HT 2018: Rechtfertigungen und Anfechtungen des Kapitalismus 1850-2008

HT 2018: Rechtfertigungen und Anfechtungen des Kapitalismus 1850-2008

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Jan Kellershohn, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Es kreucht und fleucht im Bestiarium des Kapitalismus: Raubtiere, Heuschrecken, Kraken, Schweine, Vampire und Gespenster – spätestens seit dem Jahr 2008 wimmelt es in der politischen Sprache nur so von Beschwörungen und Metaphern, die diesen bekannten Unbekannten nicht nur linker Theoriebildung dingfest machen wollen. Es gehört wieder zum guten Ton der Zeitdiagnose, darauf hinzuweisen, Kapitalismus sei Thema, die Öffentlichkeit könne von ihm sprechen und eine Aktualisierung des Begriffs sei notwendig. In den letzten Jahren entstanden auch verschiedenste Arbeiten, die ihn erneut analysieren oder – praxeologisch, wirtschafts- oder sozialhistorisch – definieren.1 Es scheint gar, dass nicht mehr ein positiv bestimmbarer Begriffshorizont wie etwa Gerechtigkeit Einheit in der Riege der sich selbst als kritisch verstehenden Wissenschaftler/innen stiften soll. Kapitalismus als Kategorie und Negativ soll vielmehr die diversen Lager einen. Wenn wir schon nicht die Lösung kennen, dann wissen wir zumindest, wo das Problem liegt, so die vielfach beschworene Aufbruchsstimmung.

Die von STEFAN BERGER (Bochum) und ALEXANDRA PRZYREMBEL (Hagen) organisierte Sektion auf dem diesjährigen Historikertag ordnete sich in diesen Kontext ein, trat aber einen Schritt zurück. Es ginge nicht darum, den unzähligen Versuchen, das Wirtschaftssystem der Moderne zu bestimmen, einen oder mehrere weitere hinzuzufügen. Der Anspruch sei vielmehr, Kapitalismus als „umkämpftes Ordnungsmuster“ zu historisieren, wie Berger einführend hervorhob. Dessen Geschichte sei begleitet von Prognosen, die einerseits seinen Zusammenbruch prophezeiten. Andererseits fänden sich Positionen, die ihn – etwa mit Verweis auf die regulierende Kraft der Märkte – verteidigen. Ziel sei also keine genuine Wirtschaftsgeschichte dieser Produktionsweise, sondern eine Erweiterung der Analyse durch kulturgeschichtliche Perspektiven.2 Dies erlaubt, so Berger, der Dynamik und Wandelbarkeit dieser Wirtschaftsform auf die Spur zu kommen, die zu fassen bisherigen Definitionen nicht gelingt.

Argumentativ positionierten sich die Beitragenden unterschiedlich zu dieser einführenden Skizze: Im Mittelpunkt standen vornehmlich Anfechtungen, während Legitimierungen eher weniger Beachtung fanden.

ALEXANDRA PRZYREMBEL (Hagen) widmete sich einem Aspekt, an dem sich Verteilungskonflikte besonders häufig entzündeten: dem Reichtum. Die ältere Sozialgeschichte habe diesen lange ignoriert. Przyrembel eröffnete demgegenüber eine kulturhistorische Perspektive, die über eine reine Mediengeschichte des Vermögens hinausgehen sollte. Anhand der Werke von Robert Kuczynski und dessen Sohn Jürgen wies sie auf die enge Verflechtung der Sozialfigur des Reichen mit der Geschichte der Kapitalismuskritik und ihrer Moralisierung hin. Der Vater habe die Ungleichverteilung von Geld als Konsummöglichkeiten noch in einem Spannungsfeld von erworbenem (am Beispiel der USA) und ererbten Reichtum (am Beispiel der Weimarer Republik) gelesen. Dagegen habe Jürgen Kuczynski diesen vor der Folie der DDR interpretiert. In dieser Deutung trete der Reiche vornehmlich als Monopolist und Verbrecher auf. Beide hätten aber einen Fortschrittsoptimismus gepflegt, in dem der Reiche einer Korrektur bedürfe. Da diese Narrative die Geschichtswissenschaft selbst geprägt hätten, skizzierte Przyrembel abschließend vier Facetten einer Kulturgeschichte des Reichtums: Diese bewege sich an der Schnittstelle von Konflikt-, Medien- und Emotionsgeschichte und nehme Reichtum und Vermögen ebenso als politische Institutionen in den Blick.

CHRISTINE MOLL-MURATA (Bochum) konzentrierte sich ebenso auf den Kommunismus. Gleichzeitig weitete sie ihren Fokus geographisch auf China im 20. Jahrhundert aus. Der Begriff des Kapitalismus – 1905 aus dem Japanischen eingeführt – habe dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Strategiedebatten im linken Parteispektrum nach sich gezogen. Besonders die Wirtschaftsgeschichte habe debattiert, ob China noch als Agrar- oder bereits als kapitalistischer Staat zu verstehen sei. Mit der stalinistischen und maoistischen Orthodoxie ab 1949 hätten sich dann verschiedene Wissenschaftler/innen auf die Suche nach den „Keimen des Kapitalismus“ gemacht. Diese Suche verband sich eng mit nationalen Selbstverortungsdebatten: Ließen sich in China endogene kapitalistische Traditionen ausmachen oder seien diese als Produkt des Imperialismus zu verstehen? Anhand der Vita des chinesischen Wirtschaftshistorikers Wu Chengming, der sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Wirtschaftsverwaltung bewegte, illustrierte Moll-Murata, wie kontrovers sich die Suche nach den Ursprüngen gestaltete. Chengming ging von einer kapitalistischen Kontinuität in China aus, die nicht durch den Imperialismus unterbrochen worden sei. Damit habe er gleichzeitig den „bürokratischen Kapitalismus“ der Guomindang-Regierung der ersten chinesischen Republik angeklagt. Die darin implizite gegenwartsbezogene Stoßrichtung habe dazu geführt, dass Chengming in der Kulturrevolution „umerzogen“ wurde und sich nach seiner Rehabilitierung 1978 der offiziellen Position, der Kapitalismus sei in China beseitigt, anschloss.

Im Gegensatz zu den beiden ersten Beiträgen, die Anfechtungen des Kapitalismus fokussierten, schlug PETER KRAMPER (Bielefeld) eine Wissensgeschichte der Effizienz der Märkte vor. Dieser zentrale Topos zur Verteidigung kapitalistischen Wirtschaftens habe im 20. Jahrhundert eine solche Bedeutung erlangt, dass Angriffe auf diese Ordnung zunehmend von ihm aus definiert worden seien. Methodisch schließe eine Wissensgeschichte der Effizienz nicht nur die Generierung von Wissen ein. Sie berücksichtige auch die technischen Arrangements, die dazu gedient hätten, Wissen in politische Prozesse einzuspeisen. Nach einer kurzen Begriffsgeschichte richtete Kramper sein Augenmerk auf die Informations- und die Allokationseffizienz. Zu ersterer beschrieb er, wie sich in den Auseinandersetzungen um die Planwirtschaft das Verständnis von Märkten verschob. Über die Debatte um die Wirtschaftsrechnung im Sozialismus hätten Wirtschaftswissenschaftler wie Friedrich August von Hayek den Markt als überlegenen Informationsprozessor imaginiert. Sei diese Geschichte bereits gut erforscht, gelte dies nicht für die Allokationseffizienz. Wie kann eine gesellschaftlich optimale Ressourcenverteilung gewährleistet werden? Kramper zeigte, wie Ökonomen mit dem Pareto-Optimum und dem Kaldor-Hicks-Kriterium Maßstäbe entwickelten, um Gleichheit und Verteilung zu messen. Vergleichbarkeit habe seit den 1930er- und zunehmend seit den 1960er-Jahren aber erfordert, nicht quantifizierbare Güter wie Menschenleben in Geldwerte zu übersetzen. Dies habe wiederum neue Möglichkeiten der Skandalisierung eröffnet. Eine Geschichte der Effizienz der Märkte und der Allokationseffizienz ist laut Kramper folglich als eine Geschichte der Kosten-Nutzen-Analyse operationalisierbar.

Einem nur auf den ersten Blick von der Sektion entfernten Thema wandte sich SIBYLLE MARTI (Hagen) zu. Ihre Wissensgeschichte informeller Arbeit konzentrierte sich auf Taxonomien und die Bestimmung der Normalität von Arbeit im Kapitalismus. Der britische Anthropologe Keith Hart habe in einer Feldstudie zu Ghana zu Beginn der 1970er-Jahre die informellen „small scale entrepreneurs“ als ökonomisches Potential für die Entwicklungspolitik entdeckt. Über den Vorwurf des Ethnozentrismus habe er so Soziologie und Anthropologie als Disziplinen in der Entwicklungsplanung etabliert. Der „informelle Sektor“ gelte seitdem nicht mehr als zu überwindendes Rudiment, sondern als effizienter und kreativer Bereich, der durch staatliche Reglementierung gebremst werde. Über die Internationale Arbeitsorganisation habe die Stärkung des informellen Sektors ab 1972 auch Eingang in die Strategien supranationaler Akteure gefunden. Damit belegte Marti die Ambivalenz des Konzepts: Versprach es für Afrika Erfolg, erhielt es unter dem Schlagwort der prekären Beschäftigung für europäische Arbeitsmärkte eine negative Konnotation. Hinsichtlich des Sektionsthemas hob Marti schließlich hervor, dass informelle Arbeit ein Außen des Kapitalismus bestimme. Darüber hinaus müssten Forderungen nach Deregulierung nicht zwangsläufig „neoliberal“ sein, sondern seien auch von Anthropologen ausgegangen. Zuletzt brachte sie ihre Überlegungen gegen ein Kommodifizierungs- und Ökonomisierungsnarrativ in Stellung. In diesem Fall dränge anthropologisches und soziologisches Wissen ökonomisches zurück.

Zuletzt stellte DIETER ZIEGLER (Bochum) den Topos der Macht der Banken ins Zentrum. Dieser stammte, so Ziegler, aus marxistischen Deutungen um Rudolf Hilferding und Lenin. In der Zwischenkriegszeit habe er angesichts sozialdemokratischer Regierungsbeteiligungen an Bedeutung verloren. Dementsprechend beleuchtete Ziegler die liberale Kritik der Bankenmacht, die sich an Aktiengesellschaften, also an der Schnittstelle von Banken und Industrie, entzündet habe. Zunächst arbeitete Ziegler heraus, wie sich Verwaltungsräte und Unternehmensdirektionen im 19. Jahrhundert voneinander ablösten. Nach der Vergrößerung der Aufsichtsräte ab der Jahrhundertwende formierte sich dann, wie Ziegler ausführte, eine Zweiteilung der Aufsichtsräte. Die Gruppe der Inside Shareholders habe sich vermehrt gegen nominelle Mitglieder abgegrenzt. In dieser Konstellation habe das Depotstimmrecht entscheidende Bedeutung erlangt. Banken, die Aktiendepots verwahrten, sicherten sich von Aktionären nicht vertretene Stimmrechte. Diese Praxis – von Liberalen häufig kritisiert – diente aber nach Ziegler nicht dazu, wie in der Bankenkritik angenommen, über Aufsichtsräte Politik zu machen. Im Gegenteil, sie habe die Inside Shareholders abgesichert. Solche Schließungsmechanismen hätten wiederum mangelnde Kontrollen seitens der Aufsichtsräte begünstigt. Daraus seien letztlich verschiedene Skandale von Bilanzverschleppung und die Bankenkrise von 1931 resultiert. Die kleinere Aktienrechtsreform habe dann Mechanismen der Bilanzprüfung etabliert. Alles in allem stellt Ziegler zufolge die Macht der Banken einen Topos dar, der mit der Realität der Aufsichtsratspraxis nichts zu tun hat.

In seinem Kommentar insistierte JÜRGEN KOCKA (Berlin) angesichts der thematischen Spannweite der Beiträge zunächst darauf, dass eine Diskursgeschichte des Kapitalismus und seiner Hinterfragung, die meist schon im Begriff selbst angelegt sei, nicht ohne eine Realgeschichte geschrieben werden könne. Eine Geschichte der Kapitalismuskritik dürfe sich nicht von ihren Bedingungen und Effekten lösen. Darüber hinaus beobachtete Kocka, dass sich der Aufstieg dieses ökonomischen Systems in einem Klima des Protests vollziehe, das zwar noch nicht systematisch erforscht aber bekannt sei. Die Geschichte der Zustimmung zu dieser Wirtschaftsform sei dagegen viel weniger geläufig. Wieso also habe die Kritik ihrem Aufstieg nicht geschadet? Was seien ihre Effekte gewesen? Ließe sich daraus eine Zivilisierungsgeschichte ableiten?

Die anschließende Diskussion kreiste im Wesentlichen um zwei Punkte: Sie bezog sich zunächst auf die Frage, inwieweit Kapitalismuskritik in ihren verschiedenen Ausprägungen als fundamentale Systemkritik oder als Bekämpfung der Symptome zu verstehen sei. Außerdem wurde moniert, dass sich die Rechtfertigungen und Anfechtungen eines Wirtschaftssystems nicht von einer Richtung bestimmen ließen. Es müsse vielmehr um das Wechselspiel von Befürwortung und Widerspruch gehen.

Was ist es also, das Gesellschaften spaltet? Ist es der Kapitalismus selbst oder die Rede vom Kapitalismus? Auf diese Frage fanden die Teilnehmer/innen der Sektion zumindest keine eindeutige methodische Antwort. Diese Uneindeutigkeit offenbarte aber, dass sich die Geschichtswissenschaft selbst spaltet: Auf den Schultern von Riesen wünschen die einen eine Realgeschichte dieser Wirtschaftsordnung und ihrer Dynamiken. Dagegen mahnt eine noch in den Kinderschuhen steckende Kulturgeschichte des Kapitalismus an, diesen als Quellenbegriff zu lesen und Aushandlungspraktiken, Normen und Zuschreibungen zu untersuchen. Bei diesem erkenntnistheoretischen Widerspruch sollte eine neue Geschichte des Ökonomischen aber nicht enden. Diese Antinomie lässt sich wohl nicht prinzipiell, sondern nur auf der Ebene der Narration auflösen. Ein Beispiel wäre das Verhältnis von Rechtfertigung und Widerstand. Wie lässt sich die konstatierte weitgehende Abwesenheit von Verteidigungen dieser Gesellschaftsformation operationalisierbar untersuchen? Denkfiguren des Dialogs und der wechselseitigen Beeinflussung von Beanstandung und Legitimierung erscheinen attraktiv. Sie tragen der Asymmetrie zwischen beiden Seiten aber keine Rechnung. Kapitalismus lässt sich auch als kultureller Code lesen, in dem sich die Kritik eher als Schattenboxen denn als Kampf der Titanen ausnimmt. Galt nicht seit dem 19. Jahrhundert: Der Kapitalismus, das sind die anderen?

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Stefan Berger (Bochum) / Alexandra Przyrembel (Hagen)

Stefan Berger (Bochum): Einführung und Moderation

Alexandra Przyrembel (Hagen): Skandalisierungen von Reichtum und Überfluss im 20. Jahrhundert

Christine Moll-Murata (Bochum): Entfaltung und Beseitigung der „Keime des Kapitalismus“ in China: Wirtschaftshistorische Deutungen im 20. Jahrhundert

Peter Kramper (Bielefeld): Die Effizienz der Märkte. Zur Wissensgeschichte eines ökonomischen Schlüsselkonzeptes

Sibylle Marti (Hagen): Informelle Arbeit im modernen Kapitalismus. Eine Wissensgeschichte 1880–1980

Dieter Ziegler (Bochum): Die ‚Macht der Banken‘ und die Delegitimierung einer liberalkapitalistischen Wirtschaftsordnung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Jürgen Kocka (Berlin): Kommentar

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise Thomas Welskopp, Zukunft bewirtschaften. Überlegungen zu einer praxistheoretisch informierten Historisierung des Kapitalismus, in: Mittelweg 36, 26 (2017) Heft 1, S. 81–97; Jürgen Kocka / Marcel van der Linden (Hrsg.), Capitalism. The Reemergence of a Historical Concept, London 2016.
2 Ausformuliert und auf das Verhältnis von Kapitalismus und Moral bezogen finden sich diese Überlegungen bei Stefan Berger / Alexandra Przyrembel, Moral, Kapitalismus und soziale Bewegungen. Kulturhistorische Anmerkungen an einen ‚alten‘ Gegenstand, in: Historische Anthropologie 24 (2016) Heft 1, S. 88–107.