HT 2018: Staatliche Homogenität bei kultureller Diversität? Historische Konfigurationen einer modernen Wahrnehmung

HT 2018: Staatliche Homogenität bei kultureller Diversität? Historische Konfigurationen einer modernen Wahrnehmung

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Dönecke, SFB 1288 „Praktiken des Vergleichens“, Universität Bielefeld

Die epochenübergreifende Sektion, organisiert von ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld) und CHRISTOPH DARTMANN (Hamburg), widmete sich aus geschichtswissenschaftlichem Blickwinkel einem Thema, das im Mittelpunkt vieler aktueller politischer Auseinandersetzungen steht: Kultureller Diversität wird in gegenwärtigen Diskussionen allzu häufig ein die Gesellschaft spaltendes Potential zugesprochen. Dieser Bedrohungswahrnehmung werden oftmals kulturell-politische Homogenitätsbehauptungen entgegengestellt, wie sie etwa ihren Ausdruck in der Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ finden. Dieses (vermeintliche) Spannungsfeld zwischen staatlicher Homogenität und kultureller Diversität wurde in der Sektion aus historischer Perspektive näher beleuchtet. In vier Vorträgen wurden der Mittelmeerraum im Mittelalter und der frühneuzeitliche Diskurs über Indien ebenso in den Blick genommen wie Deutsch-Ostafrika und die russisch-chinesisch geprägte Stadt Harbin im 20. Jahrhundert. Gezeigt wurden dabei sowohl moderne Konstellationen jenseits von Homogenitätsfiktionen als auch vormoderne Formationen, die weitaus stärker als gemeinhin angenommen von Diversität geprägt waren.

Zunächst erläuterte CHRISTOPH DARTMANN (Hamburg) in seiner Einführung das Konzept der Sektion. In der Gegenwart erlebe man, dass kulturelle Differenzen ins Zentrum politischer Debatten gestellt werden – oft unter der Vorannahme, solche Differenzen könnten den Zusammenhalt von Gesellschaften sprengen. Kultur werde hier in doppelter Hinsicht essentialisiert: Einerseits avancierten kulturell bestimmte Merkmale zum wesentlichen Kriterium, das Menschen bestimme. Andererseits erschienen Kulturen als distinkte Einheiten mit einem unveränderlichen Wesenskern. Die Diversität von Kulturen, an die jeder Mensch gebunden sein soll, werde so zu einem zentralen Ordnungsmuster. Zugleich würden dabei nationalistische Narrative und Homogenitätsbehauptungen reaktiviert, deren historische Kontingenz die Geschichtswissenschaft bereits seit längerer Zeit klar herausgearbeitet hat. Um dennoch nicht hilflos zuzuschauen, wenn solche überholten Konzepte revitalisiert werden, sei die Frage zu historisieren, wie politische Verbände der Vormoderne und der Moderne mit kulturellen Differenzen umgingen.

In seinem Vortrag zum mittelalterlichen Mediterraneum betonte Dartmann eingangs, dass es eine tiefe Differenz gäbe zwischen verbreiteten Vorstellungen von einem christlichen und kulturell homogenen europäischen Mittelalter und den Verhältnissen im Mittelmeerraum. Dort sei es der Normalfall gewesen, dass unter christlichen oder muslimischen Herrschern Menschen verschiedener religiöser, ethnischer, sprachlicher und kultureller Prägung gelebt hätten. Es sei nicht üblich gewesen, von Seiten staatlicher Akteure diese Differenzen als Problem wahrzunehmen und sich um eine kulturelle Homogenisierung der Bevölkerung zu bemühen. Diesen Grundzug mediterraner politischer Praxis erläuterte Dartmann zunächst am Beispiel der Eroberungen der Kreuzfahrerstaaten um das Jahr 1100 sowie Konstantinopels durch Mehmet II. 1453 und analysierte im Anschluss den Vertrag zwischen den Genuesischen Eroberern der Ägäisinsel Chios und den griechischen Adeligen aus dem Jahr 1346. In beiden Fällen sei es den Eroberern nicht um tiefe Eingriffe in die kulturellen oder religiösen Verhältnisse auf der Insel gegangen, sondern vorrangig um politisch-militärische Kontrolle.

Im zweiten Vortrag wandte sich ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld) den Herausforderungen des Rechtspluralismus in vormodernen Kontaktzonen Asiens zu. Im frühneuzeitlichen europäischen Diskurs über Indien habe die Diversität von Pflanzen, Tieren und gerade auch Menschen zu den Charakteristika Asiens gehört. Interessanterweise, so ein zentrales Ergebnis ihrer Untersuchung, spielten die Konsequenzen solch einer Vielfalt für die jeweilige Herrschaft kaum eine Rolle. Für das niederländisch beherrschte Batavia (heutiges Jakarta) sei immerhin noch erwähnt worden, dass es für verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Institutionen gab. Im Mogulreich, das im 17. Jahrhundert fast den ganzen indischen Subkontinent beherrschte, sei ein rechtliches handling der Diversität kaum thematisiert worden. Dabei habe dieses Reich in seiner Expansion verschiedene Territorien mit unterschiedlichen Rechtssystemen integrieren müssen, sodass hier von einem komplexen Rechtspluralismus auszugehen sei. Die Reisenden, so Flüchter, hätten dieses System in seiner ganzen Komplexität sicherlich nicht gänzlich durchschaut – dies allein könne aber nicht Hauptgrund für das ‚Schweigen‘ der Reisenden sein. Vielmehr hätte sie die Existenz verschiedener Rechtssysteme für unterschiedliche Personengruppen nicht erstaunt und sie hätten darin kein Problem gesehen, war ihnen dies doch auch aus Europa bekannt. Auf einer anderen Ebene aber hätten Recht und Diversität eine große Rolle in den Berichten über das Mogulreich gespielt, die die Reisenden geradezu faszinierte: Der Anspruch der Mogulherrscher, dass sich alle ihre Untertanen an sie wenden konnten, wenn ihnen vor Gericht Unrecht geschehen war. Besonders bezeichnend sei dafür eine Kette mit goldenen Glocken gewesen, die bis ins Schlafgemach des Mogulherrschers Jahangir reichte und die jeder läuten durfte. Die religiöse, soziale und ethnische Diversität der Bevölkerung sei so nicht aufgehoben, sondern in gewisser Weise transzendiert worden. Im frühneuzeitlichen Diskurs brauchte Herrschaft eine integrierende Legitimation, aber Homogenität sei weder notwendig noch ein Ideal gewesen, so das abschließende Ergebnis.

ARMIN OWZAR (Paris) nahm in seinem Vortrag religiöse Diversität und konfessionelle Konflikte in Deutsch-Ostafrika in den Blick. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe in Teilen Europas die Angst vor einem Auseinanderbrechen der Nationalstaaten in religiös oder ethnisch definierte Parallelgesellschaften grassiert. Die Einstellung zum Katholizismus sei dabei insbesondere in plurikonfessionellen Gesellschaften wie Deutschland ein zentraler Aspekt gewesen. Angehörige aller Konfessionen hätten sich dabei einer mitunter martialisch anmutenden Semantik bedient und einen aufziehenden Religionskrieg prognostiziert. Vieles deute jedoch darauf hin, dass sich die Mehrheit der konfessionellen Deutungseliten längst mit der religiösen Diversität im Reich arrangiert hatte. Nur in den annektierten Territorien, wo es eine Tabula rasa für eine expansionistische Bekehrungspraxis zu geben schien, habe man auf eine aggressive Bekehrungspolitik gesetzt. Seit der Jahrhundertwende habe diese interkonfessionelle Rivalität jedoch spürbar nachgelassen. Fortan hätten sich Missionswissenschaftler und Missionare auf einen neuen, noch bedrohlicher wirkenden Konkurrenten konzentriert: auf den Islam, der in weiten Teilen Südostasiens und Afrikas expandierte. Die Kolonialverwaltung Deutsch-Ostafrikas sei auf die Kollaboration indigener Eliten und die Anwerbung afrikanischer Sicherheitskräfte, die zumeist muslimischen Glaubens waren, angewiesen gewesen. Versuche der Missionswissenschaftler, einen korrigierenden Einfluss auf die Rekrutierungspolitik der Kolonialverwaltung auszuüben, seien jedoch gescheitert. Daher seien sie dazu übergegangen, sicherheitspolitische Argumente zu bemühen und den Muslimen die Verbreitung eines Glaubenskrieges zu unterstellen. Dadurch sei ein Klima des Misstrauens entstanden, wenngleich die Gouverneure und Kolonialbeamten von der Loyalität der afrikanischen Muslime überzeugt geblieben seien und die religiöse Diversität akzeptiert hätten. Sie hätten die Muslime jedoch auf ihre Verwertbarkeit innerhalb der rassistischen Gesellschaftshierarchie reduziert. Die auf Ausgrenzung der Muslime bedachten Missionen hingegen hätten sich vom biologischen Rassismus weitgehend distanziert und einen interkonfessionellen ‚Burgfrieden‘ geschlossen.

FRANK GRÜNER (Bielefeld) blickte in seinem Beitrag auf das in der nördlichen Mandschurei gelegene Harbin in den Jahren von ca. 1900 bis in die Zeit der Gründung der Volksrepublik China 1949. Die besonderen Umstände der Gründung der russischen Stadt in China auf gewissermaßen exterritorialem Gelände entlang der Trasse der Ostchinesischen Eisenbahn, ihre wachsende Bedeutung für die Region und den internationalen Handel, das konkurrierende Engagement verschiedener Großmächte (vor allem Russland, China, Japan und die USA) in Stadt und Region hätten Harbin zu einer internationalen und vergleichsweise stark globalisierten Stadt werden lassen. Für diese Stadt könne man von der Existenz gespaltener Gesellschaften sprechen. Sie sei jedoch nicht schlicht in zwei oder mehrere kulturelle Lager gespalten gewesen, sondern habe vielmehr zugleich transnationale urbane Räume generiert, die der kulturellen und nationalen Segregation entgegenwirkten. Der kosmopolitische Charakter Harbins habe auf der Multiethnizität ihrer Einwohner basiert und sei das Resultat globaler Verflechtungen und vielfältiger kultureller Austauschprozesse gewesen. Aber auch interethnische Spannungen sowie das Auftreten starker nationalistischer und xenophober Gruppierungen hätten zum Alltag gehört. Die Stadtverwaltung hätte sich über Jahrzehnte hinweg an der Realität der starken kulturellen Diversität ihrer Einwohnerschaft orientieren müssen. Während sie unter den wechselnden politischen Regimen – Russland, China und Japan – die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen zunehmend zu vereinheitlichen bestrebt gewesen sei, hätten Bereiche wie das Bildungswesen und kulturelle Einrichtungen länger eine gewisse Eigenständigkeit behalten. Die Spaltung der Gesellschaft in Harbin sei entlang unterschiedlicher Grenzen verlaufen, die sowohl national-kulturell als auch politisch-ideologisch oder wirtschaftlich-sozial begründet waren. Es bleibe, betonte Grüner, jedoch der Eindruck, dass nicht die von Beginn an bestehende kulturelle Diversität ein Problem für das Funktionieren von Stadt und Stadtgesellschaft darstellte. Vielmehr hätten die Versuche staatlicher Homogenisierung – vor allem in den späten 1930er- und frühen 1940er-Jahren unter der japanischen Herrschaft des Mandschukuo-Regimes – die kulturell-national motivierte Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben.

Im Mittelpunkt der anschließenden Diskussion standen zwei Aspekte. Erstens wurden „Diversität“ und der in aktuellen Diskussionen mit ihr verbundene Begriff der Integration näher beleuchtet. Diversität, so ein Ergebnis der Sektion, sei in nahezu allen modernen und vormodernen Gesellschaften der Normalfall – dies dürfe aber nicht dazu führen, sie unhinterfragt vorauszusetzen; vielmehr müsse man ebenso nach graduellen Abstufungen fragen und homogene(re) Formationen in den Blick nehmen. Der normative Begriff der „Integration“ wurde von den Teilnehmenden als für die historische Forschung schwierig empfunden. Er suggeriere er immer auch, eine Minderheit solle sich in eine Mehrheit integrieren. Anstatt Gruppen oder Kulturen in ein solches Schema einzufügen und damit die Perspektive zu verengen, sei es einträglicher, auf den Kontakt und die Aushandlungen zwischen ihnen zu schauen.

Zweitens drehte sich die Diskussion um die Frage, wie Geschichtswissenschaft mit vermeintlich geographischen und gesellschaftlichen Einheiten umgehe. Zum einen wurde problematisiert, wie HistorikerInnen an der Konstruktion oder Reproduktion solcher Entitäten mitwirkten, wenn sie etwa von dem mittelalterlichen Europa sprächen. Zum anderen wurden die Historisierung von Einheiten und der Blick auf historisch variierende Vorstellungen als ein Weg aufgezeigt, solche Ordnungskategorien zu hinterfragen. Als besonders vielversprechend kristallisierte sich hier der Ansatz heraus, Europa als eine relational hervorgebrachte Kategorie zu untersuchen. So wurde die These diskutiert, dass gerade der Kontakt mit anderen Kulturen im Zuge der ‚europäischen Expansion‘ und des Kolonialismus dazu beigetragen habe, dass Europa angesichts der ‚fremden‘ Vielfalt als homogenes Gebilde konzipiert wurde. Auf diesem Weg könnte Europa als Ergebnis von Austauschprozessen sichtbar werden. Damit werde auch das Narrativ eines traditionell christlich-abendländisch geprägten Europas, das aus sich selbst heraus entstanden sei, aufgebrochen. Die Sektion zeichnete mit den verschiedenen Vorträgen nicht nur ein breites Spektrum verschiedener Konfigurationen von kultureller Diversität und Homogenitätsvorstellungen, sondern zeigte auch, wie bereichernd eine historische Perspektive für den Blick auf aktuell kontrovers diskutierte Phänomene sein kann.

Sektionsübersicht

Sektionsleitung: Antje Flüchter (Bielefeld)

Christoph Dartmann (Hamburg): Kulturelle Diversität und soziale Praxis im spätmittelalterlichen Mediterraneum: Von der Normalität der Unterschiede

Antje Flüchter (Bielefeld): Herausforderungen des Rechtspluralismus in vormodernen Kontaktzonen Asiens

Armin Owzar (Paris): Die langen Schatten des Kulturkampfes: Religiöse Diversität und konfessionelle Konflikte in Deutsch-Ostafrika

Frank Grüner (Bielefeld): Objekt imperialer Ambitionen und Melting Pot der Kulturen: Die Entwicklung der mandschurischen Stadt Harbin von einer russischen Kolonie zur multinationalen Metropole in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts