A Usable Past? Roles of the historian and the politics of memory in Europe

A Usable Past? Roles of the historian and the politics of memory in Europe

Organisatoren
Prof. Dr. Christoph Conrad, Université de Genève, Schweiz
Ort
Genf
Land
Switzerland
Vom - Bis
12.05.2005 - 13.05.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Franziska Metzger, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg/Schweiz

In den letzten Jahrzehnten wurde, gefördert durch konstruktivistische und poststrukturalistische Ansätze in den Sozial- und Kulturwissenschaften, der Fokus auf die Erinnerungsfunktion in der Produktion von Geschichte zentral. Erinnerungsorte, "inventions of tradition", Geschichts- und Erinnerungspolitik rückten ins Zentrum historiographie-, nationalismus- und identitätsgeschichtlicher Projekte. Dan Diner spricht in seinem Buch "Gedächtniszeiten" in Bezug auf die historischen Deutungsmuster im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von einer Verschiebung vom Konzept der "Gesellschaft" hin zu dem des "Gedächtnisses". 1 Zentraler Bestandteil dieser Verschiebung waren die Transformationen der Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern seit den 1960er und insbesondere in den 1990er Jahren. In jüngster Zeit ist gerade auch hier der Komplex von Geschichte und Gedächtnis ins Zentrum gerückt 2, indem die Pluralität konstruierter Wirklichkeiten der Vergangenheit, von Diskursen der individuellen und kollektiven Erfahrung und von deren gedächtnis- und geschichtsprägenden Mechanismen angegangen und Geschichtsschreibung als Teil des kollektiven Gedächtnisses und der Erinnerungskultur reflektiert wird.

Die am 12. und 13. Mai 2005 im Château de Coppet bei Genf organisierte zweite Cross-team Konferenz des Programms der European Science Foundation "Representations of the Past: the Writing of National Histories in Europe (NHIST)" brachte die beiden skizzierten Ebenen - die Konstruktion von "usable past(s)" und die Transformation der Geschichts- und Erinnerungsdiskurse - mit geschichtstheoretischen Reflexionen - zusammen.

Mit dem Historiker als Experten befasste sich OLIVIER DUMOULIN (Lille). Er situierte den Experten an der Schnittstelle von Geschichtsschreibung und Politik bzw. Öffentlichkeit und unterschied drei mögliche Funktionen: den Historiker als Berater (wie er schon in der frühen Neuzeit in der Person des Beraters des Herrschers zu finden ist); den Historiker als Experten vor Gericht (der "Expertenzeuge"); den Historiker als selbst-ernannten Experten, der als Historiker-Intellektueller in der Öffentlichkeit auftritt. Dumoulin verwies auf die zentralen epistemologischen Fragen, die sich in Bezug auf die Expertenrolle des Historikers ebenso zeigten wie für die Geschichtsschreibung generell. So manifestiert sich die Frage der Wahrheitsproduktion gerade im Verhältnis von Geschichtsschreibung und Expertentum und zudem in den drei Typen wiederum in unterschiedlicher Weise. Dabei könnte man von unterschiedlichen Wahrheitsdiskursen sprechen.

NIEK VAN SAS (Amsterdam) nahm die jüngsten Diskussionen in den Niederlanden um einen "nationalen historischen Kanon", um eine Renationalisierung der niederländischen Geschichte, die als Teil einer breiteren Debatte um die nationale Identität zu deuten sei, zum Ausgangspunkt einer Analyse der nationalen Meistererzählungen in den Niederlanden des 19. und 20. Jahrhunderts. Er verfolgte ihre Veränderungen von den seit dem Nation building und bis zum Zweiten Weltkrieg dominierenden Narrativen des "Goldenen" 17. Jahrhunderts zur Denationalisierung der niederländischen Geschichtsschreibung seit den 1960er und 1970er Jahren. Dabei gelangte van Sas zu der doppelten These, dass die "Versäulung" der niederländischen Gesellschaft - ähnlich wird für Deutschland und die Schweiz von der Herausbildung von Sozialmilieus gesprochen - die nationale Geschichtskultur wesentlich geprägt hätte. Umgekehrt hätte die Auflösung des versäulten politischen und gesellschaftlichen Systems als wesentlicher Faktor auf die Denationalisierung der Geschichtsschreibung gewirkt, eine These, welche parallel zu den Niederlanden auch für die schweizerische und deutsche Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur formuliert werden kann. Während der Zweite Weltkrieg zunächst das nationale Paradigma verstärkte, nahmen später Weltkriegserfahrung und Involvierung in den Holocaust wie in anderen europäischen Ländern in den Niederlanden eine Schlüsselstelle in der Erosion - oder m.E. Transformation vor dem Hintergrund der Vielschichtigkeit paralleler Narrative - nationaler Diskurse ein.

Auf diesen Paradigmenwechsel in den europäischen Erinnerungsdiskursen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust konzentrierte sich UFFE ØSTERGAARD (Kopenhagen), indem er auf die seit den 1990er Jahren in verschiedenen Ländern eingesetzten Historikerkommissionen zur Aufarbeitung der jeweiligen nationalen Geschichte zur Zeit des Zweiten Weltkrieges bzw. die internationale Task Force zum Holocaustgedenken und speziell auf den Fall Dänemark einging. Seine These lautete, dass die Dänen sich in ihrem eigenen Geschichtsbild aus Opfern in Kollaborateure der NS-Herrschaft verwandelten. Weiterhin sah er eine erhöhte Selbstreflexion als dieser Erinnerungspolitik inhärent, welche in den letzten Jahren über die offizielle Erinnerung der negativen Seite der eigenen Vergangenheit eine identitätsbildende Dimension erhielt. In der Offizialisierung und starken Öffentlichkeit der Erinnerungsdebatte - welche mit der Universalisierung des Holocaust als Basis europäischer Identität einherging - manifestiert sich gemäss Østergaard die Dialektik von "Moralpolitik" und "Realpolitik" historischer Aufarbeitung.

Nach einer allgemeinen Reflexion zu dem Paradigmenwechsel historischer Narrative in vielen europäischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, analysierte KEITH ROBBINS (Lampeter) die britischen Diskurse der Kriegserinnerung vor dem Hintergrund der Ambivalenz der Wahrnehmung ihres Sieges im Zweiten Weltkrieg. Er betonte dabei die Mehrschichtigkeit unterschiedlicher Erinnerungsdiskurse innerhalb des Britischen Commonwealth. Diese unterschiedlichen Erinnerungsoptionen zeigten sich, wie Robbins demonstrierte, etwa in der Suche nach einem nicht-europäischen alternativen "Commemoration Day" im Commonwealth ausserhalb Englands. Hinsichtlich der Vergangenheitspolitik und Fixierung von Erinnerungsdiskursen führte er aus, wie in der unmittelbaren Nachkriegszeit der wesentlich von Winston Churchill als Historiker-Politiker geprägte integrative nationale Kriegserinnerungsdiskurs dominierte, welcher auch von seinen politischen Gegnern getragen wurde.

SACHA ZALA (Bern/Rom) befasste sich in seinem Beitrag "Editing a Usable Past" mit der Rolle von Historikern als Herausgeber staatlicher Dokumente, wobei er diese zum einen in den Kontext der "memory politics", d.h. der Frage der Konstruktion eines "usable past" durch den Staat stellte, und zum anderen nach der Relation zwischen dieser Editionstätigkeit und der Professionalisierung der Geschichtswissenschaft, insbesondere der Zeitgeschichte, fragte. Zala hob als Folgen dieser offiziellen Editionstätigkeit, in die Historiker europaweit erst nach dem Ersten Weltkrieg involviert wurden, die Verfügbarmachung zeitgeschichtlicher offizieller Dokumente und deren Internationalisierung sowie eine erhöhte ausseruniversitäre Professionalisierung der Geschichtsschreibung hervor. Zugleich verwies er auf die diesen Projekten inhärente Spannung, welche er mit den drei Dimensionen der Selektion, der editorischen Manipulation und der Fälschung umschrieb und damit zentrale Faktoren für eine Analyse historischer Editionstätigkeit innerhalb des Feldes von historischer Produktion ganz allgemein präsentierte.

ATTILA PÓK (Budapest) widmete sich in seinem Vortrag der Erinnerungspolitik in Ungarn seit 1989. Er legte seiner Analyse eine Matrix von vier Ebenen der Geschichtsschreibung bzw. Erinnerungskonstruktion zugrunde, über welche die Geschichte Ungarns seit dem 19. Jahrhundert als "traumatische Erfahrung" konstruiert worden sei: die wissenschaftliche Ebene, die politische, die des Geschichtsunterrichts und jene der kollektiven Erinnerung. Er zeigte auf, wie sich diese vier Ebenen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis Ende des 20. Jahrhunderts veränderten und die Masternarrative transformierten. Mit Bezug auf die Zeit nach 1989 zeigte Pók unter anderem die Erinnerungskonstruktion im Zusammenhang mit den Begräbnissen und Monumenten etwa für Kardinal József Mindszenty auf, in deren Zusammenhang man auch von der Kreierung (neuer) Erinnerungsorte sprechen könnte.

EELCO RUNIA (Groningen) entwickelte seine theoretischen Überlegungen aus der Analyse des Phänomens "naming of names" als Mechanismus der Erinnerung an Opfer, wie es sich etwa nach 9/11 zeigte. Im Zentrum seiner geschichtstheoretischen Konzeptionen, in denen er psychoanalytische Ansätze aufgreift, steht die Unterscheidung einer metonymischen Operation von der metaphorischen Operation, welche dem in der Geschichtstheorie dominierenden Repräsentationsparadigma zugrunde liege. Als zentralen Begriff der Geschichtsschreibung als metonymischer Aktivität führte Runia den Begriff der "Präsenz" ("presence") ein, welchen er der Repräsentation bzw. "Sinn" ("meaning") entgegenstellte. Die Konstruktion von Sinn impliziert immer eine Form von Kontinuität, weshalb Runia für die Brüche des 20. Jahrhunderts den Repräsentationalismus als unzulänglich betrachtet und die Lücke der Diskontinuität vielmehr durch "Präsenz" gefüllt sehen möchte. In der Präsenz des Abwesenden, welche sich im "naming of names" als Amalgamierung bzw. Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität zeige, sei die historische Realität "absently present", jenseits des Historikers und seiner Intentionen und Deutungen also. Am Beispiel des niederländischen Historikerberichts über das Massaker in Srebrenica machte er konkret deutlich, wie sich die Verbindungen von Vergangenheit und heutiger Geschichtsbetrachtung in unbewusster und unkontrollierter Weise auswirken können. 3

ENRIQUE UCELAY-DA CAL (Barcelona) stellte eingangs die provokante These auf, die spanische Geschichtsschreibung sei durch keinen Paradigmenwechsel in den letzten Jahrzehnten gekennzeichnet gewesen. Im Zentrum seines Vortrags standen, damit verbunden, die ineinander verzahnten Thesen des Fehlens einer politischen bzw. zivilgesellschaftlichen Kultur - "civic culture" - in Spanien und der der Komplexität der multiplen und als unkonstant bezeichneten politischen Loyalitäten entsprechenden Pluralität von historischen Narrativen. Diese Pluralität stellte Ucelay dem Fehlen einer (gesamt)"spanischen" Geschichte bzw. Geschichtsschreibung entgegen und sprach vielmehr von einer Vielzahl "alternativer Narrative", welche die Komplexität regionaler, sprachlicher, konfessioneller bzw. religiöser, politischer und nationaler Interessen widerspiegelten. Vor dem Hintergrund der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sieht Ucelay die "celebration of trauma" als Ursprung der verschiedenen historischen Narrative in Spanien.

Die Vorträge der ESF-Tagung griffen sowohl thematische als auch theoretische Schwerpunkte des Programms "Representations of the Past" auf. Zum einen verwiesen mehrere Beiträge auf Spannungsfelder zwischen Denationalisierung und Renationalisierung der Geschichtsschreibung insbesondere im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sie demonstrierten, wie historiographie- und erinnerungsgeschichtliche Themen in einem Komplex von politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren und mit Blick auf unterschiedliche Kommunikationsgemeinschaften angegangen werden müssen.

Zum anderen standen in verschiedenen Vorträgen Fragen nach den Mechanismen und Konstruktionslogiken von "usable past(s)" im Zentrum. Von unterschiedlichen Positionen und Feldern aus - dem Historiker als Experten, als Mitglied von Historikerkommissionen oder Herausgeber von Quelleneditionen ebenso wie dem Erinnern durch "naming of names" - wurden grundsätzliche epistemologische und geschichtstheoretische Fragen erörtert, Fragen nach den Konzepten "Wissenschaftlichkeit" und "Professionalisierung" und der Relation von Geschichtsproduktion, Politik und Öffentlichkeit ebenso wie solche nach dem Weiterleben der Vergangenheit in den heutigen Wahrnehmungsformen. Im Zusammenhang mit letzteren scheint Runias Konzept der "Präsenz" besonders für die Erforschung von Ritualen, Erinnerungsorten, der Performanz von Erinnerung, aber auch des Rituellen in der Geschichtsschreibung im engeren Sinn von Interesse zu sein. Dabei könnte gerade hier nach einer Verbindung mit Ansätzen gesucht werden, die zeitliche Mehrschichtigkeiten und Überlagerungen von diachronen und synchronen Geschichtskonstruktionen ins Zentrum stellen. 4

Beide Schwerpunkte können, wie Christoph Conrad am Ende der Tagung festhielt, als Leitlinien dienen, um gegenüber den national eigensinnigen Geschichts- und Erinnerungsproduktionen eine Beobachterrolle einnehmen zu können. In vergleichender, transnationaler Perspektive "Repräsentationen der Vergangenheit", ihre politischen Formungen, ihr Verhältnis zu anderen Faktoren wie Religion, Ethnizität, Geschlecht und Klasse oder zu anderen räumlichen Dimensionen (multinationale, regionale), ihre jeweiligen Inklusions- und Exklusionsmechanismen zum Gegenstand von historischer Analyse zu machen, behalte weiterhin eine überraschend subversive Funktion.

Anmerkungen:
1 Dan Diner, Gedächtniszeiten. Über jüdische und andre Geschichten, München 2003, darin bes.: Von "Gesellschaft" zu "Gedächtnis". Über historische Paradigmenwechsel, S. 7-15.
2 Zu einem Ansatz, der in Bezug auf den Holocaust die Verschränkung von Geschichte und Gedächtnis besonders betont siehe u.a. verschiedene Publikationen von Saul Friedländer und James Edward Young, u.a.: Friedländer, Memory, History, and the Extermination of the Jews of Europe, Bloomington (Indianapolis) 1993, James Edward Young, Zwischen Geschichte und Erinnerung. Über die Wiedereinführung der Stimme der Erinnerung in die historische Erzählung, in: Harald Welzer (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, S. 41-62. Siehe auch: Konrad H. Jarausch/Michael Geyer, Shattered Past. Reconstructing German Histories, Princeton-Oxford 2003.
3 Eelco Runia, "Forget about It": "Parallel Processing" in the Srebrenica Report, in: History & Theory 43, 2004, S. 295-320.
4 Siehe etwa: Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003.