 thematisierende Leitmotiv.

Zu Beginn der Konferenz fand die Mitgliederversammlung der International Association of Labour History Institutions (IALHI) statt, auf der ein Wechsel im Vorsitz vollzogen wurde. Neue Präsidentin der IALHI wurde die Leiterin des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, ANJA KRUKE (Bonn). Mit aktuell über 90 institutionellen Mitgliedern konnte in den letzten Jahren der Rückgang der Mitgliederzahlen umgekehrt und die angestrebte globale Ausrichtung der Vereinigung insbesondere nach Asien und Südamerika fortgesetzt werden. Mit dem social history portal1 betreibt die IALHI ein Nachweisinstrument für archivische und bibliographische Metadaten sowie digitalisiertes Schrift- und Sammlungsgut, das derzeit über rund 2,2 Mio. Einträge und mehr als 900.000 Digitalisate verfügt und frei zugänglich ist.

Im Anschluss an die Mitgliederversammlung fand ein Panel mit Kurzbeiträgen der IALHI-Mitglieder über laufende Projekte statt, die nicht notwendig Bezug auf das Thema 1968 nahmen. Hierbei überwogen Beiträge, die Entstehungszusammenhänge und Darstellungsformen von digitalisierten sowie genuin digitalen Quellen im digitalen Raum thematisierten. Insbesondere zur Präsentation und Nutzung wurden technische Lösungen vorgestellt, die komfortabel in der Bedienung sind – trotz umfangreicher Funktionalitäten. Mit der Implementierung des IIIF-Viewers und -Frameworks demonstrierten FABIAN WÜRTZ (Zürich) und ERIC DE RUIJTER (Amsterdam), wie eine nutzerfreundliche Schnittstelle für digitale Lesesäle realisiert werden kann. CATIA COTTONE und PAOLA ASPRONI (beide Turin) stellten ein modernes Recherchefrontend vor, das vermittels graphischer Lösungen wie etwa einem Zeitstrahl mit kumulierten Ergebnisblasen zu einer besseren Usability beiträgt.

Rechtliche Fragen zur Archivierung und Benutzung thematisierten MINNA SANNIKKA (Helsinki) in Bezug auf Oral History-Quellen und AFELONE DOEK (Amsterdam) vor dem Hintergrund der europäischen Datenschutzverordnung. Die meisten der IALHI angehörenden Archive und Bibliotheken sind privatrechtliche Einrichtungen, die je nach nationaler Gesetzeslage als im öffentlichen Auftrag handelnd anerkannt werden. Demgegenüber berühren Fragen des Urheber- und Persönlichkeitsrechts wie auch die ethische Verantwortung gegenüber den Interviewten grenzübergreifend sämtliche mit Oral-History-Quellen befasste Präsentationsumgebungen, wie die Ausführungen von Sannikka verdeutlichten.

Verschiedene Beiträge, die Ausstellungsprojekte und Dokumentenpräsentationen im Internet thematisierten, hatten einen direkten Bezug zu diesen Fragen nach dem organisatorischen und technischen Rahmen. PATRICK AUDERSET (Genf) skizzierte eine geplante Ausstellung, die auf das Spannungsverhältnis von Arbeitskräftebedarf in der Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg und der restriktiven, gesetzlich befristeten Aufenthaltsdauer der angeworbenen ‚Saisonarbeiter/innen‘. Erst 2002 wurden die Befristungen auf neun Monate aufgehoben. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des Ohara Institute for Social Research in Tokio werden dort, wie ENOKI KAZUE (Tokio) berichtete, verschiedene Veranstaltungen und eine Ausstellung für 2019 vorbereitet. In diesem Kontext werden die als Reisunruhen bekannt gewordenen sozialen Proteste von 1918 thematisiert. DARIO MASSIMI (Rom) berichtete vom Projekt BiblioMarx, das mit Google Arts and Culture ausschließlich auf eine digitale Präsentation setzt. Gezeigt werden aus Anlass des 200. Geburtstags von Karl Marx Cover seiner Werke. Mit dem Bericht über die weithin abgeschlossenen Arbeiten zu einem Lexikon der Komintern-Mitglieder knüpfte MASSIMO REPETTO (Genua) an Beiträge an, die in direktem Zusammenhang mit einem Jubiläum stehen. Aus insgesamt 27 Ländern haben sich Forscher/innen an dem kollektivbiographischen Projekt beteiligt, das im März kommenden Jahres abgeschlossen und veröffentlicht werden soll.

Drei für die Forschung nun zugängliche Bestände wurden ebenfalls vorgestellt. Der Nachlass des belgischen Premierministers und Sekretärs der Zweiten Sozialistischen Internationale, Camille Huysmans, ist detailliert erschlossen und steht Benutzern im Amsab-ISH, Ghent, zur Verfügung. DONALD WEBER (Ghent) veranschaulichte mit einem Video eindrücklich, wie moderne Präsentationsformen und neue Medien – in diesem Fall die Videoplattformen Youtube und Vimeo – auch von Archiven zur Bewerbung der eigenen Arbeit genutzt werden können. Die von RICHARD TEMPLE (London) vorgestellten Ted Crawford Papers umfassen eine umfangreiche Korrespondenz des britischen Trotzkisten. Es können internationale Verbindungen in Europa, aber auch in die USA und bis nach Neuseeland untersucht werden – zumal weitere Nachlässe wie die von Jim Higgins und Al Richardson oder Ron Heisler ebenfalls konsultiert werden können. Schließlich konnte ROBERT REYNOLDS (College Park) von dem über 40 Millionen Dokumente umfassenden George Meany Memorial AFL-CIO Archive berichten. Der Bestand ist für die Erforschung nordamerikanischer Gewerkschaftsgeschichte von überragender Bedeutung und kann nun online durchsucht werden.

Von den Herausforderungen beim Aufbau eines Netzwerks zur Geschichte der Arbeiterbewegungen in Lateinamerika berichtete LUCAS POY (Buenos Aires). Zwar ist die politische Linke breit in der Bevölkerung verankert, doch wirken sich in der Praxis insbesondere die großen Entfernungen zwischen einzelnen Städten und Forschungseinrichtungen als hinderlich für eine stärkere Vernetzung aus. Gleichwohl konnte 2016 mit dem Center for Historical Studies on the Workers and the Left (CEHTI) ein wissenschaftliches Zentrum etabliert werden, das unter anderem eine Schriftenreihe und eine Zeitschrift herausgibt.

Mit der Überlieferung genuin digitaler Quellen befasste sich ANDREAS MARQUET (Bonn). Er stellte eine Sammlung von Instrumenten vor, die teilweise bereits lange vor der eigentlichen Übernahme digitaler Informationsobjekte ansetzen und zu einer möglichst qualitativen Überlieferungsbildung beitragen sollen.

Ein weiteres Panel von Beiträgen der IALHI-Mitglieder stellte direkte Bezüge zum Leitmotiv der Tagung her, wenngleich einige Beiträge ausgefallen sind. ELENA STRUKOVA (Moskau) stellte in ihrem Vortrag Bezüge zahlreicher Gruppierungen der Perestroika-Zeit in der UdSSR mit den Ereignissen von 1968 her. Gemäß ihrer Analyse eines Korpus‘ von Untergrund-Zeitschriften wurden die Pariser Unruhen weit weniger reflektiert als der ‚Prager Frühling‘. ALPO VAKEVA (Helsinki) berichtete von einigen Jubiläums-Aktivitäten rund um das Jahr 1968, die Unterschiede zwischen Finnland und West-Europa aufwiesen. Unmittelbar vor der Eröffnung steht die Ausstellung zur 68er-Bewegung in Mailand, die SARA ZANISI und MONICA DI BARBORA (beide Mailand) präsentierten. Ziel der Ausstellung ist es, einen Dialog mit den Besucher/innen herzustellen. Mit einer Wanderausstellung zu den Quellen der Studentenbewegung in Frankreich nahm IOANNA KASAPI (Aubervielliers) die sicher meist beachtete Personengruppe der 68er in den Blick. Die zusammengetragenen Zeugnisse, die Student/innen 1968 mobilisiert haben, belegen am lokalen Beispiel den mit weltweitem Geltungsanspruch vorgetragenen politischen Forderungskatalog.

Schließlich arbeitete ROBERTO CAMPO (Rom) die Bedeutung der 68er-Bewegung für das Zusammenwachsen der italienischen Gewerkschaftslandschaft heraus. Die italienischen Gewerkschaften wandelten sich demnach von reinen Interessenvertretungen Erwerbstätiger hin zu politischen Akteuren mit integrativer Wirkung. Personell öffneten sich die Gewerkschaften, so Campo, etwa für Student/innen, Frauen und Arbeitslose. Der in Italien einsetzende Reformprozess sei von den Gewerkschaften dabei maßgeblich mitgetragen worden.

Zu Beginn des zweiten Konferenztages befassten sich drei Keynote-Speaker vor dem Hintergrund der eigenen Forschungsansätze mit dem Tagungsthema 1968. MARCELLO FLORES (Siena) übte Kritik an einem konservativen Narrativ dieser gesellschaftlichen Umbruchphase, das mit Blick auf den später aufkommenden Terrorismus formuliert werde. Vielmehr solle der transnationale Charakter der Ereignisse betont werden. Flores plädierte dafür, 1968 als Chiffre für eine kulturelle Revolution zu verstehen, wie es etwa die Verbreitung der sexuellen Befreiung oder der Rock-Musik, aber auch die steigende Akademisierung, nahelegten.

Eine ebenfalls transnationale und über politische Entwicklungen hinausgehende Perspektive nahm ALESSANDRO PORTELLI (Rom) ein. In seinen Oral-History-Projekten strebt Portelli an, Mitglieder verschiedenster sozialer Schichten zu Wort kommen zu lassen. So hat er Interviews mit Stahlarbeiter/innen, Militärdienstleistenden, Mitgliedern der Staatsbürokratie, Lehrer/innen und Schüler/innen geführt, die ihre je eigene Erinnerung an die Zeit um 1968 kultivierten und so zu einem vielfältigen, differenzierten Bild beitragen.

Einen im Wortsinn spezifischen und die Ereignisse eng begleitenden Blick stellte ULIANO LUCAS (Mailand) vor, der als Fotograf Dokumentar wie Beteiligter gleichermaßen war. Lucas zeigte eine Serie eindrücklicher Fotos, die überwiegend in linken Magazinen und Zeitungen abgedruckt wurden. Konservative Organe, so Lucas, zeigten kein Interesse an seinen Arbeiten, weshalb die mediale Berichterstattung unausgewogen gewesen sei. Gemeinsam mit seinen Vorrednern waren der transnationale Blick, wie etwa Fotos afrikanischer Befreiungsbewegungen zeigten, und der Bezug auf Menschen abseits der ersten Reihe der Politik.

Die drei Keynote-Sprecher waren anschließend Teilnehmer eines Roundtable-Gesprächs an dem ferner MARIA GUERICO (Rom) und Anja Kruke teilnahmen. Guerico gab der Runde zunächst einige Impulse, indem sie auf die Gefahren der Überlieferungsbildung hinwies, die insbesondere bei losen Gruppierungen oder sozialen Bewegungen bestünden. Oftmals, so habe die Vergangenheit gezeigt, sei beziehungsweise fühle sich kein Archiv zuständig. Die Archivierung digitaler Unterlagen stelle für die Archivierung heutiger Überlieferungen weitere Herausforderungen dar, die institutionelle Strukturen erforderlich machten. Vor diesem Hintergrund betonte Kruke die Bedeutung möglichst hochwertiger Metadaten als Grundlage, um vereinzelte kleinere Bestände und Archive in Meta-Katalogen und Portalen wie dem ‚socialhistoryportal‘ nachweisen zu können. Ferner müsse, wie die Beispiele von Portelli gezeigt hätten, stärker zwischen unmittelbar und ex post entstandenen Quellen wie Interviews differenziert werden.

In einem weiteren Panel wurde das Thema 1968 anhand von drei Schlagworten beleuchtet, die zur Konzentration auf einzelne Aspekte beitragen sollten. MARTA GARA (Mailand) befasste sich mit dem Begriff ‚Macht‘ anhand der politischen Auseinandersetzungen in Washington D.C. am Ausgang der 1960er-Jahre. Auch sie arbeitete längerfristige Linien in die 1970er-Jahre heraus und begriff diesen Ansatz als ein Deutungsangebot neben anderen, etwa komparativen. Der Beitrag von MARIA GRAZIA MERIGGI (Bergamo) zum Schlagwort Bewegung rekurrierte auf das Verhältnis von Student/innen zu Arbeiter/innen, das somit auf der Tagung insgesamt zum wiederholten und nicht letzten Mal Reflexionsgegenstand war. Inwiefern die 68er-Bewegung zu echter Emanzipation und Freiheit beigetragen habe, fragte DONATELLA SASSO (Turin). Als für die italienischen Verhältnisse bedeutsame Voraussetzung zur Verwirklichung von Freiheitsrechten erschien ihr die Verbindung von Student/innen und Arbeiter/innen. Zentrale und gesellschaftlich tief verankerte Topoi waren demnach der Generationenkonflikt und die Gleichberechtigung.

Die 49. IALHI-Konferenz hat mit ihrem zweigleisigen Programm, das aus den Projekten von Gedächtniseinrichtungen der Arbeiterbewegung sowie dem Leitthema Quellen von 1968 bestand, eine Breite eingenommen, die in dieser Form auf den wenigsten Tagungen geboten wird. So erscheint gerade die Frage nach der Überlieferung und Sicherung von Quellen für Historiker/innen interessant, um die realiter auswertbare Quellenlage nachvollziehen zu können. Ein Schwerpunkt nicht nur bei der Sicherung, sondern auch der Recherche und Bereitstellung waren digitale Ansätze. Mit den Keynote-Beiträgen und der anschließenden Gesprächsrunde wurde eine Verbindung zum Tagungsthema rund um die Quellen zu 1968 hergestellt, das vielfältige Perspektiven aufwies. Demgegenüber blieben die rund um die Schlagworte ‚Macht‘, ‚Bewegung‘ und ‚Freiheit‘ gruppierten Beiträge trotz gewisser Gemeinsamkeiten zusammenhanglos. Eine stärkere Konturierung und Zusammenführung der einzelnen Ergebnisse hätte sich wiederholende Strukturelemente stärker herausarbeiten können. Die 50. IALHI-Konferenz wird vom 11. bis 14. September in der Fundación Pablo Iglesias in Madrid stattfinden.

Konferenzübersicht:

Carlo Feltrinelli (Mailand) / Filippo del Corno (Mailand) / Geert Van Goethem (Ghent): Begrüßung

IALHI-Mitgliederpräsentation I

Patrick Auderset (Genf): Project for an Exhibition: A Season Without End. A Tribute to the Contribution of Seasonal Workers to Post-War Prosperity in Geneva

Fabian Würtz (Zürich) / Eric de Ruijter (Amsterdam): IIIF Presentation of Digital Archives.

Afelonne Doek (Amsterdam): Discussion on the Impact of the General Data Protection Regulation (GDPR) on Institutes with (Archival) Collections

Lucas Poy (Buenos Aires): The Challenge of Developing a Labor History Research Center in Latin America. A Presentation of the Work Done by the Centro de Estudios Históricos de los Trabajadores y las Izquierdas in Buenos Aires

Minna Sannikka (Helsinki): Oral Histories of the Finnish Civil War – Making the Audio Recordings Available

Donald Weber (Ghent): Archives of Camille Huysmans, Secretary of The Second International 1905-1922

IALHI-Mitgliederpräsentation II

Catia Cottone / Paola Asproni (beide Turin): Inside an Archive. Old Models and New Research Opportunities Through the Sharing of Spaces and Services

Richard Temple (London): The Ted Crawford Papers

Enoki Kazue (Tokio): 100th Anniversary Project

Dario Massimi (Rom): BiblioMarx

Massimo Repetto (Genua): Three Centennials, Three Projects

Andreas Marquet (Bonn): AdsD’s Toolbox for Digital Preservation

Robert Reynolds (College Park): George Meany Archives

Massimiliano Tarantino (Mailand): Begrüßung

Keynotes

Marcello Flores (Siena): Memory in 1968

Alessandro Portelli (Rom): Oral Sources and the Multiple Narratives of 1968

Uliano Lucas (Mailand): Pictures of ’68. Photoreporting the Upheaval

Roundtable

Maria Guercio (Rom) / Marcello Flores (Siena) / Alessandro Portelli (Rom) / Uliano Lucas (Mailand) / Anja Kruke (Bonn): Collecting Memories of ’68: A Comparative Perspective

IALHI-Mitgliederpräsentation III

Elena Strukova (Moskau): 1968 in the Pages of the Periodical Pess of Soviet Informals in the Perestroika

Alpo Vakeva (Helsinki): The Memory of 1968 in the Library of Labour Movement Collections

Sara Zanisi / Monica di Barbora (beide Mailand): The Exhibition “A large Number: Signs Images Words from 1968 in Milan”

Ioanna Kasapi (Aubervilliers): The 68’s in France: Which Sources of Student Movements?

Roberto Campo (Rom): Italian Unionism and 1968: From Protest to the Construction of Trade Union Unity

Four Keywords for ‘68

Marta Gara (Mailand): Power: Radicals Deal With Power: The Washington DC Non Voting-Delegate Election of 1971 Through the Pages of an Underground Paper

Maria Grazia Meriggi (Bergamo): Mouvement: ‘68 and Workers Movement

Donatella Sasso (Turin): Freedom: The 1968 Movement in Italy and Western Europe: A Mirage of Freedom

Anmerkung:
1https://www.socialhistoryportal.org