HT 2018: Grenzenlos? Zugänge zur Globalgeschichte des 19./20. Jahrhunderts

HT 2018: Grenzenlos? Zugänge zur Globalgeschichte des 19./20. Jahrhunderts

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Janine Funke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die Sektion „Grenzenlos? Zugänge zur Globalgeschichte des 19./20. Jahrhunderts“ nahme anhand unterschiedlicher Ansätze und Ergebnisse einen Einblick in die „Breite und Strahlkraft der globalhistorischen Forschung“, so DOMINIC SACHSENMAIER (Göttingen) in seinem Eingangskommentar. Es seien nicht mehr nur Postulate und theoretische Debatten, welche die Globalgeschichte prägen, sondern auch konkrete Anwendungsbeispiele. Darüber hinaus setzte sich die Sektion kritisch mit einer notwendigen Öffnung der deutschen Zeitgeschichtsforschung für globalhistorische Fragestellungen auseinander.

SEBASTIAN CONRAD (Berlin) leitete die Sektion mit einem ersten inhaltlichen Vortrag ein, indem er zwei Akteure der Globalgeschichte in das Zentrum seiner Auseinandersetzung um eine „Intellectual History als Globalgeschichte“ rückte: Itō Chūta (1867–1954), japanischer Architekt und Rajendralal Mitra (1822–1891), indischer Wissenschaftler. Ein zentrales Anliegen von Chūta sei der Nachweis des griechischen Einflusses auf die japanische Architektur gewesen. Den entsprechenden Wissenstransfer versuchte Chūta durch Forschungsreisen über China, Indien bis in das Osmanische Reich zu erbringen. Mitra hingegen setzte sich mit einer Geschichte der indischen Architektur auseinander und investierte sein wissenschaftliches Leben darin, den griechische Einfluss auf Asien zu wiederlegen. Was Mitra und Chūta einte, sei die Ambition, eine eurozentrische Geschichtsschreibung zu revidieren. Nun stelle sich allerdings die Frage, weshalb beide Akteure die griechische Architektur als Referenzpunkt nahmen. Um der Antwort dieser Frage näher zu kommen und beide Akteure im Sinne einer Global Intellectual History zu betrachten, sei es nötig den Griechenlanddiskurs in den jeweiligen Kontext zu setzen und den Erfahrungsraum beider Akteure im Zusammenspiel mit übergeordneten Fragen, die zum Untersuchungszeitpunkt eine Rolle spielten (wie beispielweise Fragen um die britische Kolonialherrschaft in Indien), zu untersuchen. Conrad resümierte, Ziel einer Global Intellectual History sei die Untersuchung globaler Faktoren, anhand derer sich Vorstellungen, Konzepte und Begriffe in verschiedenen Teilen der Welt herausbildeten. Eine Analyse solle nicht im Transfer einen Ausgangspunkt suchen, sondern den Transfer vielmehr als Resultat für übergeordnete Prozesse fassen. Zentraler Referenzpunkt seien dann „die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen unter denen bestimmte Ideen plötzlich Resonanz hatten“, lokal und globalhistorisch. Die abschließende Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, in wie weit der Griechenlanddiskurs im indischen Kontext marginalisiert werden könne. Conrad betonte, es sei zentral, die Bedeutung des Griechenlandkurses mit dem Erfahrungsraum der Akteure in Verbindung zu setzen.

FRANK BÖSCH (Potsdam) präsentierte anschließend die Ergebnisse langjähriger Forschung zur Geschichte von Ereignissen globaler Reichweite, welche in der im Januar 2019 erscheinenden Monografie „Zeitenwende 1979“1 veröffentlicht werden. In seinen Darlegungen verbindet Bösch die Zusammenführung jener globalen Ereignisse mit der Frage nach einer möglichen globalhistorischen Erweiterung der deutschen Zeitgeschichte. Die Untersuchung von Ereignissen mit „grenzübergreifender Reichweite“ biete, so führte Bösch zu Beginn aus, sowohl die Möglichkeit spezifisch-regionale Entwicklungen in außereuropäischen Regionen zu beleuchten, als auch zu hinterfragen, wie globale Interaktionen in einem Möglichkeitsraum zwischen konkurrierenden Deutungen überhaupt entstehen und in welcher Weise Ängste und Hoffnungen Handlungen in Bewegung setzen. Ereignisse seien demnach „komplexe Handlungssequenzen“, die öffentliche und emotionale Anteilsnahmen auslösen sowie eine „kommunikative Verdichtung“, die mit längeren strukturellen Entwicklungen verbunden sei. So behandelt „Zeitenwende 1979“ etwa die Iranische Revolution, die Öffnung Chinas, den Regierungsantritt Margaret Thatchers und die US-amerikanische Fernsehserie „Holocaust-Die Geschichte der Familie Weiss“. Eine zentrale Beobachtung sei, so Bösch, das Aufkommen einer globalen, grenzüberschreitenden, kritischen Öffentlichkeit in den 1970er-Jahren sowie das Entstehen einer „multipolaren Welt“. Es zeige sich im Kontext der Ereignisse die Schaffung von Konstellationen, die jenseits des sogenannten zweiten Kalten Krieges stünden. Warum sollte sich die deutsche Zeitgeschichte mit globalen Ereignissen beschäftigen? Ein globaler Blick kann die bisherigen Narrative und Deutungen der Zeitgeschichte zumindest ergänzen, und muss sich nicht „in einer positivistischen Ereigniskonstruktion erschöpfen“. Gerade Deutschland sei ökonomisch, politisch und kulturell spätestens seit den 1970er-Jahren besonders eng mit weiten Teilen der Welt verflochten, weshalb sich eine Erweiterung auf globalhistorische Fragen anbiete. In der Diskussion kam die Frage auf, unter welchen Bedingungen sich die deutsche Zeitgeschichte um einen globalhistorischen Kontext erweitern müsse. Bösch entgegnete, es gehe weniger um eine Erweiterung als vielmehr um das Grundverständnis des Faches. Gerade mit Blick auf die 1970er- und 1980er-Jahre sei es kaum möglich, ohne einen transnationalen Blick Geschichtsschreibung zu betreiben. Weiterhin stand die Frage im Raum, was das Spezifische an den Ereignissen im Jahr 1979 sei. Dies sei, so Bösch, mit einer gewissen Kontingenz verbunden. Zentral sei vielmehr die Wahl des Zugangs, obgleich sich bei der Auswahl anderer Ereignisse ähnliche Fragen gestellt hätten.

Mit einem Beitrag zu „Globaler Kommunikation“ lud VALESKA HUBER (Berlin) dazu ein, einen Richtungswechsel vorzunehmen und unter dem Stichwort Kommunikation nicht zwangsläufig eine Vernetzungsgeschichte oder eine Geschichte der globalen Infrastruktur zu schreiben, sondern unter Kommunikationsgeschichte vielmehr die Erreichbarkeit und den Zugang zu Kommunikation zu verstehen. Laut Huber thematisierten gerade Arbeiten zur Beschäftigung mit den technischen Infrastrukturen der Vernetzung weniger die politische Rolle von Vernetzung, die Adressaten oder die Schaffung einer neuen globalen Öffentlichkeit. Ein Richtungswechsel gehe auch mit einer Verschiebung der Betrachtungsweise von (mitteleuropäischen) Eliten auf breitere Bevölkerungsgruppen einher, welcher längst überfällig sei. Ähnlich wie Conrad wählte auch Huber einen Akteur als Ausgangspunkt der Analyse, die einen solchen Richtungswechsel vornehmen will: den US-Amerikaner Frank C. Laubach (1884–1979). Laubach engagierte sich mit seinem eigens in den 1930er-Jahren entwickelten Programm „Each One Teach One“ für Massenalphabetisierung und damit für die Integration einer breiten Masse in globale Kommunikationsprozesse. Um seine Methode zu verbreiten, ging er von den Phillipen ausgehend auf „Alphabetisierungssafaries“ in über 103 Länder und ließ seine Alphabetisierungsmaterialien in 312 Sprachen übersetzen. Der unter Zeitgenossen als „The Apostel of to the Illiterates“ bezeichnete Laubach soll über 60 Millionen Menschen Lesen und Schreiben beigebracht haben. Bezugnehmend auf den erwähnten Richtungswechsel stellte Huber anhand von Fallbeispielen in Indien, dem Nahen Osten und Kuba vor, wie sich die Alphabetisierungsmethode lokal von Laubach emanzipierte und Anwendung fand. Es sei Zeit für eine „noch konsequentere Verschiebung von Räumen zu Akteuren (...) von Infrastruktur zu den Inhalten und (...) von den Experten“, wie etwa Laubach, hin zu den Rezipienten. Alphabetisierungskampagen seien dabei nur eine Möglichkeit um den Blick der Globalgeschichte zu erweitern, denkbar seien auch Studien beispielsweise zu Gesundheitskampagen, oder Frauenbewegungen.

HARALD FISCHER-TINÉ (Zürich) stellte den letzten Beitrag der Sektion unter den Titel „Globale Mikrogeschichten. Area Studies meets Global History“. Fischer-Tené plädierte dafür, mit dem Ansatz einer Global Microhistory der Kritik zu begegnen, der Globalgeschichtsforschung fehle der „Lebenssaft des historischen Narratives“. Fischer-Tené arbeitet demnach, ähnlich wie auch schon in vorherigen Vorträgen skizziert, mit einem akteurszentrierten Ansatz, welcher sich auf einen überschaubaren, regionalen, nicht-westlichen Raum bezieht. Mit Blick auf Ansätze, die von Globalhistorikern wie Goplan Balachandran entwickelt wurden, sei eine „inclusion of perspectives from marginal locations“ notwendig. Damit wäre es möglich, einen Einblick in den Handlungsraum von Akteuren zu bekommen, die in einer Makro-zentrierten Globalgeschichte keine Beachtung fänden, ohne den Blick für translokale, nationale und globale Bezüge zu verlieren. Weiterhin werde der Globalgeschichtsschreibung, so Fischer-Tené, regelmäßig eine „Fetischisierung von flows, connections, exchanges and dialogs“ sowie ein teleologischer Ansatz vorgeworfen, welcher den Blick für Konflikte und Machtsymmetrien behinderte. Eine „Global Microhistory“ begegne diesen Vorwürfen, in dem eine „Sensibilität für neue Maßstäbe und neue Räume“ ermöglicht werde. Den Zugang zu dieser neu-ausgerichteten Lokalgeschichte verdeutlichte Fischer-Tené anhand von Forschungen zu Young Men’s Christian Association (YMCA) und deren lokale Aktivitäten. Es sei nicht das Ziel, eine Organisationsgeschichte zu schreiben, sondern vielmehr die „lokale Geschichte einer internationalen Organisation“. Mit der Beschreibung eines Dorfentwicklungsprojektes von YMCA in Südindien sei es beispielsweise möglich, den Modernisierungsprozess in einer Region besser zu verstehen und eine Verschiebung von Akteursgruppen, ähnlich wie im Ansatz von Huber, vorzunehmen. So verfolgt Fischer-Tené die Arbeit des US-Amerikaners Duane Spencer Hatch (1888–1963), der von seinen Zeitgenossen als „vorbildliche(r) Entwicklungshelfer“ inszeniert wurde. Anhand des Akteurs Hatch zeige sich, dass eine Fokussierung auf nationalistische und kolonialstaatliche Akteure zu kurz greife. Zentral sei ebenso eine Fokussierung auf die indigene Handlungsmacht anhand derer sich zeige, wie Wissen „sich im Feld entwickelt“ und verschiedene Akteursgruppen den Wissens- und Entwicklungsprozessprozess prägten. Die anschließende Diskussion des Beitrages konzentrierte sich auf die Frage, inwieweit es notwendig wäre mit einer „Global Microhistory“ einen multiperspektivischen Ansatz einzunehmen und die lokale Perspektive in den Vordergrund zu rücken.

Auf das gesamte Panel bezogen wurde das Fehlen einer regionalen Perspektive auf Afrika und Osteuropa kritisiert, genauso wie ein fehlender Fokus auf Naturwissenschaften und Technik als „Objekt der Begierde“ sowie auf einen „ungleichen Zugang zu Technik“. Weiterhin wurde der Titel der Sektion kritisiert. „Grenzen“ seien nicht das Thema des Panels gewesen, weder als real existierende Grenzen, die Zirkulation verhindern, noch als fachbezogene Grenzen. Es sei der Eindruck entstanden, Globalhistoriker seien „universale Multifunktionshistoriker“, die beliebig zwischen den Epochen und Regionen wechseln könnten. Conrad bestätigte, dass es Regionen gebe, die in der Globalgeschichte weniger Beachtung fänden. Im Gegensatz zur Annahme, Globalhistoriker seien „Multifunktionshistoriker“ plädiere die Sektion jedoch vielmehr für eine stärkere regionale Fokussierung. Huber ergänzte, Grenzen seien nicht nur räumlich zu denken. Bezogen auf das Alphabetisierungsbeispiel gebe es beispielsweise auch Grenzen der Alphabetisierung oder Grenzen der Erreichbarkeit, welche von den Akteuren selbst wahrgenommen und kommuniziert werden würden.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Frank Bösch (Potsdam) / Sebastian Conrad (Berlin)

Dominic Sachsenmaier (Göttingen): Moderation

Sebastian Conrad (Berlin): Intellectual History als globale Geschichte

Frank Bösch (Potsdam): Globale Ereignisse

Valeska Huber (Berlin): Globale Kommunikation

Harald Fischer-Tiné (Zürich): Globale Mikrogeschichten

Anmerkung:
1Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019.