HT 2018: Momente des Separatismus. Eine Emotionsgeschichte aktueller europäischer Unabhängigkeitsbewegungen: Katalonien, Schottland, Südtirol und Kosovo

HT 2018: Momente des Separatismus. Eine Emotionsgeschichte aktueller europäischer Unabhängigkeitsbewegungen: Katalonien, Schottland, Südtirol und Kosovo

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Lea Frese-Renner / Jan-Martin Zollitsch, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Entlang der bisher wenig beleuchteten Schnittstelle von Nationalismusforschung und Emotionsgeschichte spürte die von BIRGIT ASCHMANN (Berlin) geleitete Sektion verschiedenen „Momenten des Separatismus“ in Europa nach. Einführend machte Aschmann mit Rekurs auf das Thema des Historikertages zwei Arten von Spaltungen aus: erstens die territoriale zwischen Region und Nation, zweitens die innergesellschaftliche der über Sezessionsforderungen entzweiten Regionen. Dabei stelle sich gegenüber „regionalen Nationalismen“ die Frage nach den Umständen des Aufkommens von „nationalist ways of thinking and feeling“ (Judson) 1. Schon Ernest Renan habe auf die Bedeutung von Gefühlen im Zusammenhang mit dem plebiszitären Charakter der Nation hingewiesen2, jedoch in der Historiographie nicht wirklich Gehör gefunden, so Aschmann. Tatsächlich sei heute weniger von „Diskursmacht“ denn von „Emotionsmacht“ zu sprechen und somit nach den Techniken der „Emotionslenkung“ zu fragen.

Dieser Programmatik folgend, entwarf Aschmann in ihrem Vortrag eine emotionshistorische „Chronologie der Eskalation“ der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung von der invention of tradition (Hobsbawm/Ranger) 3 des Katalanismus im 19. Jahrhundert bis zum letztlich scheiternden „Moment des Separatismus“ im Herbst 2017. Im Hinblick auf Strategien der Emotionalisierung und der Einübung von Geschichtsdiskursen sei die lange Amtszeit des katalanischen Regierungschefs Jordi Pujol (1980–2003) als „Inkubationsphase“ zu verstehen: Eine gezielte „Politik der Katalanisierung“ in Medien und Bildungssektor habe in Verbindung mit dem wachsenden Engagement zivilgesellschaftlicher Akteur_innen zu einem wechselseitigen „Überbietungswettbewerb“ geführt. Sichtbarster Ausdruck des um 2010 nicht zuletzt durch die Verschränkung multipler Krisen ausgelösten Paradigmenwechsels von der Aushandlung von immer weitreichenderer Autonomie zum Separatismus waren die große Massendemonstration zum katalanischen Nationalfeiertag am 11. September 2012 und die Gründung der Bürgerbewegung Assemblea Nacional Catalana (ANC) im selben Jahr. Das doing nation festigte sich auch im Alltag und in lokalen Praktiken wie in der „spielerischen Insubordination“ inszenierter Plebiszite in zahlreichen Gemeinden Kataloniens in den Jahren vor dem verbotenen Referendum von 2017. In dieser Zuspitzung des Konflikts sei dann, so Aschmann, die „problematische Paradoxie des separatistischen emotional regime (Reddy)“4 zutage getreten: Ungeachtet der vorhandenen Opfernarrative und vielfach geschürter Ressentiments hätten der selbstauferlegte Modus der Friedfertigkeit („Revolution des Lächelns“) und das Externalisieren von Gewalt und Hass im Selbstbild der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung disruptive, aggressive Emotionen und entsprechende Handlungsoptionen zunächst ausgeschlossen. Die emotionale Verpflichtung auf die Friedfertigkeit erkläre so auch das Scheitern im (revolutionären) „Moment des Separatismus“. Darüber hinaus sei es im innerkatalanischen Konflikt den Gegner_innen der Unabhängigkeit gelungen, sich neu zu formieren und zu inszenieren, und zwar nicht als reaktionäre Fraktion, sondern durchaus in erfolgreicher Imitation des ostentativ positiven Emotionsstils der Separatist_innen. Beide Seiten würden so den Anspruch erheben, die „normalen“ Katalan_innen zu repräsentieren.

CHRISTIANE EISENBERG (Berlin) betrachtete in ihrem Vortrag das schottische Unabhängigkeitsreferendum von 2014 als einen „Moment des Separatismus“. Ausgehend von der Feststellung, dass die Sezessionsbefürworter_innen in erster Linie durch ihre „Abneigung gegenüber Westminster“ motiviert gewesen seien, zeichnete Eisenberg zunächst die Entwicklung des institutionellen Rahmens nach. So habe sich im Zuge der Glorious Revolution von 1688 die Doktrin der Souveränität des britischen Parlaments mit einer unitaristischen Staatsform verbunden. Der Act of Union von 1707 habe zwar zunächst einen kulturellen Nationalismus befördert, schließlich seien die anfänglichen Animositäten aber angesichts der „win-win-Situation“ verblasst. Die Erfahrung der beiden Weltkriege und die Entwicklung des Sozialstaats habe die gegenseitige Beziehung dann „geradezu brüderlich“ werden lassen. In der Folge brachte das „Zauberwort der devolution“ Bewegung in das Verhältnis: Im Kontext dieses Zeitgeists wurde im Jahre 1999 nach zwei Referenden ein eigenes schottisches Regionalparlament geschaffen. Doch wie, so Eisenbergs Frage, konnte es zur „Zweckentfremdung“ des dritten Referendums, bei dem nun plötzlich die schottische Unabhängigkeit zur Abstimmung stand, kommen? In den Mittelpunkt ihrer Erklärung rückte Eisenberg (Neben-)Effekte und Probleme von Verfahrensweisen, wie zum Beispiel die „Fiktion getrennter Welten“ in der Unterscheidung von reserved und devolved matters. Auch habe die 1934 gegründete Scottish National Party (SNP) entscheidend vom Verhältniswahlrecht profitiert. Der damalige Premierminister des Vereinigten Königreichs David Cameron habe darum versucht, der SNP in einer Art „Hazard-Spiel“ mit dem Unabhängigkeitsreferendum eine Niederlage beizubringen. Nachdem er sich beim Brexit erneut als „Zocker“ versucht (und letztlich verloren) habe, sei vonseiten der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon zwar die Idee eines erneuten Referendums ins Spiel gebracht worden, doch werde London hierauf wohl nicht eingehen. Der „schottische Moment des Separatismus“ scheine somit, so Eisenbergs Fazit, „endgültig vorbei“ zu sein.

Wie Schottland fällt wohl auch Südtirol aktuell eher nicht unter die Rubrik einer separatistischen „Krisenregion“. Dennoch sei, so OSWALD ÜBEREGGER (Bozen), ein Wiedererstarken sezessionistischer Diskurse zu beobachten. In einem sich polarisierenden Mehrparteiensystem mit schwindendem Konsens habe die einst dominante Südtiroler Volkspartei (SVP), deren Name nicht zuletzt mit der „zähen, zwanzigjährigen Umsetzung“ des 1972 verabschiedeten zweiten Autonomiestatuts verbunden sei, ihre absolute Mehrheit eingebüßt. Herausgefordert durch die Wahlerfolge aufstrebender rechtspopulistischer Parteien, habe sie sich nun die Forderung nach einer „Vollautonomie“ für Südtirol auf die Fahnen geschrieben. Auch sei der integrative, als Gegengewicht zu separatistischen Bestrebungen wirkende pro-europäische „Elitenkonsens“ der 1990er-Jahre mittlerweile erodiert, wie Überegger deutlich machte. Der Blick zurück auf einzelne „Momente“ der Südtiroler Unabhängigkeitsproteste (1918/19, 1945/46, 1957) offenbare diverse Konstanten, angefangen mit dem „paradigmatischen Referenzpunkt“ des Aufstandes von 1809, über den Topos der „Unrechtsgrenze“, dem Symbol der Dornenkrone (sinnbildlich für die eigene Leidensgeschichte) bis hin zu einer polarisierten Erinnerungskultur in Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus und des Faschismus und weiteren rekursiven emotionalen Legitimationen. Als „emotionale incentives“ hielten sie separatistische Aspirationen wach. Geschürt würden diese nicht nur durch die gegenwärtige Parteienkonkurrenz im Wahlkampf, sondern auch durch einflussreiche, „im vorpolitischen Raum agierende“ zivilgesellschaftliche Gruppierungen, etwa den Südtiroler Schützenbund.

In seinem Vortrag zu „Emotionalisierung und Separatismus“ fragte HANNES GRANDITS (Berlin) schließlich nach Lehren aus „Kosovo“ und „Bosnien“. Als Ausgangspunkt diente ihm der Hinweis Wolfgang Schäubles aus dessen Eröffnungsrede zum Historikertag, dass „homogene Gesellschaften“ als vermeintliches Gegenstück zum Motto „gespaltene Gesellschaften“ in der Realität gar nicht existierten. Dementsprechend zeigte Grandits für den Balkan schlaglichtartig gesellschaftliche Spaltungen jenseits der üblicherweise mobilisierten ethnischen Konfliktlinien auf. Für eine bessere Altersversorgung seien kroatische und muslimische Veteranen gar in gemeinsamem Protest auf die Straße gegangen. Anhand von zwei Fallbeispielen stellte er sodann Momente und Akteur_innen der Emotionalisierung vor. Im ersten Fall, dem Besuch des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić in Kosovo im September 2018, habe es sich um ein „Live-Medienevent“ mit „einkalkulierter Eskalation“ gehandelt. Im zweiten Fall, dem Wahlkampf in Bosnien-Herzegowina im Sommer und Herbst desselben Jahres, sei es im Zuge der Empörung über gezielt provozierende Tabubrüche von Kandidierenden, die die Kriegsverbrechen von Srebrenica sowie die Staatsgrenzen in Frage gestellt hatten, zu einer „Gegenemotionalisierung“ gekommen. Daran anknüpfend identifizierte Grandits fünf „Modi der Emotionalisierung“ (den „Opfermodus“, den „Siegermodus“, den „historischen Modus“, den „Krisenmodus“ und den „Bedrohungsmodus“), um sodann mit dem „Ernüchterungsmodus“ einen sechsten als den aktuell dominierenden hervorzuheben. Statt emotionaler Mobilisierung würden inzwischen vielmehr Frustration und Abstumpfung vorherrschen. Abschließend forderte Grandits darum eine differenzierte Behandlung von „Nationalismus als Event“. Gleichzeitig verstelle der Fokus auf nationale Rhetoriken und Inszenierungen den Blick auf internationale Interessensgegensätze, die „als massiv verstärkender Faktor für ‚Separatismus‘ als Projekt“ zu berücksichtigen seien.

HEINZ-GERHARD HAUPT (Florenz) stellte in einem die Sektion abrundenden Kommentar fest, dass sich weder für das 19. noch für das 20. Jahrhundert im europäischen Kontext die Bezeichnung „Jahrhundert des Separatismus“ rechtfertigen lasse. Vielmehr sei es dem Nationalismus seit dem 19. Jahrhundert in der Regel gelungen, unterschiedliche Identitäten, darunter auch Regionalismen, integrierend zu vereinbaren. Unter welchen Umständen habe es dann dennoch zu einer Aktualisierung dieses latenten Antagonismus kommen können? Haupt regte zu einer Diskussion unter Berücksichtigung der vier Dimensionen „Ökonomie“, „Gesellschaft“, „Politik“ und „Medien“ an: Welcher Einfluss komme Benachteiligungsdiskursen zu? Ließen sich „separatistische Entrepreneurs“ ausmachen? Entstünden Separatismen dort, wo viele oder kaum Partizipationsmöglichkeiten gegeben seien? Welche Medienlandschaften stimulierten separatistische Bewegungen? Zuletzt wies er auch auf den nicht zu vernachlässigenden Faktor „Gewalt“ hin.

Auf diesen Bezug nehmend sprach sich Aschmann für einen Vergleich Kataloniens mit der besonders konfliktreichen Geschichte des baskischen Nationalismus und der schwindenden Relevanz der in einer Tradition der Gewalt stehenden Terrororganisation ETA aus. Im Hinblick auf einen Vergleich von Separatismen unter dem Aspekt der Gewalt führte Überegger wiederum an, dass Südtirol trotz der Historie der Attentate der 1960er-Jahre nicht mit dem Baskenland oder Nordirland zu vergleichen sei. Grandits hob noch einmal das „Scheitern als Normalfall“ hervor, im Sinne der sehr viel häufigeren Momente, in denen die nationalistische Mobilisierung misslingt. So sei „der Balkan“ längst nicht so emotional mobilisierbar wie es die entsprechende Fremdzuschreibung leicht zu triggernder Nationalismen suggeriere. An dieser Stelle wies Eisenberg auf die nicht zu unterschätzende strategische Öffentlichkeitskommunikation von „PR-Profis“ in separatistischen Kampagnen hin, denen sie im schottischen Fallbeispiel eine große Bedeutung zumaß.

In der breiten Diskussion eröffneten sich weitere Perspektiven auf das Thema: So wurde mit „Sprache“ eine zusätzliche wichtige Dimension eingebracht, der Eisenberg und Grandits für ihre Fallbeispiele allerdings weniger Gewicht zumaßen. Aschmann hingegen hob dieselbe für Katalonien als „genuin wichtig“ hervor. Weitere Fragen betrafen die transnationalen Verflechtungen der verschiedenen separatistischen Bewegungen und entsprechende Netzwerke sowie die Bedeutung der Europäischen Union. Ausgehend von den als „Werkstattberichten“ (Aschmann) verstandenen Sektionsbeiträgen waren sich die Referent/innen der „Momente des Separatismus“ darin einig, dass der emotionsgeschichtliche Ansatz durchaus Potenzial aufweise, der Nationalismusforschung neue Impulse zu verleihen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Birgit Aschmann (Berlin)

Birgit Aschmann (Berlin): „Wir haben immer nur in die Fresse gekriegt“. Emotionalisierung und Geschichtsdiskurse im katalanischen Unabhängigkeitsprozess

Christiane Eisenberg (Berlin): Das schottische Unabhängigkeitsreferendum von 2014. Ein „Moment des Separatismus“

Oswald Überegger (Bozen): „Los von Rom“. Unabhängigkeitsdiskurse in Südtirol

Hannes Grandits (Berlin): Emotionalisierung und Separatismus. Gibt es Lehren aus Kosovo (Bosnien)?

Heinz-Gerhard Haupt (Florenz): Kommentar

Anmerkungen:
1 Pieter M. Judson, Nationalism and Indifference, in: Johannes Feichtinger / Heidemarie Uhl (Hrsg.), Habsburg neu denken: Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa. 30 kulturwissenschaftliche Stichworte, Wien 2016, S. 148–155, hier S. 154.
2 Vgl. Ernest Renan, Was ist eine Nation? Vortrag in der Sorbonne am 11. März 1882, in: Michael Jeismann / Henning Ritter (Hrsg.), Grenzfälle. Über neuen und alten Nationalismus, Leipzig 1993, S. 290–311. Dort heißt es etwa: „Die Gemeinschaft der Interessen schließt die Handelsverträge. Die Nationalität jedoch hat eine Gefühlsseite, sie ist Seele und Körper zugleich. Ein »Zollverein« ist kein Vaterland.“ (S. 304) Oder: „Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen von dem Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist.“ (S. 309)
3 Eric Hobsbawm / Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983.
4 William M. Reddy, The Navigation of Feeling. A Framework for the History of Emotions, Cambridge 2001, S. 323f.