Das Gedächtnis der Stadt. Neue Forschungen zur Chronik des Konstanzer Konzils und ihrer Überlieferung

Das Gedächtnis der Stadt. Neue Forschungen zur Chronik des Konstanzer Konzils und ihrer Überlieferung

Organisatoren
Thomas Martin Buck / Sabine Strupp, Abteilung Geschichte der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2018 - 06.10.2018
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Von
Sabine Strupp, Pädagogische Hochschule Freiburg im Breisgau

Die Konzilschronik des Konstanzer Bürgers Ulrich Richental (entstanden um 1420) zählt zu den zentralen Quellen des Konstanzer Konzils. In den letzten Jahren haben sich die Perspektiven auf dieses wichtige Geschichtswerk – veranlasst auch durch das 600-jährige Konzilsjubiläum (2014-2018) – nicht unerheblich verschoben. Nicht nur wird die Chronik aktuell im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und den Monumenta Germaniae Historica (MGH) geförderten Projekts von Thomas Martin Buck neu ediert,1 sondern zunehmend auch auf neue Fragestellungen hin fokussiert: Neben der Person Richentals, dem Text und den Illustrationen der Chronik werden nunmehr auch ihre Besucherlisten und Wappen sowie ihre erst in den 1460er-Jahren einsetzende Rezeption und Verbreitung verstärkt in den Blick genommen. Diesen neuen Forschungen wollte die zum Abschluss des Projekts „Digitale Edition der Konstanzer Konzilschronik“ veranstaltete Tagung Raum geben. Da die Bibliothek eine späte, aber wertvolle Chronikhandschrift (Cod. Guelf. 61 Aug. 2°) verwahrt, die erst kürzlich digitalisiert wurde,2 war sie der geeignete Ort, um eine solche Tagung durchzuführen.

In seinem Einführungsvortrag betonte HERIBERT MÜLLER (Frankfurt am Main / Köln), dass sich die Erforschung des Konstanzer Konzils seit dessen 550-jährigem Jubiläum in den 1960er-Jahren weg von den geistlichen Primär- hin zu den profanen Sekundärfunktionen der Synode verlagert habe. An die Stelle einer kirchenhistorisch-ekklesiologischen, vor allem auf die Diskussion um die Valenz der Konstanzer Dekrete Haec Sancta und Frequens konzentrierten Engführung sei eine multiperspektivische Erschließung der Synode als polyvalentes historisches Phänomen getreten. Mit Blick auf die zahlreichen, anlässlich des 600-jährigen Konzilsjubiläums in den Jahren 2014 bis 2018 erschienenen Studien und die abgehaltenen Tagungen zeigte Müller, dass sich die Forschung inzwischen verstärkt auf die medialen, rituellen und organisatorischen Dimensionen der Synode und ihren Charakter als gesamteuropäisches Forum und Zentrum politisch-diplomatischer Kontakte und Netzwerke konzentriere. Abschließend hob er einige kürzlich vorgelegte oder gerade im Entstehen begriffene Editionen hervor, die eigentlich erst die Grundlage für eine weitere vertiefende Erforschung des Constantiense legten, und leitete so zu dem Schwerpunkt der Tagung über: der Konstanzer Konzilschronik des Ulrich Richental und ihrem Charakter als ‚Gedächtnis der Stadt‘.

In der anschließenden, von PIA ECKHART (Freiburg im Breisgau) und ANDREAS BIHRER (Kiel) geleiteten Sektion der Tagung referierte als erstes SANDRA WOLFF (Tübingen) über die Stadt- und Bistumschronik des Gebhart Dacher (geboren um 1425 / gestorben 1471). Ausgehend von ihrer als Dissertation eingereichten und 2008 im Druck erschienenen, kommentierten Edition dieser Chronik3 stellte Wolff deren Inhalte und Schwerpunkte vor. Zugleich ging sie aber auch auf die Biographie Dachers ein und hob dessen Rolle als mutmaßlicher Inhaber einer Schreibwerkstatt und kongenialer Redaktor mehrerer Konstanzer Geschichtswerke, darunter auch der Konzilschronik, hervor.

In seinem anschließenden Vortrag zur Teilnehmer- und Organisationsfrage des Konzils nahm ANSGAR FRENKEN (Ulm) eine Sachstandserhebung vor. In einem ersten Abschnitt betonte er im Hinblick auf die Einberufung der Synode, dass sowohl Papst Johannes XXIII. als auch König Sigismund in ihrer Einberufungsbulle beziehungsweise ihrem Ladungsschreiben den Teilnehmerkreis wie auch die Aufgaben der Versammlung gegenüber denen früherer Konzilien stark erweitert hätten. In einem zweiten Abschnitt bezüglich der Teilnehmerfrage führte er aus, dass die Anwesenden zumindest seitens der gastgebenden Stadt vermutlich registriert worden seien. Die noch erhaltenen unvollständigen und fehlerhaften Personenlisten, die Fluktuation der Besucher und die oftmals kaum fassbare Differenz zwischen Teilnehmern und Besuchern sowie zwischen "gefühlten" und rechtlichen Zugehörigkeiten der Anwesenden zu bestimmten Institutionen erschwerten jedoch das prosopographische Arbeiten, so dass hier in Zukunft noch viel Forschung zu leisten sei. In einem dritten Teil seines Vortrags schließlich versuchte Frenken, die Entwicklung der konziliaren Geschäftsordnung wie auch die Arbeit der einzelnen Ausschüsse in Ansätzen nachzuzeichnen, hob aber auch hier die quellenbedingten Schwierigkeiten dieses Unterfangens deutlich hervor.

Im folgenden Vortrag präsentierte SABINE STRUPP (Freiburg im Breisgau) den Stand ihres im Rahmen des DFG-Projekts „Digitale Edition der Konstanzer Konzilschronik Ulrich Richentals“ bearbeiteten Dissertationsvorhabens zu den Besucherlisten des Konstanzer Konzils. Sie plädierte dafür, die Verzeichnisse künftig nicht mehr als "Teilnehmerlisten" zu bezeichnen, da sie keinen synodalen Ursprung hätten und inhaltlich weit über den Kreis der Konzilsväter hinausgingen. Vielmehr zeigte Strupp auf, dass die Listen ihren Ausgang bei einem gemeinsamen Unternehmen des römisch-deutschen Königs Sigismund und des Konstanzer Rats genommen hätten, um alle Besucher der Stadt zwischen dem Beginn und dem Ende des Konzils zu erfassen. Anhand von Beispielen aus der bisher kaum bekannten nicht-historiographischen sowie der historiographischen Listenüberlieferung in der Konstanzer Konzilschronik zeichnete sie anschließend die Ausdifferenzierung des Materials in mehrere Versionen und dessen Entwicklung vom Verwaltungshilfsmittel zum Konzilsgedächtnis nach.

Zum Abschluss der ersten Sektion referierte THOMAS MARTIN BUCK (Freiburg im Breisgau) über den Stand seiner von DFG und MGH geförderten Edition der Konstanzer Konzilschronik. Er wies auf deren multiplen Charakter und die enorme Varianz der einzelnen Überlieferungsträger hin, in denen Text, Bilder, Listen- und Wappenmaterial in jeweils ganz unterschiedlichem Ausmaß vertreten seien. Nachdrücklich hob er hervor, dass eine Edition aller vier Komponenten inklusive Identifikation sämtlicher Besucher und ihrer Wappen von einer Einzelperson nicht zu leisten sei und begründete so seine Entscheidung, allein der Varianz des Chroniktextes durch drei verschiedene, parallel konsultierbare und umfangreich kommentierte Versionen Rechnung zu tragen. Aktuell werden diese von Bernd Posselt und Clemens Radl bei den MGH in eine digitale Edition umgesetzt. Da inzwischen die meisten Textzeugen der Chronik digitalisiert sind, ist indes zu hoffen, dass die Benutzerinnen und Benutzer neben dem von Buck edierten Text dort parallel auch direkt die einzelnen Überlieferungsträger konsultieren können.

Zu Beginn der zweiten, von GERRIT JASPER SCHENK (Darmstadt) und CHRISTOF ROLKER (Bamberg) geleiteten Tagungssektion berichtete JULIAN HAPPES (Freiburg im Breisgau) über sein Dissertationsprojekt zur Überlieferung der Konstanzer Konzilschronik. Happes stellte einen Ansatz zur Analyse von chronikalischen Sammelhandschriften vor und zeigte ihre Anwendungsmöglichkeiten beispielhaft anhand der in der Stiftsbibliothek St. Gallen aufbewahrten Handschrift Cod. Sang. 657.4 Verfolge man die Verbreitung der in diesem Codex vorhandenen Textallianz von Konstanzer Konzilschronik, Zürcher Chronik und Konstanzer Weltchronik in anderen Handschriften des südwestdeutsch-schweizerischen Raums und analysiere sie mithilfe des dargestellten Ansatzes, so ließen sich neue Aufschlüsse über deren Bearbeiter- und Rezipientenkreis und dessen Kontakte untereinander gewinnen, führte Happes aus.

Anschließend stellte TINA RADDATZ (Konstanz) ihr Dissertationsvorhaben zu den Wappen in der Konstanzer Konzilschronik vor und fragte nach deren Ordnungsmodellen und Funktionen. Anhand von Beispielen führte sie aus, dass die Wappen in den einzelnen Überlieferungsträgern meist – etwa durch Leerseiten oder Überschriften – in klar abgegrenzte "Module" untergliedert seien, die ganz verschiedenen, etwa hierarchischen, nach geistlichen und weltlichen Besuchern, Erdteilen, Konzilsnationen oder regionalen Zugehörigkeiten gliedernden Ordnungsmodellen folgten, die sich bisweilen aber auch überlagerten. Dabei ließen die einzelnen Textzeugen ganz unterschiedliche Bearbeitungsinteressen erkennen, so etwa das Bestreben, die dargestellten Personen als Konzilsteilnehmer auszugeben, oder den Versuch, eine möglichst umfangreiche Sammlung an Wappen und damit an Weltwissen zu bieten.

Abschließend referierte HARALD DERSCHKA (Konstanz) zu den Großeltern des Ulrich Richental. Derschka ordnete das vor allem von Konrad Beyerle und dem ehemaligen Konstanzer Stadtarchivar Otto Feger geprägte Bild des Chronisten in dessen Entstehungszeit ein und zeigte auf, dass Richental im 19. und 20. Jahrhundert auf höchst zweifelhafter Quellenbasis zur Identifikationsfigur eines stadtbürgerlichen Aufstiegs stilisiert wurde. Mithilfe eines Quellenfunds in den Lehenbüchern der Abtei Reichenau gelang es Derschka dabei insbesondere, den 1899 von Beyerle auf der Basis einer Urkunde des 14. Jahrhunderts vorgeschlagenen Stammbaum Richentals zu revidieren und zu zeigen, dass der Schmied Georg Richental und dessen Frau Margarethe von Sünchingen nicht die Großeltern des Chronisten waren. Damit entlarvte er zugleich auch die bislang angenommene, über Margarethe hergestellte Verwandtschaft Richentals mit dem Konstanzer Patriziergeschlecht der Schnewiss als Fehleinschätzung. Auch an anderen vermeintlichen Gewissheiten der älteren Forschung meldete Derschka erhebliche Zweifel an, wobei er sich teils auf zwischenzeitlich gemachte Quellenfunde, teils auf eigene Überlegungen, vor allem zur Interpretation der ab 1418 erhaltenen Konstanzer Steuerbücher, stützte.5

Die einzelnen Beiträge der Tagung zeigten, wie sehr sich – analog zu der von Heribert Müller konstatierten Wende in der Gesamterforschung des Constantiense – auch der Blick auf die Konstanzer Konzilschronik gewandelt hat: Fragen nach der "Urfassung" der Chronik oder nach der Person ihres Autors Ulrich Richental, der von der Forschung lange Zeit als Konstanzer Lokalheros konstruiert und gleichzeitig wegen seines angeblich geringen Verständnisses für das "Wesentliche", also das Geschehen in der Konzilsaula, geschmäht wurde, sind in den Hintergrund getreten. In der Abschlussdiskussion der Tagung wurde stattdessen mehrfach gewürdigt, wie sehr der verstärkte Rekurs neuerer Forschungen auf die erhaltenen Überlieferungsträger und deren einzelne Elemente den rezeptiven Charakter der Chronik gezeigt habe. Zugleich aber stand die Frage im Raum, wie sich die auf einzelne Textzeugen und Komponenten der Chronik bezogenen Forschungen wieder zu einem Ganzen zusammenführen und wie sich die Ergebnisse zu anderen während des Konzils entstandenen Texten – genannt wurde etwa das sogenannte Tagebuch Fillastres – ins Verhältnis setzen lassen.

Zudem ist angesichts der auf der Tagung präsentierten Forschungen deutlich geworden, dass sich die in den Listen- und Wappenteilen mehrerer Chroniküberlieferungen aufgeführten "asiatischen" und "afrikanischen" Besucher, die teilweise durchaus reale Vorbilder gehabt haben, nicht eignen, um die in der Konzilsforschung immer noch überwiegende Fokussierung auf West- und Mitteleuropa aufzubrechen. Denn in der Chronik lässt sich an etlichen Einzelbeispielen im Bereich von Text, Wappen und Listen beobachten, wie sich im südwestdeutsch-schweizerischen Raum, vor allem aber in Konstanz selbst ab 1460 ein kollektives wie auch individuelles Konzilsgedächtnis formierte, wie Wissen organisiert und die Welt geordnet wurde. Forschungen zu den Bildern in der Chronik, die aktuell fehlen, dürften diese Ergebnisse bestätigen. In ihrer heute vorliegenden Form zeigt die Konstanzer Konzilschronik also weniger, wie der Zeitgenosse Richental die Synode erlebte, sondern vielmehr, wie man sie in der Region gut 40 Jahre später angesichts sterbender Zeitzeugen und politischer Umwälzungen im wahrsten Sinne des Wortes "re-konstruierte" und in Erinnerung behalten wollte. Um einer west- und mitteleuropäischen Engführung der Konzilsforschung entgegenzuwirken, müssen also andere Wege gefunden werden – beispielsweise durch den verstärkten Austausch mit Forscherkolleginnen und -kollegen aus Süd- und Osteuropa oder durch Untersuchungen zur Rezeption des Constantiense in Byzanz.

Konferenzübersicht:

Führung durch die Herzog August Bibliothek

Begrüßung

Eröffnungsvortrag
Heribert Müller (Frankfurt am Main / Köln): Neue Forschungen zum Konstanzer Konzil

Erste Sektion
Diskussionsleitung: Pia Eckhart (Freiburg im Breisgau) / Andreas Bihrer (Kiel)

Sandra Wolff (Tübingen): Gebhart Dacher und seine Stadt- und Bistumschronik

Ansgar Frenken (Ulm): Zur Teilnehmer- und Organisationsfrage des Konstanzer Konzils

Sabine Strupp (Freiburg im Breisgau): Vom Verwaltungshilfsmittel zum Konzilsgedächtnis: Die Besucherlisten des Konstanzer Konzils

Thomas Martin Buck (Freiburg im Breisgau): Zum Stand der Richental-Edition

Zweite Sektion
Diskussionsleitung: Gerrit Jasper Schenk (Darmstadt) / Christof Rolker (Bamberg)

Julian Happes (Freiburg im Breisgau): Kollektive Überlieferungsformen der Konstanzer Konzilschronik

Tina Raddatz (Konstanz): Zur Funktion der Wappen in der Chronik des Konstanzer Konzils

Harald Derschka (Konstanz): Die Großeltern des Konzilschronisten Ulrich Richental. Ein Quellenfund aus den Lehenbüchern der Abtei Reichenau und seine Folgen

Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Der Projektantrag findet sich unter https://www.ph-freiburg.de/fileadmin/dateien/fakultaet3/sozialwissenschaft/geschichte/Buck/DFG-Antrag2013.pdf (22.10.18).
2 Siehe http://diglib.hab.de/mss/61-aug-2f/start.htm (22.10.18).
3 Die „Konstanzer Chronik“ Gebhart Dachers. „By des Byschoffs zyten volgiengen disz nachgeschriben ding und sachen …“. Codex Sangallensis 646: Edition und Kommentar, hg. von Sandra Wolff (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 40) Ostfildern 2008.
4 Siehe http://www.e-codices.unifr.ch/de/csg/0657 (22.10.18).
5 Der Vortrag stellt die leicht abweichende Fassung eines bereits publizierten Aufsatzes dar: Harald Derschka, Die Großeltern des Konzilschronisten Ulrich Richental: ein Quellenfund aus den Lehenbüchern der Abtei Reichenau und seine Folgen, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 133 (2015), S. 39-53.