HT 2018: Das große Spaltungsprojekt? Volksbefragungen und die gesellschaftliche Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses

HT 2018: Das große Spaltungsprojekt? Volksbefragungen und die gesellschaftliche Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Victor Jaeschke, Universität Potsdam

Während in Brüssel die Brexit-Verhandlungen liefen, widmete sich auf dem 52. Historikertag in Münster die Sektion „Das große Spaltungsprojekt? Volksbefragungen und die gesellschaftliche Akzeptanz des europäischen Einigungsprozesses“ unter der Leitung von DOMINIK GEPPERT (Bonn, mittlerweile Potsdam) der Frage, welche Chancen und Risiken Referenden zu europapolitischen Themen bergen. Das interdisziplinäre Panel bestehend aus einer Journalistin, einem Juristen und zwei Historiker/innen, kam dabei zu einem ambivalenten Ergebnis. Der zeithistorisch informierte Blick auf vergangene Referenden in Mitgliedstaaten der EG/EU führte vor Augen, dass diese häufig aus innenpolitischem Kalkül zweckentfremdet wurden. Gleichzeitig wurde deutlich, dass Referendumsdebatten dazu beitragen können, bereits existierende innergesellschaftliche Konflikte aufzudecken und in den Fokus von Publizistik und Öffentlichkeit zu rücken.

Dominik Geppert nahm in der Einführung den politischen Diskurs zum "Brexit" in Großbritannien zum Anlass, auf die spaltende Wirkung des europäischen Integrationsprojektes hinzuweisen, die er auch in anderen europäischen Ländern ausmacht. Er warf die Frage auf, welcher Art die in der Referendumsdebatte zutage getretene Spaltung sei – kämpften hier illiberale Populisten gegen undemokratische Eliten oder engstirnige Nationalisten gegen abgehobene Kosmopoliten? Daraus entwickelte er die Grundsatzfrage, ob Plebiszite zur europäischen Einigung prinzipiell als schädlich zu bewerten sind, da sie durch Zuspitzung und Vereinfachung ganze Gesellschaften polarisieren, oder ob sie nicht doch auch zur Demokratisierung des europäischen Integrationsprozesses beitragen können. Geppert wies außerdem darauf hin, dass die Referendumsforschung bisher von den Rechts- und Sozialwissenschaften bestimmt sei und betonte die Potenziale, die er für die Geschichtswissenschaft auf diesem Themenfeld sieht. Erstens könnten über diachrone Vergleiche längere Zeiträume in den Blick genommen werden, um nach Mustern bei Abhaltung und Ausgang von Referenden zu fragen. Zweitens könnten Historiker/innen zur Kontextualisierung von Referendumsdebatten beitragen, indem sie anhand historischer Fallbeispiele auf politik-, kultur- und sozialgeschichtliche Zusammenhänge hinwiesen. Drittens sieht Geppert in der Untersuchung von Identitäts- und Selbstverständigungsdiskursen, die sich im Brennglas der Referendumswahlkämpfe offenbarten, eine Chance, historische Perspektiven mit Mehrwert in die wissenschaftliche Debatte einzubringen.

Im ersten Vortrag der Sektion nahm die Auslandskorrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Paris, MICHAELA WIEGEL (Paris), das französische Referendum zum europäischen Verfassungsvertrag von 2005 in den Blick, das mit einer knappen Mehrheit gegen die Annahme des Vertrages ausging. Für das Zustandekommen dieses Ergebnisses machte Wiegel mindestens zwei ausschlaggebende Faktoren aus: Erstens die scharfe Kritik an Europa, die auch aus der Präsidentenpartei kam, auch wenn Präsident Jacques Chirac selbst den Verfassungsvertrag unterstützte und zweitens den Umstand, dass viele Wähler/innen weniger über den Verfassungsvertrag als solchen, als über die äußerst kontrovers diskutierte Osterweiterung des Vorjahres abgestimmt hätten. Darüber hinaus unterstrich Wiegel, dass man das Wahlergebnis retrospektiv als Warnschuss für eine Entwicklung interpretieren müsse, die in der Präsidentschaftswahl von 2017 besonders prägnant hervorgetreten sei – den Schwund eines breiten gesellschaftlichen Konsenses über den Fortgang des europäischen Integrationsprojektes hin zu einer „immer engeren Union“ und eine Polarisierung der Gesellschaft anhand dieser neuen Bruchlinie. Integrationskritische Spitzenkandidat/innen konnten 2017 in der ersten Wahlrunde fast die Hälfte aller Stimmen auf sich vereinen. Wiegel zitierte zudem eine demoskopische Studie, die den Verdacht erhärtet, dass es zwischen dem Referendum von 2005 und der Präsidentschaftswahl von 2017 eine direkte Verbindung gibt. Ein Großteil der „Ja-Sager“ des Referendums wählten demnach 2017 Emmanuel Macron, während die Mehrheit der „Nein-Sager“ von 2005 in der Präsidentschaftswahl zwölf Jahre später für Marine Le Pen oder den Sozialisten Jean-Luc Mélenchon stimmten, der sich im Wahlkampf ebenfalls mit einer ablehnenden Haltung zur EU profilierte.1 Die Wahl 2017 habe somit einer Neuauflage des EU-Referendums von 2005 geähnelt, so das pointierte Fazit Wiegels.

Im zweiten Vortrag widmete sich MATHIAS HÄUßLER (Cambridge, mittlerweile Regensburg) den zwei Referenden zur europäischen Einigung in Großbritannien von 1975 und 2016 in vergleichender Perspektive und stellte sowohl strukturelle Gemeinsamkeiten als auch starke spezifische Unterschiede heraus. Der Vortrag war von der Frage geleitet, warum 2016 die "Brexiteers" die Nase vorn hatten, während das Referendum von 1975, das in vielerlei Hinsicht als Vorbild für die Brexit-Abstimmung diente und bei dem ebenfalls die Mitgliedschaft Großbritanniens in der EG auf dem Spiel gestanden hatte, noch verhältnismäßig eindeutig für einen Verbleib in der Gemeinschaft ausgegangen war. Folgt man den Ausführungen Häußlers zu den Kampagnen der "Remainers" von 1975 und 2016, erscheinen die Unterschiede im Wahlausgang besonders erstaunlich. Demnach habe die Labour-Regierung unter Harold Wilson 1975 genauso wenig wie die konservative Regierung unter David Cameron vierzig Jahre später einen positiven Bezug zum Einigungsprojekt entwickelt, sondern in erster Linie die Gefahren unterstrichen, die bei einem Austritt drohten. Die entscheidenden Unterschiede zwischen den Referenden von 1975 und 2016 machte Häußler schließlich in der Spezifik des jeweiligen historischen Kontextes aus. Erstens sei die Presse bei der Brexit-Abstimmung im Gegensatz zu dem historischen Vorbild von 1975 zum Großteil auf der Seite der Leave-Kampagne gewesen. Zweitens sei die EU-Opposition 2016 wesentlich besser organisiert und stärker im politischen Mainstream verankert gewesen als vierzig Jahre zuvor. Den gravierendsten Unterschied sah Häußler jedoch darin, dass das Thema Migration beim Brexit-Referendum eine entscheidende Rolle gespielt und die Gemüter wesentlich stärker erregt habe als die „bread and butter“ Themen des Mitgliedschaftsreferendums von 1975, die vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise im Fokus des Referendumswahlkampes gestanden hatten. Als wichtigste Gemeinsamkeit der beiden untersuchten Referenden unterstrich Häußler, dass sowohl 1975 als auch 2016 innerparteiliche Konflikte um den Kurs in der Europapolitik auf das Wahlvolk abgewälzt werden sollten – mit weitreichenden Folgen im jüngeren der beiden Fälle.

KORINNA SCHÖNHÄRL (Frankfurt a.M.) erweiterte die Perspektive geographisch nach Südosten, indem sie das griechische Referendum von 2015 zu den Reformauflagen der Troika mit dem Blick der Historikerin analysierte. Sie verschaffte der Zuhörerschaft nicht nur einen informierten Überblick über die komplexe Vorgeschichte des Referendums seit der Subprime-Krise von 2008, sondern leuchtete auch die politischen Diskurse während der Referendumsdebatte in ihrer historischen Dimension aus. So wies sie darauf hin, dass die Ablehnung der Auflagen – 61 Prozent der Wahlberechtigten stimmten mit „Nein“ – einer bis in die 1820er Jahre zurückreichenden Tradition folge, nach der die Einmischung fremder Mächte in innergriechische Angelegenheiten als Demütigung wahrgenommen werde. Zudem sei das Wort „Nein“ emotional aufgeladen gewesen. Eindringlingen ein lautstarkes „Ochi“ (= Nein) entgegenzuwerfen sei, so Schönhärl, explizit mit der Absage an die Gebietsansprüche des faschistischen Italiens 1940 und dem Eintritt Griechenlands in den Zweiten Weltkrieg in Verbindung gebracht worden. Die Antwort auf die Frage nach dem Kalkül der Regierung Alexis Tsipras, die das Referendum angesetzt hatte, gestaltete sich in Griechenland ungleich komplizierter als bei den vorangegangenen Beispielen. So sei bis heute unklar, ob Tsipras lediglich den Eindruck hinterlassen wollte, alles Menschenmögliche getan zu haben, bevor er sich den Auflagen der EU wenige Tage später beugte, ob er eigentlich auf ein „Ja“ spekuliert hatte oder ob er das Referendum taktisch in den Verhandlungen mit der EU einsetzen wollte.

Als letzter Vortragende des Panels wandte sich der Professor für Staatsrecht und ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht, UDO DI FABIO (Bonn), der Bundesrepublik Deutschland zu und behandelte damit ein untypisches Fallbeispiel, da die Bundesrepublik eines der wenigen Mitgliedsländer der EU ist, in dem noch nie ein Referendum zum europäischen Integrationsprozess abgehalten wurde – dies liegt freilich daran, dass Volksbefragungen auf Bundesebene vom Grundgesetz nicht vorgesehen sind. Fragen danach, wie weit die Abtretung von Kompetenzen an die europäischen Gemeinschaftsinstitutionen gehen darf, werden hierzulande an die Richter/innen in Karlsruhe delegiert. Zentrales Anliegen Di Fabios war es, auf das immanente und unauflösliche Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und internationalen Staatenbeziehungen aufmerksam zu machen. In dieser Hinsicht sei das Grundgesetz klar und ambivalent zugleich. Die Souveränität gehe zwar vom Volk aus, gleichzeitig solle Deutschland jedoch Teil von internationalen Organisationen wie NATO, Vereinte Nationen oder EU sein, die ohne eine partielle Abtretung von staatlichen Hoheitsrechten naturgemäß nicht auskommen. Dementsprechend seien auch die Urteile des Verfassungsgerichts zur europäischen Einigung von dieser Spannung geprägt gewesen – eine Ambivalenz, die das Gericht jedoch nicht erfunden, sondern vorgefunden habe, so Di Fabio. Seit dem Vertrag von Maastricht 1992 seien die Urteile des Karlsruher Gerichts zu EU-Vertragsänderungen daher häufig „Ja, aber“-Entscheidungen gewesen, in denen festgestellt worden sei, dass zwar noch genügend Kompetenzen aufseiten der Mitgliedstaaten verblieben, dass aber darauf zu achten sei, dass dies auch so bliebe. Um diese Gratwanderung auch in Zukunft meistern zu können, plädierte Di Fabio dafür, den bundestaatlichen Charakter der Union zu stärken. Es gelte, die EU in jenen Bereichen zu stärken, in denen bundestaatliche Institutionen klassischerweise ihre Stärken hätten, beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik, und den Einfluss der Gemeinschaftsinstitutionen im Alltag der Bürger/innen Europas nach dem Prinzip der Subsidiarität zu verringern.

Das planmäßige Programm der Sektion schloss mit einigen zusammenfassenden Worten von Dominik Geppert. Er stellte erstens fest, dass Referenden zunehmend disruptiven Charakter hätten. Lange Zeit seien bis auf wenige Ausnahmen die Verhandlungsergebnisse der politischen Führung von Referenden bestätigt worden. Seit Anfang der 2000er-Jahre sei hingegen eine Trendwende zu verzeichnen, die mit dem Brexit ihren vorläufigen Höhepunkt erfahren habe. Ein Abflauen dieses Trends sei dabei vorerst nicht zu erwarten, so Geppert. Gerade durch die jüngeren Referenden seien Präzedenzfälle geschaffen worden, die den Druck auf andere Mitgliedstaaten erhöhten, ähnliche Abstimmungen abzuhalten. Zweitens schlug Geppert eine historische Typologie von Referenden zur Europapolitik vor. „Mitgliedschaftsreferenden“ hätten sich auf einen längeren Zeitraum gesehen noch als die am wenigsten problematische Kategorie erwiesen. „Integrationsreferenden“ zu Vertragsänderungen seien schon von einer höheren Ablehnungsquote gekennzeichnet, während die erst in den letzten Jahren häufiger abgehaltenen „Referenden über politische Projekte“ wie Geld-, Fiskal- oder Flüchtlingspolitik eine noch höhere Ablehnungsquote erwarten lassen würden. Drittens unterstrich Geppert, würden geschichtswissenschaftliche Analysen vergangener Referendumswahlkämpfe zeigen, dass diese in hohem Maße von nationalen Deutungszusammenhängen geprägt seien. In den Debatten sei es immer auch um die vermeintliche Verteidigung der eignen politischen Kultur, Traditionen und Bedürfnisse gegangen. Referenden könnten demnach als Revolte gegen vereinheitlichende Entwicklungen in der EU gelesen werden. Sollten solche Abstimmungen in Zukunft vermehrt auftreten, sei eine Entwicklung hin zur Unregierbarkeit der EU nicht länger auszuschließen, gab Dominik Geppert zu bedenken.

Die Sektion zeigte, dass Referenden zur europäischen Einigung ein vielschichtiges Forschungsobjekt darstellen, das hohe Gegenwartsrelevanz besitzt und aufgrund der großen Zahl historischer Fallbeispiele – in den Vorträgen konnten nur vier von bisher sechzig Referenden zu Fragen der europäischen Integration behandelt werden – zahlreiche Anknüpfungspunkte für zeitgeschichtliche Forschungsvorhaben bietet. Wie dies gelingen kann, darauf wiesen in der Diskussion mehrere Vortragende hin, hat kürzlich Robert Saunders in einer monographischen Analyse gezeigt, mit der er im Prisma des britischen Mitgliedschaftsreferendums von 1975 eine ganze Politik-, Kultur- und Sozialgeschichte des Vereinigten Königreichs in den 1970er -Jahren vorgelegt hat. 2

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Dominik Geppert (Bonn, mittlerweile Potsdam)

Dominik Geppert: Einleitung und Kommentar

Michaela Wiegel (Paris): Die französischen Volksabstimmungen zur Ratifizierung des Maastricht-Vertrages von 1992 und zur Europäischen Verfassung von 2005

Mathias Häußler (Cambridge, mittlerweile Regensburg): Der ewige Außenseiter? Die britischen EG/EU Referenden 1975 und 2016 im historischen Vergleich

Korinna Schönhärl (Frankfurt am Main): „Ja“ oder „Nein“? Das griechische Referendum von 2015 über die Konditionen der Geldgeber

Udo di Fabio (Bonn): Die sperrige Volkssouveränität: Das Bundesverfassungsgericht und der Prozess der europäischen Einigung

Anmerkungen:
1 Lucas Gautheron, De 2005 à 2017: qu’ont voté les gens du “oui”, et les gens du “non”?, in: Mediapart 19.05.2017, https://blogs.mediapart.fr/lucas-gautheron/blog/180517/de-2005-2017-quont-vote-les-gens-du-oui-et-les-gens-du-non (09.10.2018).
2 Robert Saunders, Yes to Europe! The 1975 Referendum and Seventies Britain, Cambridge 2018.


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