HT 2018: Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften? (1949–2018)

HT 2018: Ungleiche Gesundheitschancen – trotz offener Gesellschaften? (1949–2018)

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Jens Gründler, Westfälisches Institut für Regionalgeschichte, Landschaftsverband Westfalen-Lippe

Der gesellschaftliche Zusammenhalt westeuropäischer (Industrie-)Gesellschaften war seit dem 19. Jahrhundert auch auf das Versprechen gegründet, die Armutsrisiken abzufedern oder aufzuheben, die durch Krankheiten, Arbeitsunfälle, Behinderungen oder das Altern verursacht waren. In der Zwischenkriegs- und beschleunigt in der Nachkriegszeit wuchs die Bedeutung von Gesundheit in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen um die Aufgaben des Sozialstaates. Im Verlauf der 1960er- und 1970er-Jahre wurden immer mehr gesundheitliche Risiken durch Kranken- und Sozialversicherung aufgefangen, immer mehr Bevölkerungsgruppen wurden in Konzepte von Für- und Vorsorge einbezogen. Seit den Wirtschaftskrisen der 1970er- und 1980er-Jahre, dem Regierungswechsel 1982 und noch einmal verstärkt durch die Reformen der „Agenda 2010“ bröckelt jedoch der gesellschaftliche Konsens über die Aufgaben und Reichweite des Sozialstaates. Gesundheitliche Ungleichheit, so MARTIN DINGES (Mannheim / Stuttgart) in seiner kurzen Einführung, sei eine grundlegende Dimension gesellschaftlicher Spaltungen. In der Sektion sollte dieser Grundthese nachgegangen werden, indem Fragen „nach spezifischen Wirkungen gesundheitlicher Ungleichheit“ auf Individuen analysiert wurden. Anhand von fünf Kategorien – Staatsangehörigkeit, Geschlecht, „Klasse“, „Behinderung“ und Migration – wurden soziale und sozialpolitisch adressierte Gruppen aus dem deutschsprachigen Raum ausgewählt und in den Vorträgen jeweils einzeln untersucht.

Im ersten Vortrag nahmen PIERRE PFÜTSCH (Stuttgart) und STEFAN OFFERMANN (Leipzig) den Systemgegensatz von BRD und DDR zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Gesundheitsaufklärung in beiden deutschen Staaten zwischen 1949 und 1990. Ausgehend von Nikolas Rose Begriff des citizenship project, verfolgten Pfütsch und Offermann die Leitvorstellungen von Gesundheitsaufklärern zur Schaffung „guter BürgerInnen“. Der Themenkomplex Ernährung und Fitness diente im Vortrag als besonders eindrückliches Beispiel, da im Körper selbst die Fähigkeit zur Selbstführung relativ direkt sichtbar sei und so auf die Fähigkeit und den Willen zur politisch-gesellschaftlichen Teilhabe rückgeschlossen werden könne. Pfütsch und Offermann verdeutlichten, dass die gesundheitsaufklärerische Ansprache der Zielgruppen sich sowohl in der BRD als auch in der DDR in den 1960er- und 1970er-Jahren weg von autoritären Drohkulissen hin zur Selbstaktivierung und Eigenverantwortung verlagerte. Jenseits der ideologischen Vorgaben wurden in der Gesundheitsaufklärung der DDR und der BRD vielfach sehr ähnliche Wege beschritten. Die Forcierung der individuellen Eigenverantwortlichkeit in Gesundheitsfragen zeige sich in beiden Systemen und war keineswegs, wie vielfach angenommen, nur ein Signum der liberalen Gesellschaften. Dass diese parallelen Entwicklungen durchaus einleuchtend sind, da die Gesundheitsfürsorge beider Systeme auf den Schultern des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der NS-Zeit ruhten, wurde in der Diskussion des Vortrages aufgegriffen und auch von den Vortragenden unterstrichen.

Im Kontrast zum diskursgeschichtlichen Ansatz des ersten Beitrages zeigte Martin Dinges anhand von statistischen Daten der letzten vier Jahrzehnte die Bedeutung des Faktors Gender auf die unterschiedlichen Lebenserwartungen von Frauen und Männern. Dinges konstatierte, dass das Verhalten beim „Lebenserwartungsgap“ immer größeren Einfluss gewonnen habe und der „Vorsprung“ der Frauen immer stärker abnahm. Allerdings muss man den daraus häufig gezogenen Verbindungen zum individuellen Verhalten gegenüber kritisch bleiben, da die Zuweisung der Verantwortung an den Einzelnen die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse ignoriert. In historischer Perspektive und bis in die Gegenwart hinein, so Dinges, seien die sozialen Lagen aber immer noch bedeutsamer für die Lebenserwartungsunterschiede als die Kategorie Gender. Im Vortrag wurden darüber hinaus weitere interessante Indikatoren zum Gesundheitsverhalten von Männern vorgestellt, die weitere Bausteine dafür sind, die These vom „männlichen Gesundheitsidioten“ nachhaltig in Frage zu stellen. Während z. B. das Rauchen und der Alkoholkonsum bei Männern in den letzten Jahrzehnten immer stärker zurückgingen, nahmen immer mehr Männer psychotherapeutische Angebote in Anspruch.

NINA KLEINÖDER (Marburg) nahm die höheren gesundheitlichen Risiken der industriellen Arbeiterschaft zum Anlass, die Unterschiede im Bereich Gesundheit zwischen bürgerlichen Schichten und Arbeitermilieus zu untersuchen. Schon in ihren einleitenden Bemerkungen machte Kleinöder deutlich, dass Fragen nach den Zusammenhängen von Gesundheit und Erwerbstätigkeit hochkomplex sind. Die Unterschiede zwischen Unfällen oder dauerhaften Belastungen oder zwischen psychischen und physischen Erkrankungen müssten ebenso differenziert werden wie die Frage, ob es sich um direkte oder indirekte Folgen der Tätigkeiten handelte. Für die 1950er- und 1960er-Jahre zeigte Kleinöder in Bezug auf Berufskrankheiten, dass die Zahlen starken Schwankungen unterworfen waren, insbesondere durch erleichterte (Neu-)Anerkennungen von Krankheiten wie Silikose. Gleichzeitig traten in den 1960er-Jahren neue und effektive Schutzmaßnahmen gegen Arbeitsunfälle und viele Berufskrankheiten in Kraft, so dass noch vor dem Wandel der Arbeitswelt die Zahl der Betroffenen deutlich zurückgegangen war. Nach dem Boom wurde die Silikose als größtes anerkanntes Erkrankungsrisiko durch Lärm und Asbest abgelöst. Gerade im Fall von Lärm war nicht die Neuartigkeit der Belastung ausschlaggebend, sondern eine veränderte Anerkennungspraxis, nachdem Lärm als eine berufsbedingte Schädigung gesetzt und dann auch von Versicherungen anerkannt worden war. Dies bezeichnete Kleinöder in Anlehnung an Ulrich Böckling als „Risikomanagement“, da die Folgen der berufsbedingten Erkrankungen verwaltet wurden. Gleichzeitig setzte auch die „Risikovermeidung“ immer stärkere Akzente, in dem durch Kampagnen und Maßnahmen versucht wurde, präventiv zu wirken.

In einem ebenfalls datengesättigten Vortrag fragte ANDREAS WEIGL (Wien) nach der Bedeutung der Faktoren Migration, Bildungsstand, Alter und Arbeit für die Gesundheit und Lebenserwartung von Gastarbeitern in Österreich zwischen dem Ende der 1960er-Jahre und dem Jahr 2000. Zur Einführung wies Weigl darauf hin, dass „Gastarbeiter“ in Österreich zwar mit Verspätung rekrutiert wurden und hauptsächlich aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen, ausländische ArbeitnehmerInnen aber einen ähnlichen Anteil an der Bevölkerung wie in der BRD und anderen europäischen Industriestaaten erreicht hatten. Auch in Österreich wurde die Arbeitsmigration zunächst als temporär definiert, so dass die Themenfelder Gesundheitsvorsorge und Alter in den Überlegungen von Medizin und Gesundheitsverwaltung keine Rolle spielten. Anhand von rezenten Befragungen konnte Weigl darstellen, dass zum einen psychosoziale Erkrankungen aufgrund komplexer Unsicherheitsverhältnisse in der Gruppe der ArbeitsmigrantInnen wesentlich häufiger vorkamen als in der autochthonen Bevölkerung. Zum anderen fanden sich in den Untersuchungen hohe Korrelationen zwischen Bildung und Einkommen und dem daraus resultierenden Gesundheitsverhalten bzw. höherer Belastungen durch körperlich stärker belastende Arbeitsverhältnisse. Zudem vermutete Weigl, dass aus der Herkunftsgesellschaft übernommene riskantere Lebensstile sowie fehlende Kenntnisse über Vorsorgeangebote hohe Auswirkungen auf Gesundheit und Lebenserwartung der ArbeitsmigrantInnen hatten. Parallel finden sich allerdings auch kulturelle Praktiken der Herkunftsgesellschaft wie z. B. die Pflege in der Familie, die auch positive Effekte auf die Gesundheit zeitigen können. Schlussendlich, so Weigl, sei die ökonomische Ungleichheit ein weiterer zentraler Faktor für die differentielle Lebenserwartung. Dass die Armutsgefährdung bei MigrantInnen aus Ex-Jugoslawien dreimal, bei denen aus der Türkei achtmal höher sei wie bei Einheimischen, unterstreicht diesen Befund.

Zum Abschluss der Sektion erläuterte GABRIELE LINGELBACH (Kiel) die Entwicklung der Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderung. Lingelbach nahm insbesondere die gruppeninternen Ausdifferenzierungen in den Blick. In der Frühphase der BRD gab es nur eine rudimentäre Basisversorgung, die den „behinderungsbedingten Mehraufwand“ der Betroffenen lediglich im Fall von Arbeitsunfallopfern berücksichtigte. Ab 1950 wurden dann Kriegsopfer unterstützt, ausgeschlossen blieben aber weiterhin Hausfrauen, Kinder und Jugendliche sowie Männer, die nicht durch Krieg oder Arbeitsunfälle geschädigt worden waren. In der zweiten Phase, die für Lingelbach mit dem 1957 verabschiedeten Körperbehindertengesetz beginnt, fand ein sich beschleunigender Ausbau der Fürsorge statt. Mehr Personengruppen waren leistungsberechtigt, der Präventionsgedanke wurde gestärkt. Allerdings lag der Fokus weiterhin auf der Erwerbsfähigkeit, so dass z. B. viele geistig und psychisch behinderte Menschen ausgeschlossen blieben. Erst in den folgenden Jahren fand eine Abkehr vom Primat der Erwerbsarbeit und dem „Kausalprinzip“ statt, so dass auch nicht selbst versicherten Personen umfangreich geholfen wurde. Lingelbach führte die Ausweitung der Inklusion auf ein ganzes Bündel an Faktoren zurück, zu denen auch das Reformklima ab den späten 1960er-Jahren gehört, in dem u. a. die Selbstorganisationen der Behinderten auf zunehmendes Medieninteresse stießen.

Insgesamt leistete die Sektion einen wichtigen Einblick in aktuelle Diskussionen und Themen der zeithistorischen Gesundheitsforschung. Durch die Fokussierung auf unterschiedliche Faktoren und Phänomene, die ungleiche Gesundheitschancen produzieren, sind die Chancen und Herausforderungen medizinhistorischer Forschung deutlich geworden. Die inhaltliche Breite und Diversität der Vorträge hätte vielleicht eine engere Klammer benötigt, die den Zusammenhang über die historische Periode und den deutschsprachigen Raum hinaus besser verdeutlicht hätte, aber der Komplexität des Themas hätte man kaum besser gerecht werden können. In allen Vorträgen wurde dementsprechend wiederholt darauf hingewiesen, dass die jeweils betrachteten Kategorien keine isolierten Faktoren seien, sondern nur als Teile komplexe Faktorenbündel zu verstehen sind.

Die zum Abschluss der Sektion von den Vortragenden gemachten Statements unterstrichen die Ansicht, dass diese vorgestellten Forschungsprojekte und -themen einen ersten Ausgangspunkt für weitere Arbeiten bilden, die noch stärker differenzieren und die Dynamiken der einzelnen Felder in den Blick nehmen wollen. So wies z. B. Gabriele Lingelbach darauf hin, dass die in die Körper eingeschriebenen Charakteristika die Disability History zu lange zu stark beeinflusst habe. Darüber sei das Soziale vergessen worden. Das Soziale und dessen Interaktion mit anderen Faktoren seien aber zentral für ein besseres Verständnis der Geschichte von Menschen mit Behinderung, so dass zukünftige Projekte es in die Forschung zurückholen müssten. Die Betonung der komplexen Ursachen ungleicher Gesundheitschancen und -versorgung kann gar nicht oft genug wiederholt werden.
Eine ausführlichere Version der Vorträge wird 2020 in der Zeitschrift „Medizin, Gesellschaft und Geschichte“ veröffentlicht.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Martin Dinges (Stuttgart / Mannheim)

Pierre Pfütsch (Stuttgart) / Stefan Offermann (Leipzig): Gesundheitsaufklärung in zwei deutschen Gesellschaften (1949–1990)

Martin Dinges (Stuttgart / Mannheim): Die Bedeutung der Kategorie Gender für die Gesundheitschancen (1980–2016)

Nina Kleinöder (Marburg): Arbeiterschaft und Gesundheit in der Bundesrepublik vom „Wirtschaftswunder“ zur „Humanisierung“ (1950er- bis 1980er-Jahre)

Andreas Weigl (Wien): Alt und krank nach der „Gastarbeiterzeit“ in Österreich? (1967–2000)

Gabriele Lingelbach (Kiel): Gesundheitsfürsorge für Menschen mit Behinderung in der Bundesrepublik: Interne Differenzierungen (1949 bis frühe 1980er-Jahre)