32. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK)

32. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK)

Organisatoren
Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung (SAK)
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2018 - 25.11.2018
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Von
Florian Bock, Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit, Ruhr-Universität Bochum; Daniel Gerster, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Die Tagung, die von den beiden Sprechern Florian BOCK (Bochum) und Daniel GERSTER (Münster) geleitet wurde, fand in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn statt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen auch in diesem Jahr die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung. Die Generaldebatte am Sonntagvormittag widmete sich in diesem Jahr dem Thema „Die (Neu-)Vermessung der katholischen Welt. Katholizismen des 19. und 20. Jahrhunderts“.

Am Freitagabend stellte SYLVIE LE GRAND-TICCHI (Paris-Nanterre) einige der zentralen Ergebnisse ihrer Habilitationsschrift „Ernst-Wolfgang Böckenförde als Vermittler (médiateur) zwischen Katholizismus und Sozialdemokratie“ vor. Anliegen der Arbeit ist es, die widersprüchliche Einordnung von Böckenförde und seines bekannten Paradoxons „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“ in den bundesdeutschen Debatten zu dekonstruieren. Dazu stützt sie sich auf Archivarbeiten ebenso wie auf textanalytische Untersuchungen des theologisch-politischen Werks von Böckenförde. Letztlich könne die Denkkategorie der Vermittlung als zentral im Werk und Wirken des Autors belegt werden. Dem Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion, die sich vor allem den konkreten Modalitäten der Beziehungen von Böckenförde zur SPD und dem hohen Stellenwert des Staatsbegriffs widmete.

Den Samstag eröffnete ALINA POTEMPA (Bochum) mit der Vorstellung ihres Promotionsprojekts, in dem sie „katholische Rezeptionsweisen“ wirtschaftsliberaler Theoriebildung und modern-ökonomischer Praktiken in spätaufklärerischen und ultramontanen Kontexten bis 1865 untersucht. Basierend auf den bisher weitgehend unerforschten ökonomischen Reformvorstellungen des Theologen Wessenberg (1774–1860) und den Arbeiten des belgischen katholischen Ökonomen Périn (1815–1905) zeigte sie auf, wie sich zeitgenössische ökonomische und katholische Ideenhorizonte über kontextuell spezifische Freiheitskonzepte höchst verschiedenartig durchdringen konnten. Beispielhaft demonstrierte sie dies anhand einiger Stellungnahmen zum Freihandelsgedanken.

ELENA HEIM (Freiburg) ging im Anschluss dem Prozess der nationalen und regionalen Integration der katholischen Bevölkerung im Großherzogtum Baden zwischen 1866/71 und 1914 nach. Anhand exemplarisch ausgewählter Kriterien (Kulturkampf, parteipolitische Interessenvertretung, gesetzliche Regulierung öffentlich ausgeübter Frömmigkeitspraktiken, Partizipation staatlicher Amtsträger an kirchlichen Feierlichkeiten, identitätsstiftende Funktion der Herrscherdynastien) beleuchtete sie unter konfessionellen Gesichtspunkten die Ambivalenzen und Schwankungen des nationalen und regionalen Integrations- bzw. Identitätsbildungsprozesses. Daraus schlussfolgerte sie, dass diese scheinbar nach einem ähnlichen Muster verlaufen seien, was zum einen an der spezifischen doppelten Konfliktsituation der katholischen Bevölkerung in Baden gelegen habe, und zum anderen an der generell kaum vorhandenen Konkurrenz zwischen Einzel- und Nationalstaat.

JOHANNA SCHMID (Augsburg) sprach im Anschluss über die bayerische Revolution von 1918/19 im Spiegel von Amtsblatt und Kirchenzeitung der Diözese Augsburg, wo – so ihre These – der Klerus als verlängerter Arm der Obrigkeit fungierte. Er ebnete trotz einzelner Konfliktfelder letztlich den Weg in das neue Staatswesen; ein Vorgang, der durch die Mobilisierung von Katholiken als politisch Agierenden gestaltet wurde und durch die Verbreitung von antisozialistischen und antisemitischen Feindbildern beeinflusst wurde.

Am Samstagnachmittag stellte zunächst JAN-MARTIN ZOLLITSCH (Berlin) sein Forschungsprojekt zur Herrnhuter Brüdergemeinde und der Schönstattbewegung vor, das sich zwischen Kriegsausbruch 1914 und einem bis in die frühen 1930er-Jahre entworfenen „langen Weg aus dem Ersten Weltkrieg“ beiden Fallstudien im Vergleich widmet. Nach einer einführenden Situierung derselben, methodische Zugänge, forschungsleitende Aspekte und Bezugspunkte betreffend, ging Zollitsch im Detail auf das Jahr 1919 und die Institutionalisierung der Schönstattbewegung ein. Ein 1914 am Studienheim der Pallottiner von Vallendar-Schönstatt lanciertes Moment religiöser Mobilmachung sollte so mittels eines unter Kriegsbedingungen entstandenen dichten Geflechts an Kommunikationsformen und Techniken der spirituellen Selbsterziehung in die Nachkriegszeit überführt werden, bei gleichzeitiger Öffnung für Laien.

Zum Abschluss der Präsentation aktueller Forschungsprojekte stellte CHRISTIAN KASPROWSKI (Paderborn) sein Promotionsprojekt vor. Das Demokratieverständnis des Paderborner Erzbischofs Lorenz Jaeger wird in der Forschungsarbeit mit Hilfe eines Analyserasters, welches von der Demokratiemessung abgeleitet wird, untersucht. Die Themenschwerpunkte der Arbeit sind dabei die Entwicklungen in Jaegers Demokratieverständnis von 1945 bis 1973, sein Einwirken auf die Politik im engeren und weiteren Sinn und zuletzt die Betrachtung des Spannungsfeldes Kirche und Demokratie. Die Qualifikationsarbeit verfolgt das Ziel, exemplarisch für einen Bischof in der jungen Bundesrepublik, die Überschneidungen und Grenzen des demokratischen Denkens aufzuzeigen.

Am Samstagabend griff der SAK mit der Fragestellung „1968 – Aufbruch in einen pluralen Katholizismus?“ nicht nur das 50-jährige Jubiläum dieses bundesrepublikanischen Umbruchjahres auf, sondern schlug zugleich eine Brücke zu der sonntäglichen Generaldebatte, die in diesem Jahr nach dem Umgang mit Pluralität und Diversität im Katholizismus fragte. Unter der Moderation von MARKUS LENIGER (Schwerte) wurde dazu zusammen die WDR-Dokumentation „Treffpunkt Essen. Schlussbericht zum 82. Katholikentag“ aus dem Jahr 1968 angeschaut und diskutiert.

Die Generaldebatte des Schwerter Arbeitskreises widmet sich am Sonntagvormittag der (Neu-)Vermessung der Katholizismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Ausgangspunkt der Diskussion war die Erkenntnis, dass Katholikinnen und Katholiken der neueren Geschichte sich häufig weniger uniform verhielten, sondern wesentlich pluraler handelten, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Angesichts der attestierten Pluralität stellt sich daher die Frage, wie der katholische Raum des 19. und 20. Jahrhunderts angemessen historisch kartographiert werden kann.

WILFRIED LOTH (Duisburg-Essen) argumentierte in seinem Vortrag, dass der soziologische Milieu-Begriff, wie er von M. Rainer Lepsius in den 1960er-Jahren in die Katholizismus-Debatte eingeführt wurde, auf den deutschen Katholizismus zwischen Reichsgründung und Frühphase der Bundesrepublik nicht undifferenziert angewandt werden kann. Man muss vielmehr von regional und sozial unterschiedlich geprägten Milieus ausgehen, die durch die Diskriminierung im Kulturkampf gesamtgesellschaftlich überwölbt wurden und so zur Ausbildung einer katholischen Subgesellschaft führten.

KLAUS GROSSE-KRACHT (Münster) präsentierte im Anschluss die Theorie des „religiösen Feldes“ von Pierre Bourdieu als Alternative zum Milieu-Begriff. Während letzterer vor allem die Homogenität des katholischen Bevölkerungssegments betone, ermögliche die Feld-Theorie eine deutlichere Wahrnehmung von Spannungen und Konflikten. Ein weiterer methodischer Vorteil des Feld-Begriffes bestehe darin, dass dieser sowohl auf die Phase der Milieugeschlossenheit wie auch auf den inzwischen über mehrere Jahrzehnte sich erstreckenden Prozess der Milieu-Erosion Anwendung finden kann. Einschränkend wies Große Kracht allerdings auf den latenten Determinismus der Feld-Theorie Bourdieus hin, dem er durch die Einbeziehung einer hermeneutischen Perspektive auf den jeweiligen „Erwartungshorizont“ zu begegnen versuchte.

In der anschließenden Diskussion hinterfragten die Teilnehmer/innen den Mehrwert und die Grenzen beider Forschungsansätze für die Katholizismusforschung. Deutlich wurden hierbei die unterschiedlichen Perspektiven beider Theorien: Während die Milieu-Theorie eher nach der sozial-kulturellen Verortung der Katholikinnen und Katholiken innerhalb der deutschen Gesellschaft fragt, geht es der Feld-Theorie vor allem auch um die Frage von Machtpositionen und -konstellation innerhalb der katholischen Gemeinschaft selbst. Beide Konzepte stünden daher nicht in unmittelbarem Kontrast zueinander, sondern eigneten sich dazu, unterschiedliche Fragestellungen zu beantworten.

Konferenzübersicht:

Sylvie Le Grand-Ticchi (Paris): Ernst-Wolfgang Böckenförde als katholischer Brückenbauer zur Sozialdemokratie. Neuverortung einer bundesdeutschen Ikone

Alina Potempa (Bochum): Wie Katholiken die Moderne entdeckten. Rezeptionsweisen, Initiativen und Ambitionen in katholischer Spätaufklärung und Ultramontanismus

Elena Heim (Freiburg): Nationale und regionale Integration im Deutschen Kaiserreich. Die Katholiken im Großherzogtum Baden als Fallbeispiel

Johanna Schmid (Augsburg): Stütze des Staates oder kritische Masse? Die bayerische Revolution 1918/19 im Spiegel von Amtsblatt und Kirchenzeitung der Diözese Augsburg

Jan-Martin Zollitsch (Berlin): Religiöses Leben und Lernen in Krieg und Nachkriegszeit. Die Herrnhuter Brüdergemeinde, die Schönstattbewegung und der lange Weg aus dem Ersten Weltkrieg

Christian Kasprowski (Paderborn). Das Demokratieverständnis Erzbischof Jaegers

Wilfried Loth (Duisburg-Essen): Bewegungen, Milieus, Subgesellschaft: Strukturen des katholischen Deutschlands im Wandel

Klaus Große Kracht (Münster): ‚Feld‘ und ‚Horizont‘. Stellungnahmen im deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts


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