HT 2018: Warum Europa, welches Europa? Herausforderungen einer europäischen (Zeit-)Geschichtsschreibung zwischen Globalisierung und Rückkehr der Nationalismen

HT 2018: Warum Europa, welches Europa? Herausforderungen einer europäischen (Zeit-)Geschichtsschreibung zwischen Globalisierung und Rückkehr der Nationalismen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Carina Gabriel-Kinz, Geschichte Westeuropas, Universität Kassel

Die Sektion von SONJA LEVSEN (Freiburg im Breisgau) und JÖRG REQUATE (Kassel), die am letzten Veranstaltungstag des 52. Historikertags stattfand und gut besucht war, thematisierte die Herausforderungen und Chancen einer europäischen Zeitgeschichtsschreibung. Im Fokus standen Fragen danach, wie und ob sich Europa als Kategorie zeithistorischer Untersuchungen zwischen der Hinwendung zum Globalen und der traditionell nationalstaatlich ausgerichteten Historiographie vor dem Hintergrund politischer Szenarien wie der Eurokrise und dem Aufschwung antieuropäischer Ideologien bewähren könne.

In der Einführung der Sektion formulierten Levsen und Requate sieben Thesen, welche die europäische Historiographie problematisierten wie auch auf Anforderungen an eine gelingende europäische Geschichtsschreibung verwiesen. Zentral waren dabei die Fragen, inwiefern die „Europäisierung“ der Geschichtswissenschaft 2018 noch immer als Zukunftsprojekt verstanden werden könne und wie sie sich zur Internationalisierung bzw. Globalisierung verhalte: Erstens sei europäische Geschichte in den 2000er-Jahren als Instrument der Überwindung des methodischen Nationalismus konzipiert worden. Dabei sei die Geschichte der Nationen um eine Erforschung Europas ergänzt worden, die jedoch in den jeweiligen nationalen Historiographien sehr unterschiedliche Züge getragen habe. Während in der deutschen Historiographie Transnationalisierung für einen gewissen Zeitraum mit Europäisierung gleichgesetzt worden sei, hätten sich andere europäische Historiographien nicht immer in Richtung Europa geöffnet. Vielmehr sei der Blick in Abhängigkeit von Politik, Identität und Forschungskultur auch in andere Regionen außerhalb Europas gelenkt worden. Mit dem Erfordernis einer präziseren Definition von europäischer Geschichte und einer Verortung derselben zwischen der National- und Globalgeschichte seien zweitens Fragen nach dem Raum und der Methodik verbunden, die wiederum nur im Austausch von Wissenschaftler/innen der europäischen Länder beantwortet werden können. Zentrale Debatten seien bislang nebeneinanderher gelaufen und national gerahmte Historiographien hätten wenig grenzübergreifende Rezeption entwickelt. Die Forderung von Levsen und Requate nach einer länderübergreifenden Methodendebatte ging mit drittens der Forderung nach Begriffspräzisionen einher, die klären sollen, was für eine europäische Geschichte konstitutiv ist und auf welchen Europabegriff sich bezogen wird. Dabei müssten die historischen Verschiebungen der Vorstellungen von Europa als Raum mitbedacht werden. Viertens enthalte die wissenschaftliche Beschäftigung mit europäischer Geschichte politische Implikationen, die sich aktuell in einer zweifachen Skepsis gegenüber einer europäischen Geschichte manifestieren würden: Zum einen werde europäische Geschichte als Legitimationsinstrument für die Europäische Union verstanden. Zum anderen werde ihr eine eurozentristische Perspektive unterstellt. Dennoch manifestiere sich fünftens ein besonderes Erkenntnispotential in der europäischen Geschichte, da die Fülle an Quellen ebenso wie die Ähnlichkeit einiger europäischer Gesellschaften dezidierte komparative wie transnationale Studien ermögliche, die sich in den Dienst der Dekonstruktion von Nationalgeschichten stellen könnten. Der Nationalstaat müsse dabei nicht zwangsläufig als Vergleichsgegenstand herangezogen werden, sondern stelle eine von vielen möglichen Untersuchungskategorien dar. Strukturelle Problematiken würden sich sechstens in den immer noch an Nationengrenzen orientierten Forschungsförderprogrammen und siebtens in einem an Nationengrenzen gebundenen wissenschaftlichen Buch- und Zeitschriftenmarkt manifestieren, dem open access und eine Europäisierung der Rezeptionskultur entgegenwirken könnten. Die anschließenden Vorträge präzisierten die sieben Thesen mit unterschiedlichem Fokus:

Den Auftakt machte MARTIN CONWAY (Oxford), indem er die Krisensituation Europas und deren Auswirkungen auf eine europäische Geschichtsschreibung vertiefte. Generell hätten sich die Konzepte Europa und Geschichte über die Zeit hinweg wechselseitig beeinflusst: Zum einen sei Europa als Produkt der Geschichte zu verstehen, während die europäische Zeitgeschichtsschreibung wiederum die Sinnhaftigkeit der Entwicklung Europas und deren Ziele vorformuliert habe. Conway sieht den Ursprung einer europäischen Geschichtsschreibung in den wissenschaftlichen Emanzipationsbestrebungen einer vorwiegend jungen Generation von Historiker/innen, die seit den 1980er-Jahren die Überwindung nationaler Geschichten auf den Weg gebracht habe. Die Auseinandersetzung mit Europa in der Forschung sei en vogue geworden, weshalb viele transnationale Studien entstanden sind. Europa sei dabei zweierlei gewesen: zum einen Untersuchungsgegenstand, zum anderen aber auch Methodologie. Bei der Betrachtung der Dynamiken des Europäischen in den Studien seien viele Formen dessen, was unter europäisch verstanden wurde, zu konstatieren. Entgegen dem Aufschwung einer europäischen Geschichte von 1980 bis in die 2000er-Jahre bleibe festzustellen, dass die Forschungslandschaft in den „Krisenzeiten“ Europas zunehmend an transnationalem Austausch eingebüßt hat und dass sich durch die Immobilität der Historiker/innen die Strukturen der nationalen Forschungslandschaften zunehmend verfestigten. Zudem sei es dadurch, dass Parteien des rechten politischen Spektrums die europäische Geschichte für ihre Zwecke instrumentalisierten, für Historiker/innen schwieriger geworden, sich ihrerseits affirmativ auf das europäische Erbe zu beziehen. Gleichwohl sah er in der Krise Europas auch eine Chance für die europäische Historiographie. Er plädierte in diesem Sinne für mehr Offenheit im Umgang mit Definitionen und den Vorstellungen, wohin der Weg für Europa geht.

Mit seinem Beitrag skizzierte MARTIN SCHULZE WESSEL (München) anhand von Forschungsinstitutionen die Entwicklung integrativer Projekte nach, die den Blickwinkel der Forschung nach Osteuropa richteten. In diesem Zusammenhang stellte Wessel das „Geisteswissenschaftliche Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ in Leipzig, das „Berliner Zentrum für vergleichende Geschichte Osteuropas“ und das „Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam“ heraus, die zwar unterschiedliche Arbeitsprogramme, aber auch Gemeinsamkeiten aufwiesen. Neben dem Dialog mit der Geschichtswissenschaft in Ostmitteleuropa verfolgten alle einen gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Theorieansatz. Wessel stellte fest, dass die Impulse der drei Institutionen bis heute nachwirken würden, wenngleich sich europageschichtliche Ansätze zugunsten globalgeschichtlicher Programme gewandelt hätten. Auch sei der gesellschaftsgeschichtliche Ansatz von Fragen nach Gedächtnis und Erinnerung verdrängt worden. Innerhalb der europäischen Zeitgeschichtsschreibung seien Fragen zur Identität ins Zentrum des Erkenntnisinteresses gerückt, als die Rolle Ostmitteleuropas mit Blick auf Kollaboration, Widerstand und Vertreibung untersucht wurde. Im Rahmen von Studien, die sich mit Vertriebenen aus östlichen Regionen beschäftigen, wurden laut Wessel kulturelle Unterschiede verstärkt herausgestellt. Er stellte daher fest, dass nach den institutionellen Entwicklungen in den 1990er-Jahren zwar viele transnationale Forschungsprojekte existiert hätten und noch existieren würden, bislang jedoch kein übergreifendes Forschungsprogramm vorzuweisen sei. Er fordert daher insbesondere, Räume des Austauschs zu schaffen, in denen gemeinsam transnationale Reflexion praktiziert wird, um Spaltungen in der Zeitgeschichte Europas überwinden zu können.

Die erste Diskussionsrunde schloss mit Fragen unter anderem von ISABEL HEINEMANN (Münster) und TATJANA TÖNSMEYER (Wuppertal) an. Thematisiert wurden Leitkategorien und Raumkonzepte bei der Untersuchung Europas und die Frage, wo sich die Vortragenden innerhalb der europäischen Historiographie selbst verorten würden. Zudem wurde Conways Forderung nach allgemeiner Offenheit im Umgang mit Europa bekräftigt.

CLAUDIA GATZKA (Freiburg im Breisgau) eröffnete mit ihrem Vortrag den zweiten Teil der Sektion. Dabei dekonstruierte sie mit zwei Einwänden die Annahme neuerer Forschungen insbesondere zur Friedensbewegung, dass es sich dabei um eine gesamteuropäische Geschichte der Demokratie handeln würde, die den Konflikt zwischen kapitalistischen und kommunistischen Systemen der Nachkriegszeit überwunden hätte. Ihr erster Einwand problematisierte die Begrifflichkeit und das Verständnis von „europäisch“ in Abgrenzung zu „transnational“ und „global“. Das „Europäische“ an Partizipationsphänomenen manifestiere sich laut Gatzka in der Relevanz der europäischen Öffentlichkeit oder des europäischen Selbstverständnisses für die partizipierenden Akteure selbst. Ebenso sei mit Blick auf eine europäische Geschichte der Frage nachzugehen, worin sich ein westeuropäisches Problem mit Partizipation in der Nachkriegsdemokratie manifestiert. Gatzka konstatierte in diesem Zusammenhang ein geteiltes westeuropäisches Problem und verwies dabei unter anderem auf Martin Conways Forschungen zum „postwar model of European democracy“.1 Ihr zweiter Einwand hinterfragte die Konzeptionalisierung von Partizipation in der Zeitgeschichtsforschung. Sie plädierte für eine historische Partizipationsforschung in der Demokratie, die von einem breiteren politischen Partizipationsverständnis ausgeht. Zudem machte sie den Vorschlag, eine westeuropäisch vergleichend angelegte Problemgeschichte politischer Partizipation zu verfolgen und Westeuropa als Resonanzraum verschiedener Bewegungen zu verstehen.

KIRAN K. PATEL (Maastricht) bestätigte in seinem Vortrag, dass die europäische Geschichte im Vergleich zu den 1990er- und frühen 2000er-Jahren insgesamt an Einfluss verloren habe, wohingegen die Globalgeschichte insbesondere innerhalb der deutschen Zeitgeschichtsforschung aktuell einem Hype unterliege. Patel begreift den historiographischen Wandel nicht als Krise der europäischen Geschichtsschreibung, sondern versteht die Hinwendung zur Globalgeschichte im Sinne einer De-Europäisierungsgeschichte als Phänomen der europäischen Geschichte selbst. Er betonte das synergetische Verhältnis von Globalgeschichte und europäischer Geschichte, das er am Beispiel der post-colonial studies verdeutlichte. Zudem sieht er eine Möglichkeit der gegenseitigen Befruchtung in der Kombination der Eurozentrismusdebatte und der sozialkonstruktivistischen Wende zugrundeliegenden Theorien und Methoden. Diese müssten wiederum an der Schnittstelle von europäischer und globaler Geschichte weitergedacht werden. Die begriffliche Dichotomie von Europäischem und Nicht-Europäischem sei mit Blick auf andere räumliche Konzepte wie die der Third Spaces zu überwinden.

Den Abschluss der Sektion machte ANNE KWASCHIK (Konstanz), indem sie argumentativ eine positive Standortbestimmung der europäischen Zeitgeschichtsschreibung verfolgte. Sie problematisierte das Narrativ der Krise bei der aktuellen Verortung der europäischen Zeitgeschichtsschreibung. Stattdessen befinde sich die europäische Zeitgeschichte in einem Transformationsprozess, in dem sie jedoch keiner Bedrohung durch die Globalgeschichte ausgesetzt sei. Die Übergangsphase diene vielmehr dazu, die europäische Geschichtswissenschaft in die Welt einzubetten. Die Transformationskrise selbst sei als ein europäisches Phänomen zu konstatieren. Der Vergleich als methodische Herangehensweise für die europäische Geschichtswissenschaft, wie schon Marc Bloch in den 1930er-Jahren propagierte, könne zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch weiterhin innovative Perspektiven für die Zeitgeschichte aufmachen. Themen wie Migration, Demokratie, Diktatur, Wissensgesellschaften und Formen der Bürokratisierung böten Möglichkeiten, transkulturelle Vergleiche für die europäische Zeitgeschichte vorzunehmen.

Die zweite Diskussionsrunde thematisierte unter anderem strukturelle Möglichkeiten deutscher Forschungsinstitutionen in Hinblick auf eine gelingende europäische Zeitgeschichtsschreibung. Entgegen der in den Vorträgen formulierten Anforderungen an die Forschenden, verschiedene Sprachen und kulturelle Praktiken in einer Person zu vereinen, bekräftigten CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Marburg an der Lahn) und CHRISTINA SCHRÖER (Freiburg im Breisgau) das Vorhandensein vieler Kompetenzen. Eine europäische Geschichtswissenschaft könne sich mit gezielten Fragestellungen und einem offenen und flexiblen Umgang zwischen National- und Globalgeschichte behaupten. Hinsichtlich der Zugänge einer spezifisch europäischen Geschichtsschreibung forderte FREDERIKE SCHOTTERS (Tübingen) in Anlehnung an die Sektion von Julia Angster, mehr Globales im Nationalen zu suchen. BETTINA HITZER (Berlin) sprach sich für Fragestellungen aus, die auf Ähnlichkeiten abzielen. HÉLÈNE MIARD-DELACROIX (Paris) sieht in der Berücksichtigung und Untersuchung des Regionalen eine Chance. Zudem komme es auf das Standortbewusstsein des Verfassers bei der europäischen Geschichtsschreibung an. Der Anmerkung von JOHANNES PAULMANN (Leipzig), dass der nationale Vergleich noch keine europäische Geschichtsschreibung sei, entgegneten Levsen und Requate, indem sie komparatistische Methoden gerade als Chance für eine europäische Geschichtsschreibung starkmachten.

Der rote Faden der Sektion zeigte sich insgesamt anhand von Reflexionen über Gedächtnis und Erinnerung, die einmal mit Blick auf Osteuropa (Wessel) sowie zum anderen mit Fokus auf die französische Geschichtsschreibung (Kwaschik) und den Revisionsfragen der national-orientierten Lieux de mémoire von Pierre Nora erörtert wurden. Nachdem Conway die verschiedenen Aspekte der Krisenhaftigkeit einer europäischen Geschichtsschreibung eingeführt hatte, lieferten Patel und Kwaschik Argumente für eine positive Sicht auf die Krisensituation einer europäischen Geschichte – ein Ausgangspunkt, der auf die produktive Fortentwicklung einer europäischen Zeitgeschichtsschreibung hoffen lässt.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Sonja Levsen (Freiburg im Breisgau) / Jörg Requate (Kassel)

Einführung: Sonja Levsen (Freiburg im Breisgau) / Jörg Requate (Kassel)

Martin Conway (Oxford): “Europeanization after Europe. A Crisis of European History?”

Martin Schulze Wessel (München): „Bruchlinien der Europäisierung? Osteuropa in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“

Diskussion I

Claudia Gatzka (Freiburg im Breisgau): „Partizipation und Demokratie nach 1945 – eine westeuropäsiche Geschichte?”

Kiran K. Patel (Maastricht): „Essentialisiert, provinzialisiert, eskamotiert? Europa und die Globalgeschichte“

Anne Kwaschik (Konstanz): „Europa – eine Kultur? Französische Perspektiven auf eine europäische Geschichtsschreibung“

Diskussion II

Anmerkung:
1 Martin Conway, Democracy in Postwar Western Europe: The Triumph of a Political Model, in: European History Quarterly 32 (2002), S. 59–84.