Forschen in Sammlungen: Fünf Jahre Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Ergebnisse und Perspektiven

Forschen in Sammlungen: Fünf Jahre Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Ergebnisse und Perspektiven

Organisatoren
Peter Burschel / Ulrike Gleixner / Timo Steyer / Marie von Lüneburg, Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2018 - 18.09.2018
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Von
Alexandra Serjogin, Universität Kassel

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach, die Klassik Stiftung Weimar und die Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel konstituierten sich 2013 zu einem Forschungsverbund, der sich der historischen Sammlungsforschung widmet. Das Ende der ersten Phase nahm der Verbund in einer Tagung zum Anlass, Bilanz, über die gemeinsamen Projekte zu ziehen und damit auch die 2019 beginnende zweite Förderphase vorzubereiten. Darüber hinaus wurden allgemeine Fragen der Forschung und Erschließung von Sammlungen besprochen. Eine wesentliche Herausforderung besteht derzeit in der Entwicklung und Anwendung digitaler Methoden für die Sammlungsforschung. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass für einen Großteil der kleineren und größeren Sammlungen eine analoge Tiefenerschließung bislang keineswegs abgeschlossen ist.

Die erste Sektion, moderiert von STEFAN HÖPPNER (Weimar), widmete sich den Zukunftsaussichten der Sammlungsforschung. MARKUS HILGERT (Berlin) erörterte in seinem Vortrag die Frage, in welchem grundlegenden Bezug zur Gesellschaft sowie zu den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen die Erforschung des kulturellen Erbes, insbesondere unter den Bedingungen der digitalen Transformation, steht und welche zusätzlichen, innovativen Forschungsperspektiven sich daraus für die sammlungsbezogene Grundlagenforschung in kulturbewahrenden Einrichtungen ergeben. Mit dem Blick auf ein staatlich gefördertes Forschungskonsortium öffentlicher Einrichtungen, die Archive, Bibliotheken und Museen unter ihren Dächern vereinigen, fragte der Vortrag nach dem möglichen forschungsbasierten Beitrag dieser Einrichtungen zur gesellschaftlichen sowie politischen Diskussion um Kulturgüter und für den langfristigen, staatlich getragenen Schutz von Kulturgütern des gesamtgesellschaftlich relevanten kulturellen Erbes. REINHARD LAUBE (Weimar) ging in seinem Vortrag auf die Geschichte der Kommunikation des Heilsberger Steins ein, einer aus Tübingen stammenden mittelalterlichen Inschrift, aus der sich eine Sammlung entwickelte. Deutlich wurde hier die für die historische Sammlungsforschung wichtige Verzahnung von Erschließung und Erforschung. TOBIAS HEINZELMANN (Zürich) berichtete den Tagungsgästen über Büchersammlungen und Bibliotheken im Osmanischen Reich, indem er über die wichtigsten Sammlungen, die besitzenden Institutionen und deren Umgang mit den neuen technischen Möglichkeiten im islamischen Kontext anschaulich informierte.

Die zweite Sektion umfasste den dynamischen Aspekt des Sammelns. Sie wurde von CARSTEN ROHDE (Weimar) moderiert und von INA HEUMANN (Berlin) eröffnet. Heumann wandte sich dem speziellen Fall des Berliner Naturkundemuseums in den Jahren 1942/1943 zu und betrachtete als Quelle eine Tabelle in deutscher und russischer Sprache aus dem Jahr 1948 mit dem Titel „Aufstellen des Vermögens“, welche auf Befehl der sowjetischen Administration zur Mitteilung über die aus den besetzten Gebieten von den Deutschen entwendeten Güter entstand. Sie zog das Fazit, dass Naturgüter nur dann den Status eines Kulturgutes erreichen, wenn sie einer Bearbeitung unterzogen werden. Der anschließende Vortrag von PETRA FEUERSTEIN-HERZ (Wolfenbüttel) diskutierte ausgehend von der Problematik der Begriffsgeschichte die Eignung des Begriffs der „Krise“ als Folie für die Sammlungsforschung anhand verschiedener Krisenszenarien in unterschiedlichen Epochen. Der Schwerpunkt lag dabei auf dem Kreislauf der Objekte in Sammlungen, den die Krisen dynamisieren. Abschließend richtete CAROLINE JESSEN (Marbach) in ihrem Vortrag das Augenmerk auf die nach 1945 erfolgten Prozesse bibliothekarischen und archivarischen Wiederaufbaus sowie die Problematik, dass „Herkunftsangaben“ zum Gesammelten in den meisten öffentlichen Institutionen fehlen. Wert wird dagegen auf die Präsentation eines Sammlungszusammenhangs gelegt, der die Kontinuität der Überlieferung erweist. „Provenienz“, so Jessen, sei noch immer vorrangig präsent als eine Kategorie des Ruhms großer Namen und der Dokumentation von Raub- und Beutegut. Für die Forschung sei es aber kaum erkennbar, welch große Rolle „remigrierte“ Handschriften nach 1945 für die Überlieferung des „nationalen Kulturguts“ und die auf sie angewiesene Erschließungsarbeit gespielt haben. Die Dokumentation der Herkunft sei in diesem Fall jedoch nicht nur eine symbolische Aufgabe, sondern vor allem auch ein wissenschaftsgeschichtlich und philologisch bedeutsamer Akt.

JÖRN MÜNKNER (Wolfenbüttel) eröffnete die dritte Sektion und lud die Tagungsgäste ein, sich im Rahmen einer Tool Gallery über die Inhalte, Forschungsfragen, Publikationsstrategien, Verschränkungen der Digital Humanities und der traditionellen Erschließungsarbeit sowie über die Projektergebnisse der ersten fünfjährigen Phase des Forschungsverbunds zu informieren. Es präsentierten sich die drei Forschungsprojekte: „Autorenbibliotheken: Materialität – Wissensordnung – Performanz“, „Text und Rahmen: Präsentationsmodi kanonischer Werke“ und „Bildpolitik: Das Autorenporträt als ikonische Autorisierung“. Diese bildeten den Kern der ersten Förderphase des Verbunds, in dem sie die aktuellen Fragestellungen der Text-, Bild-, Buch- und Medienwissenschaften sowie der Ideen- und Wissenschaftsgeschichte aufgriffen und mit bestandsbezogenen Forschungsperspektiven zusammenführten. Unterstützt wurden die Projekte durch eine gemeinsame Infrastruktur des Forschungsverbunds, die sich anhand der drei häuserübergreifenden Projekte zeigte: Datenmodellierung und Metadaten, das Erstellen eines virtuellen Forschungsraums und der Aufbau eines verlässlichen Speichers.
Des Weiteren wurden die beiden zentralen Publikationsorgane des Verbunds – die Zeitschrift für Ideengeschichte (ZIG) und die Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften (ZfdG) – ebenso vorgestellt wie die umfangreichen Nachwuchsprogramme des Verbunds, deren Schwerpunkt Stipendien im Bereich der Digital Humanities bilden.

Den Abschluss des ersten Tages bildete der Vortrag von JULIA VOSS (Lüneburg). Die Kunstwissenschaftlerin und Journalistin kritisierte die Entwicklung, welche die Werke der Bildenden Künste auf ein Finanzprodukt reduziert, sowie die Veränderung der musealen Räume von non-profit-Einrichtungen zu durchaus profitorientierten Medienplattformen. Sie untersuchte die Rolle der privaten wie auch öffentlichen Datenbanken in diesem Prozess mit einem Ausblick in die Zukunft der Kunstrezeption und kunstwissenschaftlicher Forschung, wobei sie das Milieu der Datenbankenprojekte als einen „schlafenden Riesen“ definierte.

PHILIP AJOURI (Marbach) moderierte die vierte Sektion, die sich vor allem der Technik und deren Möglichkeiten widmete. THOMAS DÖRING (Braunschweig) stellte in seinem Vortrag den seit 2013 vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur geförderten Forschungsverbund „Kupferstichkabinett online“ vor. Das Ziel des Verbundprojektes ist die virtuelle Wiedervereinigung der umfassenden, sammlungsgeschichtlich eng miteinander verflochtenen Graphikbestände aus dem Kupferstichkabinett des Herzog Anton Ulrich-Museums und der Herzog August Bibliothek im Sinne ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit. Ziel ist die Digitalisierung und Erschließung von 62.000 druckgraphischen Bildern der beiden Institutionen sowie ihre Präsentation in einem Online-Portal „Virtuelles Kupferstichkabinett“1. MARTIN LANGNER (Göttingen) beschrieb in seinem Vortrag das Vorhaben, eine nicht erhaltene Skulpturensammlung zu rekonstruieren und die historischen Rezeptionsbedingungen als virtuellen, dreidimensionalen Raum möglichst realistisch erfahrbar zu machen. Er ließ die Tagungsbesucher sowohl an der Recherchearbeit als auch an den Digitalisierungsprozessen und den technischen Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen teilhaben und berichtete über die noch ausstehenden Schritte bis zum Abschluss des Projektes. ANDREAS HENRICH (Bamberg) widmete sich anschließend in seinem Vortrag der Frage, wie generische und fachspezifische Informationsbedürfnisse in der Wissenschaft durch aktuelle Suchtechnologien unterstützt werden können. Er schlug Optimierungen der aktuellen Suchwerkzeuge vor, um die Such- und Recherchevorgänge durch ein breites Informations- und Quellenspektrum zu erleichtern. Die praktische Umsetzung der Suche über heterogene Datenbestände wurde am Beispiel von DARIAH-DE demonstriert, einem von neunzehn universitären und außer-universitären Einrichtungen getragenem Projekt zur Schaffung einer digitalen Forschungsinfrastruktur für die Geistes- und Kulturwissenschaften.

Zum Abschluss der Tagung diskutierten HELLMUT SEEMANN (Weimar), PETER BURSCHEL (Wolfenbüttel), WILHELM KRULL (Hannover), CLAUDINE MOULIN (Trier) und SANDRA RICHTER (Stuttgart) die Frage, was Sammlungsforschung in institutionenübergreifenden Forschungsverbünden leisten kann und soll. Besprochen wurden die Verstetigung und Institutionalisierung des Forschungsverbunds sowie der damit einhergehende Internationalisierungsaspekt: die Vernetzung über die deutschen Grenzen hinaus und eine Intensivierung des bereits bestehenden Stipendiatenprogramms. Zur Diskussion gestellt wurde auch die Rolle des Forschungsverbunds in Bezug auf Lernorte wie Schulen und Universitäten, um die publikumsorientierte Sammlungsforschung zu stärken. Bei der Zusammenarbeit mit universitären Einrichtungen könnte sich der Verbund bei der Erschließung außerinstitutioneller Sammlungen einbringen und schwächer aufgestellte Einrichtungen in der Schwellensituation von analog zu digital als Best Practice Beispiel für Digital Humanities unterstützen. Um jedoch eine innovative, forschungs- und publikumsorientierte Struktur der digitalen Präsentation von Daten sowie eine langfristige und nachhaltige Bereitstellung dieser zu gewährleisten, wird ein offenes und intensiveres Zusammenwirken zwischen analogen und digitalen Hermeneutiken notwendig sein.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Wilhelm Krull (Volkswagen Stiftung), Peter Burschel (Wolfenbüttel)

Sektion I: Perspektiven

Markus Hilgert (Berlin): Zwischen Kulturerhalt und gesellschaftlichem Transfer – Perspektiven der Erforschung kulturellen Erbes im Rahmen der digitalen Transformation.

Reinhard Laube (Weimar): Das Wissen der Sammlungen. Perspektiven der Sammlungserschließung.

Tobias Heinzelmann (Zürich): Büchersammlungen und Bibliotheken im Osmanischen Reich – Typologie und Forschungsperspektiven.

Sektion II: Dynamiken

Ina Heumann (Berlin): Aneignen. Ökonomien naturwissenschaftlicher Dinge.

Petra Feuerstein-Herz (Wolfenbüttel): Sammlung und Krise – Dynamiken im Kreislauf der Objekte.

Caroline Jessen (Marbach): Vom Auffüllen der Kriegslücken. Idee und Material eines Überlieferungskontinuums nach 1945.

Sektion III: Tool Gallery
1) Digitale Infrastruktur, 2) Autorenbibliotheken, 3) Text und Rahmen, 4) Bildpolitik, 5) Zeitschriften, 6) Veranstaltungen, 7) Nachwuchsprogramme

Abendvortrag:

Julia Voss (Lüneburg): Wie Datenbanken Geschichte schreiben.

Sektion IV: Forschungslabor

Thomas Döring (Braunschweig): Kupferstichkabinett online – Ein Forschungsverbund zur digitalen Erschließung und Rekonstruktion fürstlichen Graphiksammelns in Braunschweig-Wolfenbüttel.

Martin Langner (Göttingen): Este Virtuell. Zur Rekonstruktion des spätbarocken
Museo Profano Tommaso Obizzis als virtuelles Museum.

Andreas Henrich (Bamberg): Suchwerkzeuge für Sammlungen: Herausforderungen, Trends und Strategien.

Round Table: Perspektiven der Sammlungsforschung

Peter Burschel (Wolfenbüttel), Wilhelm Krull (Hannover), Claudine Moulin (Trier), Sandra Richter (Stuttgart); moderiert von Hellmut Seemann (Weimar).

Anmerkung:

1 Vgl. http://www.virtuelles-kupferstichkabinett.de (15.12.2018).


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