Flucht – GRENZE – Integration. 2. Tagung zum Phänomen der Deplatzierung in Europa

Flucht – GRENZE – Integration. 2. Tagung zum Phänomen der Deplatzierung in Europa

Organisatoren
Key Area „MIS – Migration und Interkulturelle Studien“, Universität Luxemburg; Deutsch-Italienisches Zentrum für Europäische Exzellenz „Villa Vigoni“
Ort
Loveno di Menaggio
Land
Italy
Vom - Bis
05.10.2018 - 06.10.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulla Connor, UniGR Center for Border Studies, Universität Luxemburg

Die zunehmende globale Verflechtung großer Teile des gesellschaftlichen Lebens stellt zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Sozialwissenschaften vor herausfordernde Fragen. Wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten irritieren eingelebte Ordnungen, wenn sie heute zum Anstoß weltweiter Wanderungsbewegungen werden. Neue und teilweise verschärfte Inklusions- und Exklusionsprozesse manifestieren sich auch tagtäglich in Europa und an seinen Grenzen mit drängender Deutlichkeit. Die dreiteilige Tagungsreihe, die zwischen 2017 und 2019 am Deutsch-Italienischen Zentrum für Europäische Exzellenz „Villa Vigoni“ stattfindet, situiert sich in diesem Themenkomplex unter den Schlagwörtern "Flucht", "Grenze" und "Integration". Während der diesjährigen Tagung stand dabei das Thema "Grenze" im Mittelpunkt der Reflexionen. Das hierbei entwickelte Verständnis von Grenzen konzentrierte sich nicht alleine auf den Grenzübergang, den Zaun oder die Mauer. Stattdessen wurde die Grenze als komplexes Phänomen in den Blick genommen, dass sich in Wechselbeziehungen von Praktiken der Grenzziehung und Grenzübertritten konstituiert. Die Teilnehmenden widmeten sich gemeinsam der Aufgabe, Dynamiken und Grenzen aus ihren jeweiligen Disziplinen heraus zu untersuchen und verstehbar zu machen, jedoch auch zu hinterfragen und dabei neue Verständnisse von Grenzen zu entwickeln.

Die Vielschichtigkeit des Phänomens der Grenze betonte CHRISTIAN WILLE (Luxemburg) in seinem Eröffnungsvortrag. Nicht nur hätten sich, so Wille, die Orte der Grenze vervielfältigt und transformiert, sondern auch die mit ihr verbundenen Erfahrungsräume, Erscheinungsformen und Technologien. Wille leitete daraus die Notwendigkeit einer Neuformulierung des Begriffs der Grenze für wissenschaftliche Untersuchungen ab. Hierfür legte er eine Systematisierung der Entwicklung der Border Studies ab 1960 vor, um deren Institutionalisierung sowie theoretische Konzepte vor dem Hintergrund politischer Ereignisse miteinander zu verbinden. Daraus ließen sich die großen Transformationslinien im Denken der Grenze herausarbeiten: Von der "Prozessualisierung" der Grenze, über den multiplicity shift (vielschichtige Produktion der Grenze) gelangte Wille zur Identifizierung eines complexity shift innerhalb der Border Studies. Letzterer bilde eine geeignete Grundlage, um Grenzen als komplexe Gebilde zu erfassen und damit ein "anderes" Verständnis für Grenzen zu entwickeln, das den neuen Transformationen gerecht werde. Dieser Überblick über die Entwicklung der Border Studies erwies sich im Verlauf der Tagung als hilfreich, um die verschiedenen Beiträge einzuordnen und miteinander ins Gespräch zu bringen.

Die Frage nach der Konzeptualisierung von Grenzen wurde in zwei weiteren Vorträgen aufgegriffen. Zum einen von CHRISTOPH PURSCHKE (Luxemburg), der dem Handlungscharakter von Begrenzungen nachging. Typologisch unterschied Purschke im Anschluss an Lars Kulik zwischen den Begriffen "Rand", "Begrenzung" und "Grenze". Der Aufbau der Argumentation begann systematisch mit dem Fokus auf den praktischen Vollzug von Grenzziehungen. Grenzen seien, so Purschke, an die intentionale Kategorisierung von Einheiten gebunden und führten zur Frage nach den Motiven und der ideologischen Legitimation ihrer Umsetzung. Hinzu kämen die Handlungskonsequenzen, die auch für die Beteiligten nicht immer überschaubar seien. Grenzen seien in dieser Perspektive Mittel zur lebensweltlichen Ordnung der Umwelt und gleichzeitig Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse, in denen sich Deutungshoheiten und Geltungsansprüche immer wieder bewähren müssten. Zum anderen leistete ASTRID M. FELLNER (Saarbrücken) einen konzeptionellen Beitrag, der jedoch stärker der Perspektive des Widerstands und der Hinterfragung von Grenzregimen entsprang. Performance- und Aktionskunst wurden hier zum Ausgangspunkt kritischer Reflexion, wenn sie für Themen wie Grenze und Flucht alternative Deutungen bereitstellen. Die künstlerischen Inszenierungen, so Fellner, würden sich dem Aufeinandertreffen kultureller Positionen in Zwischenräumen widmen und gleichzeitig die gewohnten Dichotomien zwischen dem "Eigenem" und "Fremden" überwinden. Fellners Verständnis von Grenze entfaltete sich dabei entlang des Begriffs der "Bordertexturen",1 der die für Grenzen typischen, agonistischen Beziehungen in den Blick nimmt. Über den Begriff der "Bordertexturen" wurden Grenzen als Netze zwischen Dingen sichtbar, die voneinander getrennt werden sowie als Verdichtungen zu Figuren, die neue Identifikationsangebote bereitstellen könnten.

Der hier berührten Frage nach dem Einschluss und Ausschluss von Gruppen wurde in drei weiteren Vorträgen nachgegangen. Anhand unterschiedlicher, empirischer Fälle wurden dabei die Aushandlung von Subjektpositionen und Grenzziehungen innerhalb hegemonialer Kategorisierungsprozesse verfolgt und ihre Konsequenzen verdeutlicht. Am Beispiel von deutschen Flüchtlingsaufnahmezentren spürte CAROLIN LEUTLOFF-GRANDITS (Frankfurt an der Oder) dazu der Rolle von Zeit und Grenzen als "temporale Barrieren" nach. Zeitverständnisse, so verdeutlichte der Vortrag, würden einerseits in öffentlichen Diskursen und staatlichen Praktiken für Kategorisierungen genutzt. Migrant/innen würden entlang von impliziten Fortschrittsnarrativen in Zuschreibungen der Unterentwicklung und Rückschrittlichkeit begriffen und durch entsprechende Maßnahmen adressiert. Andererseits spiele Zeitlichkeit auch im Alltag in Flüchtlingsheimen eine zentrale Rolle, wenn auf die Aufforderungen der Behörden gewartet oder reagiert werden müsse. Flüchtlinge würden dadurch, so eine der zentralen Thesen Leutloff-Grandits, zu unmündigen "Patienten des Staates" gemacht. Bei STEFANO DEGLI UBERTI (Rom) wurden ähnliche Kategorisierungsprozesse am Beispiel der out-of-quota-Flüchtlinge in Südtirol an der Grenze zu Österreich beschrieben. Da diese Gruppe durch die administrativen Kategorisierungsraster für die Anerkennung des Flüchtlingsstatus fallen, seien sie von Marginalisierung und Exklusion besonders betroffen. Grenzen, hier verstanden als tägliche Regulierungspraxis, stünden in Zusammenhang mit den Zuschreibungen in öffentlichen Diskursen, wenn der Flüchtlingsstatus moralisch und rechtlich infrage gestellt werde. Folgen seien, so zeigte der Beitrag, nicht nur die Versperrung des Zugangs zu Wohnräumen und Sanitäranlagen, sondern auch eine forcierte Mobilität durch die regionalen Behörden, um Aggregation und Sesshaftigkeit zu vermeiden. Betroffene reagierten darauf mit Resignation, aber auch mit Widerstand, wenn sie die Verhältnisse gemeinsam kritisierten und sich öffentlich bemerkbar machten. Dass solche Formen der sozialen Kategorisierungen und ihre Folgen nicht ausschließlich bei Migrant/innen greifen, wurde im Vortrag von EVA NOSSEM (Saarbrücken) deutlich. Der Fall Italien zeige, dass es sich hier nicht nur in Bezug auf Migration um ein Borderland (Balibar) handele, sondern auch mit Blick auf andere soziokulturelle Grenzziehungsprozesse, die jenseits der dichotomen Gegenüberstellung von "Innen" und "Außen" verortet werden müssten. Ein gutes Beispiel fand Nossem in der gesellschaftlichen Aushandlung von Subjektpositionen hinsichtlich Rassismus, Sexualität und Gender in Italien. Bei genauerer Betrachtung zeige sich Italien gemäß Nossems Analyse als ein komplexer Fall: Hier offenbare sich ein Wechselspiel zwischen einem heterosexuellen, als rückständig deklarierten nationalen Raum und dem als modern und in sexualpolitischer Hinsicht liberal konnotierten europäischen Kontext.

Wenn es insgesamt um den Einfluss öffentlicher Diskurse zu den Themen Grenze und Flucht geht, dann ist in den letzten Jahren eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die Mittelmeerregion wahrzunehmen. Das Mittelmeer ist medial zum Gegenstand spektakularisierender Darstellungen geworden. Die sich an Tod und militärischer Intervention orientierenden Narrative, so der kritische Einwand von CHIARA BRAMBILLA (Bergamo), lieferten ein höchst unterkomplexes Bild dieses Grenzraums, das die Regulierungspraxis dessen, was sichtbar gemacht wird außer Acht lasse. Mithilfe ihres Konzepts der borderscapes fasste Brambilla das Geschehen im Mittelmeerraum als komplexe Dynamik zwischen Globalisierung und Lokalisierung, Ästhetik und Politik sowie nationalstaatlicher Hegemonie und pluralen Gegenbewegungen. Brambilla demonstrierte dies am Beispiel der Erfahrungen Jugendlicher aus der italienisch-tunesischen Grenzregion, die den staatlichen Hegemonien Vorstellungen grenzüberschreitender Bürgerschaft entgegensetzen. Hier findet sich eine Quelle für alternative Darstellungen des Mittelmeers, nach denen auch CLAUDIA GUALTIERI (Mailand) suchte. Im Anschluss an postkoloniale Studien fragte Gualtieri aus einem interdisziplinären Blickwinkel danach, welches Vokabular in Frage komme, wenn die Rhetorik des Krieges und der Bedrohung nicht unterstützt werden soll. Hierfür stützte sich Gualtieri auf die historischen Verbindungen, die sich im Mittelmeerraum rekonstruieren ließen. Das Mittelmeer könne aus dieser Perspektive als das verbindende Element fernliegender Welten (zum Beispiel der antiken Mittelmeerstädte) verstanden werden. Diese Beschreibung, so Gualtieri, sei nicht an nationalstaatliche Visionen oder westliche Kenntnisse gebunden, sondern stelle eine unumgängliche Unübersetzbarkeit in Rechnung. Einen dritten Vorschlag für Darstellungen des Mittelmeers jenseits seiner Spektakularisierung lieferte NATHALIE ROELENS (Luxemburg) mit Blick auf die Erfahrungen von Flüchtenden. Dazu konzentrierte sie sich auf das Erleben des Schiffes während der Flucht. Aus einer psychoanalytisch orientierten Perspektive heraus verstand Roelens das Schiff im Anschluss an Donald Winnicott als ein "Übergangsobjekt", als ein Vermittler zwischen dem Inneren und der äußeren Welt. Vor diesem Hintergrund interpretierte Roelens das Schiff einerseits als zwischen dem Individuum und dem antizipierten Reiseziel stehend, wobei es Befreiung verspreche und gleichzeitig die Bedrohung eines Untergangs repräsentiere. Auf der Flucht werde das Schlauchboot andererseits zu einer Art Prothese, die die Autonomie des Menschen infrage stelle und seine Abhängigkeit demonstriere. Die Grenze werde durch das Schiff, so Roelens, zu einem Übergangsbereich, der die Prozesshaftigkeit der Reise und die Fluchterfahrung impliziere.

Das Thema Grenzen, so zeigte im Anschluss an die Beiträge auch die intensive Abschlussdiskussion, berührt grundlegende Fragen der disziplinären Organisation von Wissenschaft. Interdisziplinäre Zusammenarbeit, darüber bestand Einigkeit, bildet eine geeignete Grundlage, um den heutigen Herausforderungen einer Wissenschaft der Grenzen gerecht zu werden. Inhaltlich könne es dabei jedoch nicht um eine Homogenisierung von Methoden oder Ansätzen gehen. Stattdessen wurde eine gemeinsam geteilte Forschungshaltung als fruchtbarer Boden für den interdisziplinären Austausch ausgemacht. Wie einige Teilnehmende anmerkten zeigte sich während der Tagung der gemeinsame Versuch, hegemonialen Diskursen andere und widersprechende Perspektiven entgegenzusetzen, als ein treibender Motor der Auseinandersetzung. Die Aufgabe der Wissenschaft bestehe darin, den verbreiteten reduktionistischen Darstellungen die eigenen Blindflecken aufzuzeigen und sie mit Komplexität anzureichern. Geeignete Strategien für eine verständliche Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse für die außeruniversitäre Welt wurden dafür als Voraussetzung identifiziert. Das Thema Grenzen forderte an dieser Stelle nicht nur disziplinäre Unterschiede während der Tagung immer wieder heraus, sondern auch das Selbstverständnis der Forschenden. Angesichts des politischen Tagesgeschehens drängte sich die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung und Notwendigkeit kritischer Interventionen auf. Das Engagement der Forschenden, so die gemeinsame Überlegung während der abschließenden Diskussion, sei hier sowohl in der universitären Lehre, der Partizipation an öffentlichen Diskursen sowie der Zusammenarbeit mit Künstler/innen und Aktivist/innen gefragt.

Insgesamt zeigte sich die interdisziplinäre Zusammensetzung der Beitragenden während der Tagung als äußerst fruchtbar. Durch die teilweise sehr heterogenen Perspektiven gelang es den Teilnehmenden, sich gegenseitig ungewohnte Blickwinkel zu eröffnen und dadurch einen Austausch über die jeweiligen Verständnisse von Grenzen anzuregen. Für das wissenschaftliche Feld der Border Studies steckte die Tagung sowohl die Grenzen als auch die Möglichkeiten einer interdisziplinären Zusammenarbeit zum behandelten Thema ab. Darüber hinaus ließen sich in den Vorträgen eine große Zahl an Konzepten, Thesen und Perspektiven finden, die in den Border Studies bislang kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei machten sowohl die konzeptionellen wie auch die empirischen Beiträge deutlich, dass das wissenschaftliche Potential, die gesellschaftlichen Grenzziehungen verstehbar aber auch hinterfragbar zu machen, noch lange nicht ausgeschöpft ist. Weiterhin gilt es, die gesellschaftlich relevant gemachten Themen und Diskurse immer wieder neu zu hinterfragen und für ergänzende Perspektiven zu öffnen. Ein solches Thema wäre das der "Integration", das in seiner Definition bislang weitgehend einer staatlichen Sichtweise und essentialisierenden Kulturverständnissen überlassen wird. Nicht umsonst wird die nächste Tagung der Reihe in 2019 dieses Thema in den Mittelpunkt stellen.

Konferenzübericht:

Matteo Scotto (Villa Vigoni) / Nathalie Roelens (Key Area MIS, Universität Luxemburg) / Christian Wille (UniGR-Center for Border Studies, Universität Luxemburg): Begrüßung

Christian Wille (Universität Luxemburg): Für ein ‚anderes’ Verständnis von Grenze: Erfordernisse und Entwicklungen in den Border Studies

Carolin Leutloff-Grandits (Europa-Universität Viadrina Frankfurt an der Oder): Zur Diversifizierung des Rechts auf Asyl und der Schaffung von temporalen Barrieren für Geflüchtete in Deutschland: Eine explorative Annäherung

Stefano degli Uberti (Nationaler Forschungsrat): Confini e processi di categorizzazione. L’esperienza dei “profughi fuoriquota” in Alto Adige (Italia) – (Grenzen und Kategorisierungsprozesse. Die Erfahrung der Flüchtlinge „fuori quota“ in Südtirol (Italien))

Eva Nossem (Universität des Saarlandes): Omo(trans)nazionalismo nei borderlands italiani ed europei – (Homo(trans)nationalismus in den Borderlands Italien und Europa)

Christoph Purschke (Universität Luxemburg): Theoretische Ansätze zu einer Praxeologie der Grenze

Chiara Brambilla (Universität Bergamo): Per una de-spettacolarizzazione delle frontiere mediterranee attraverso l’approccio del borderscaping. L’esempio di una ricerca etnografica con i giovani nel borderscape italo/tunisino – (Für eine Ent-Spektakularisierung der Mittelmeergrenzen durch den Ansatz des borderscaping. Das Beispiel einer ethnographischen Forschung mit Jugendlichen der italienisch-tunesischen borderscape)

Astrid M. Fellner (Universität des Saarlandes): „Grenzen der Gastfreundschaft“: Kulturelle Praktiken und ästhetische Aushandlungen von Grenzen in Fluchträumen

Claudia Gualtieri (Universität Mailand): Attraverso il Mediterraneo: la linea del confine e l’estetica del confine nel mare di mezzo – (Über das Mittelmeer: Die Linie der Grenze und die Ästhetik der Grenze im mittleren Meer)

Nathalie Roelens (Universität Luxemburg): “E la nave va”. L’oggetto transizionale della fuga – („Das Schiff der Träume“. Das Übergangsobjekt der Flucht)

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Der Begriff wurde von der deutsch-luxemburgischen Arbeitsgruppe Bordertexturen entwickelt. Siehe: https://www.uni-saarland.de/page/bordertexturen/startseite.html (29.10.2018)


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