HT 2018: Bürokratie als Einheitsmaschine

HT 2018: Bürokratie als Einheitsmaschine

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Kevin Christian Klein, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Wahrnehmung von und Diskurse über Spaltung – so der Ausgangsgedanke der Sektion – entstehen nicht im luftleeren Raum. Bevor Spaltung überhaupt erfahrbar und benennbar wird, bedarf es bestehender Vorstellungen und Konzepte der Einheit und der Einheitsstiftung als Referenzrahmen. Die Frage nach gesellschaftlicher Spaltung in der Frühen Neuzeit führt daher zu der Frage, inwieweit Konzepte der Einheitsstiftung überhaupt existent und festgefügt waren. Die Beitragenden gingen davon aus, dass die Herausbildung und Durchsetzung administrativer Strukturen bei der Entstehung von Einheitskonzepten einerseits, bei der Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen andererseits eine bedeutende Rolle spielten. Zentrale These der Sektion sei daher, so ULRIKE LUDWIG (Frankfurt an Main / Dresden) in ihren einleitenden Bemerkungen zur Sektion, dass es frühneuzeitlichen Verwaltungen nicht nur in zunehmendem Maße gelang, Herrschaft im lokalen Raum zu implementieren, sondern auch gesellschaftliche Unterschiede zu überwölben und trotz der prinzipiellen Akzeptanz von Differenz, Zugehörigkeit zum und Teilhabe am Herrschaftsverband zu ermöglichen. Bürokratie sei insofern zur Einheitsmaschine geworden. Diesem Zusammenhang widmeten sich die Beitragenden aus verschiedenen Perspektiven.

BIRGIT EMICH (Frankfurt am Main) eröffnete die Vortragsrunde mit ihren Überlegungen zur päpstlichen Bürokratie und deren Rolle bei der Aushandlung von Einheit und Vielfalt innerhalb der nachtridentinischen Weltkirche. In der Forschung habe Rom lange als mächtige Zentrale gegolten, deren zunehmende Bürokratisierung mit einer Vereinheitlichung der Weltkirche einherging. Obwohl die Päpste während und besonders nach dem Konzil von Trient (1545–1563) ihre Autoritätsansprüche festigen konnten, haben neuere Arbeiten gezeigt, dass man in der Realität weit von einer zentral gesteuerten Vereinheitlichung entfernt war. Anstatt dies schlicht mit einem Scheitern der Einheitsansprüche zu erklären, unterschied Emich zwischen zwei Formen von Einheit und Einheitsansprüchen: Zwischen einer ersten Form, die die Institutionen und Verfahren betraf und Einheit auf der Ebene der päpstlichen Regelungsgewalt – also Zentralität – anstrebte, und einer zweiten Form, die die einheitliche Ausgestaltung des kirchlichen Lebens betraf und damit auf Homogenisierung abzielte. Gewonnen sei mit dieser Unterscheidung, so Emich, die Möglichkeit, das Verhältnis von Zentralität und Homogenisierung näher zu bestimmen und auszuloten, inwieweit die zentralisierte Bürokratie Roms in den Dienst der Homogenisierung der Weltkirche gestellt wurde.

Der Anspruch der Päpste auf Zentralität werde insbesondere durch das ein halbes Jahr nach dem Konzil ausgesprochene Verbot der Interpretation, Kommentierung und Glossierung sämtlicher Konzilsbeschlüsse augenfällig. Das alleinige Auslegungsrecht blieb beim Papst, der so alle Fragen nach dem korrekten Verständnis und der praktischen Umsetzung der Reformen an die Zentrale nach Rom zog. Zur Abwicklung dieser Anfragen rief Pius IV. 1564 die „Congregatio pro executione et interpretatione Concilii Tridentini“ ins Leben. Auf der Ebene der Institutionen und Verfahren sei damit der Anspruch auf Einheit erfüllt worden. Wie Emich anhand konkreter Anfragen zum Problem der Bilderverehrung zeigte, war die Tätigkeit dieser Konzilskongregation allerdings von einem ausgesprochenen Pragmatismus geprägt. Dieser Pragmatismus passe weder zu den eindeutigen Beschlüssen des Trienter Konzils, noch zum Bild einer Kirche, die liturgische und dogmatische Vorgaben einheitlich und mit aller Vehemenz um- und durchsetzte. Die Einheitsbilanz der römischen Bürokratie falle daher zwiespältig aus. Einerseits haben Institutionen und Verfahren zur Verfügung gestanden, die den Anspruch auf Zentralität und Homogenität umsetzbar machten und mit denen die Päpste Zentralität auf einer symbolisch-performativen Ebene auch erfolgreich herzustellen wussten. Andererseits ist die Vielfalt des kirchlichen Lebens eher verwaltet als vereinheitlicht worden. Die durch diesen Pragmatismus entstehenden Inkonsistenzen habe man an der Kurie durch das Prinzip der Geheimhaltung und der daraus resultierenden Fiktion des Einzelfalls geschickt zu verbergen gewusst.

ULRIKE LUDWIG (Frankfurt am Main / Dresden) verschob den Fokus vom Zentrum der Weltkirche in die Provinzialverwaltung Schwedisch-Pommerns. In ihrem Vortrag widmete sie sich der Frage, wie Verwaltung zwischen Zentrum und Peripherie überhaupt gelingen konnte. Als Aufhänger diente ihr der Fall Gottfried Schröers, der in der schwedischen Regierungskanzlei Stettins als Archivar und Lehenssekretär beschäftigt war. In dessen Privatnachlass finden sich Anfragen von mehreren hundert Personen jeglichen Standes, die diesen um Auskünfte, Abschriften, Weiterleitungen und persönliche Interventionen baten. Wie Ludwig hervorhob, seien diese Aktivitäten Schröers jedoch nicht Bestandteil eines offiziellen Verfahrens gewesen. Administratives Handeln war daher nicht auf verfahrensmäßige Amtshandlungen beschränkt, sondern habe flankierende Maßnahmen im Vor- und Umfeld offizieller Verfahren miteingeschlossen, die aus den Bittstellern jene in den Verfahren oft überraschend wohlinformiert auftretenden Sachwalter ihrer Eigeninteressen machten. Diese Maßnahmen bezeichnete Ludwig als „amtliche Dienstleistungen“, da die Beamten die gewünschten Leistungen nur aufgrund ihrer Tätigkeit im bürokratischen Apparat erbringen konnten. Ludwig betonte jedoch nachdrücklich, dass diese Dienstleistungen nicht als Geheimnis- oder Hochverrat zu verstehen seien. Vielmehr sind sie von den zuständigen Behörden im Sinne der Zugänglichkeit sogar erwünscht gewesen. In der schriftlichen Korrespondenz Schröers fielen zudem typische Elemente der Patronage auf. Im Unterschied zu den bisher untersuchten Formen der Patronage waren allerdings die Kontakte Schröers zu seiner Klientel äußerst punktuell. Darüber hinaus wurden Leistung und Gegenleistung fein aufeinander abgestimmt und der Austausch auffallend schnell abgewickelt. Der für die Patronage als langfristige Sozialbeziehung typischerweise große zeitliche Abstand zwischen Leistung und Gegenleistung verkürze sich so zu einem vorab bzw. zeitnah abgewickelten Geschäft. Offenbar, so resümierte Ludwig, hat man es hier mit einer spezifischen Variante der Patronage zu tun, für die sie den Begriff der „Patronage von Amts wegen“ vorschlug. Diese habe nicht nur Lücken und Defizite in der noch weitmaschigen schwedisch-pommerischen Verwaltungsorganisation ausgeglichen, sondern die Verwaltung zudem befähigt, ihre eigenen Systemgrenzen zu überwinden. Die Schnelligkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die Bevölkerung Schwedisch-Pommerns Patronage von Amts wegen (und mit ihr amtliche Dienstleistungen) genutzt habe, spreche dafür, dass diese ein gesamteuropäisches Phänomen war. Unter welchen Bedingungen sie auftrat und gegebenenfalls wieder verschwand, bleibt allerdings noch weiter zu erforschen.

KOLJA LICHY (Gießen) behandelte in seinem Vortrag die seit den späten 1740er-Jahren in verschiedenen Teilen der Habsburgermonarchie gegründeten k. k. Leih- und Versatzämter. Mit der Frage nach den Bemühungen der Zentrale um deren Vereinheitlichung rückte er die ökonomische Dimension des Sektionsthemas in den Blick. Während sich die Finanzgeschichte bereits eingehend mit Budget- und Steuerfragen auseinandergesetzt hat und auch Fragen der Wirtschaftsförderung schon im Kontext von staatlich geförderten Handelskompanien und Manufakturen diskutiert wurden, hat die für die Zeitgenossen essentielle Frage nach Erhöhung der Geldmenge und Beschleunigung der Geldzirkulation als Maßnahme zur Förderung der Wirtschaftsaktivitäten bislang kaum einen Niederschlag in der Forschung gefunden. Zunächst stellte Lichy die den k. k. Leih- und Versatzämtern inhärenten Ambiguitäten heraus. So sollten Pfandleihhäuser dem gemeinen Mann in finanzieller Not ebenso nutzen wie dem Investoren. Neben dezidiert karitativ-christlichen Motiven und der Gemeinwohlorientierung trat somit traditionell auch eine klare Gewinnabsicht. Im Falle der Mährischen Lehenbank in Brünn habe man bei der Gründung 1751 allerdings deren Charakter als Wirtschaftsförderungsinstrument betont und im Zuge dessen die christlich-moralischen Anforderungen in den Hintergrund treten lassen. Ambige Einrichtungen waren die Leih- und Versatzämter aber auch insofern, als unklar war, ob es sich bei ihnen um private, ständische oder landesherrliche Unternehmungen handle. Nicht selten gründete die Zentrale in Wien Leih- und Versatzämter erst auf Initiative lokaler Eliten, welche entweder enge Anbindungen nach Wien hatten oder selbst dort ansässig waren. In diesem Sinne habe dort selbst eine Integration zwischen der Zentrale und der Provinz stattgefunden. Uneindeutigkeit herrschte Lichy zufolge aber auch auf dem Feld des Geschäftsbetriebs. Nachdem eine Wiener Kommerzbehörde ab den 1760er-Jahren die Aktienmehrheit der Mährischen Lehenbank übernommen hatte, wurde aufgrund der wirtschaftlichen Schieflage damit begonnen, der Bank formale Vorschiften zu machen und die Aktivitäten im monatlichen Rhythmus zu kontrollieren. Dies zog eine Integration in die Kontrolllogiken und Dokumentierungsnormen der Wiener Zentrale nach sich. Lichy jedoch betonte, dass diese Zentralisierung nicht von langer Hand geplant worden sei, sondern vielmehr das Ergebnis des selbstverschuldeten Fastbankrotts gewesen war. Wie allerdings der Fall des Monte di Pietà in Triest zeigt, wurde traditionellen Pfandleihhäusern die Ausrichtung auf karitative Zwecke zunehmend zum Verhängnis. So empfahl die Hofkommission Maria Theresia 1769 die Auflösung der seit Mitte des 17. Jahrhunderts existierenden Einrichtung. Offenbar, so Lichy, passten die in Wien herrschenden Vorstellungen von der Förderung der Geldzirkulation nicht bzw. nicht mehr zu der Triester Pfandleihe kleinen Maßstabes – und das, obwohl sie sich in ihren Umsätzen faktisch nur geringfügig von den neueren k. k. Leih- und Versatzämtern unterschied.

Im letzten Vortrag der Sektion ging TIM NEU (Bochum) der Frage nach, inwieweit es der Fiskalbürokratie des Britischen Empires gelang, nicht nur als nationale, sondern als imperiale Einheitsmaschine zu wirken. Er konzentrierte sich dabei auf die Beziehungen zwischen der Zentrale in London und den nordamerikanischen Kolonien vor deren Unabhängigkeit. Einleitend nahm er Bezug auf Jonathan Swift, der die nach der Glorious Revolution von 1688 aufgenommenen Staatsschulden mit einer Episode aus Plutarchs Lebensbeschreibungen verglichen hat: Wie der Feldherr Eumenes nach dem Tod Alexanders des Großen von seinen größten Feinden hohe Geldsummen geliehen hat, damit sie ihm schon allein aus dem Interesse, irgendwann ausbezahlt zu werden, folgen mussten, so haben auch die Whigs Schulden aufgenommen, um eine enge Bindung zwischen der Regierung und ihren politischen Gegnern herzustellen. Phänomene dieser Art bezeichnete der Soziologe Bruce Carruthers vor einiger Zeit analog als „Eumenes-Effekte“, die er für England bzw. Großbritannien untersuchte. Neu selbst erweiterte nun den Blick auf den kolonialen Kontext Nordamerikas. Die räumliche Trennung zwischen der Zentrale und den nordamerikanischen Kolonien habe sowohl die Bevölkerung als auch den Staat vor Probleme gestellt: Wie sollte ein Händler in den Kolonien, der selbst nicht im Exportgeschäft tätig war, seine Schulden bei einem Londoner Geschäftspartner begleichen? Und wie konnte die Zentrale ihre Truppen in den Kolonien bezahlen, ohne hunderte Schiffsladungen Münzen über den Atlantik zu befördern? Ein zentrales Problem des Empires war also die Frage, wie Kaufkraft von London in die Kolonien und von den Kolonien nach London transferiert werden konnte. Um dieses Problem zu lösen, griff man in der Zeit vor dem internationalen Bankensystem auf das Finanzinstrument des Wechsels zurück. Hierfür bedurfte es als Mittlerinstanz Finanzgesellschaften, deren Geschäftsmodell darin bestand, die privatwirtschaftliche Nachfrage der kolonialen Kaufleute und die staatliche Nachfrage der Zentrale aufeinander zu beziehen. Die überdurchschnittliche Loyalität der Handelszentren in den normamerikanischen Kolonien habe insofern nicht allein auf deren unmittelbaren ökonomischen Verflechtung mit Geschäftspartnern aus dem Mutterland beruht, sondern auch auf dem Ineinandergreifen von privatwirtschaftlichen und staatlichen Geldströmen. In Zeiten knapper Kassen haben die Kolonien als Mittel zur schnellen Geldbeschaffung zudem wiederholt die Einführung zeitlich befristeter Papierwährungen verabschiedet, welche ebenfalls durch Wechsel gesichert wurden. Die kolonialen Papiergeldsysteme seien dadurch immer wieder für kurze Zeit in das imperiale System von public credit und national debt integriert gewesen. Wie Neu betonte, hätten sie sogar dauerhaft integriert werden können, wären die Papiergelder verstetigt worden. Dem Zusammenhalt des Empire hätte dies einen enormen Schub gegeben. Mit den zwischen 1751 und 1764 erlassenen Currency Acts, die den Kolonien verboten, Papierwährungen zu regulären Zahlungsmitteln zu erklären, habe man diese Chance allerdings vertan.

Die Beitragenden der Sektion haben den Versuch unternommen zu zeigen, inwieweit frühneuzeitliche Bürokratien Einheitsmaschinen darstellten, denen es gelang, gesellschaftliche Unterschiede zu überwölben und Zugehörigkeit zu ermöglichen. Dieser Frage näherten sie sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: Während die beiden ersten Vorträge von Birgit Emich und Ulrike Ludwig die Herausbildung administrativer Strukturen und deren vereinheitlichende Effekte beleuchteten, gingen die Beiträge von Kolja Lichy und Tim Neu näher auf die Zusammenhänge zwischen Bürokratie, ökonomischen Strukturen und politischer Integration ein. Die Beiträge verdeutlichten, dass frühneuzeitliche Bürokratien mit und durch ihre eigenen Funktionslogiken, Zielsetzungen und Bedürfnisse auf vielfältige Weise Einheit herstellten − mal gezielt und geplant, mal eher unbewusst und zufällig, doch nur selten um jeden Preis. Insgesamt deuten die Beiträge darauf hin, dass es sich lohnt, weiter danach zu fragen, wie frühneuzeitliche Bürokratien einerseits mit Heterogenität umgingen und andererseits wann, unter welchen Bedingungen und mit welchen Mechanismen sie in Bezug auf ihre Anspruchsgruppen Einheit und Zugehörigkeit herstellen konnten und wollten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Ulrike Ludwig (Frankfurt am Main / Dresden) / Birgit Emich (Frankfurt am Main)

Einleitung: Ulrike Ludwig ((Frankfurt am Main / Dresden)

Birgit Emich (Frankfurt am Main): Einheit in der Vielfalt? Die Bürokratie der Päpste zwischen Einheitsdiskurs und Differenzbewältigung

Ulrike Ludwig (Frankfurt am Main/Dresden): Zwei Gänse und ein Hoheitsakt. Amtliche Patronage und herrschaftliche Einheit in Schweden

Kolja Lichy (Gießen): „Der Staat als ein einzelnes Wesen“. Vom Umgang mit Ambiguität in der Finanz-und Wirtschaftsverwaltung der Habsburger Monarchie des 18. Jahrhunderts

Tim Neu (Bochum): Eumenes-Effekte, oder: Die britische Fiskalbürokratie als imperiale Einheitsmaschine


Redaktion
Veröffentlicht am