Konzepte sexueller Gesundheit vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert – Jahrestagung 2018 des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin

Konzepte sexueller Gesundheit vom Mittelalter bis zum 21. Jahrhundert – Jahrestagung 2018 des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin

Organisatoren
Marina Hilber / Michael Kasper / Elisabeth Lobenwein / Alois Unterkircher / Alfred Stefan Weiß; Verein für Sozialgeschichte der Medizin; Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg; Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck; Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt; Forschungszentrum Medical Humanities der Universität Innsbruck; Montafoner Museen
Ort
Schruns
Land
Austria
Vom - Bis
08.11.2018 - 10.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Aaron Salzmann, Universität Innsbruck

Der Verein für Sozialgeschichte der Medizin versammelte für sein Tagungsformat „Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit“ auch heuer wieder eine interdisziplinäre und internationale Gruppe an Forschenden, welche sich zu Themen der Sexualforschung austauschten. Dabei wurde vom Organisationsteam großer Wert darauf gelegt, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen historischen Themen und modernen soziopolitischen Fragen zu finden. Dadurch wurden möglichst viele Facetten des aktuellen Forschungsdiskurses über Konzepte sexueller Gesundheit inkludiert und ein breiter zeitlicher Bogen vom Mittelalter bis hin zu aktuellen tagespolitischen Debatten gespannt. Themenkomplexe wie Sexualmoral, medizinische Entwicklungsgeschichte, therapeutische Maßnahmen, sexuelle Aufklärung, aber auch meinungsbildende Organisationen und Personen in ihrer jeweiligen Entwicklungsgeschichte konnten so präzise nachempfunden und in den unterschiedlichen Zeitepochen verortet werden.

Die Tagung gliederte sich in fünf Panels, welche jeweils thematisch zusammenhängende Vorträge in sich vereinten. Auf eine zeitliche Chronologie wurde vom Organisationsteam bewusst verzichtet. Insgesamt konnte sich das Publikum auf 16 Beiträge von Forscherinnen und Forschern freuen, die ihre derzeitigen Projekte und Arbeiten vorstellten. Das dichte Programm konnte dank einer Exkursion auf den Bartholomäberg, einer Führung durch das Montafon Archiv und einer großen abschließenden Schlussdiskussion angenehm aufgelockert werden.

Der Ablauf der verschiedenen Panels soll nun teilweise aufgebrochen werden, um die wichtigsten thematischen Leitfäden der Tagung schlüssig abzubilden. Als erster Vortragender, führte ALFRED STEFAN WEISS (Salzburg) das Publikum zunächst allgemein in das Tagungsthema ein, indem er über die Liberalisierung des Themas „Sex“ im 20. Jahrhundert referierte. Zugleich brachte er aber auch Zweifel an der sogenannten „Sexwelle“ an. Sein eigentlich vorgestelltes Forschungsgebiet stand aber unter dem Credo sexueller Gesundheit. Genauer gesagt, argumentierte Weiß, bezugnehmend auf aktuelle medizinische Studien, dass die psychische Gesundheit nur dann gefördert wird, wenn in einer Partnerschaft sowohl Liebe, als auch Sex vorhanden ist. GERHARD AMMERER (Salzburg) berichtete über das Josephinische Strafgesetzbuch von 1787 und stellte dabei fest, dass die aufgeklärten Rechtsexperten darin die sexuelle Gesundheit der Untertanen ausführlich thematisierten. Aufbauend auf der Ansicht, dass Sex gesund sei, kam es zu einer weitreichenden Entkriminalisierung von in früheren Gesetzestexten als gesetzeswidrig definierten sexuellen Handlungen – vereinfacht gesagt, wurden alle freiwilligen, sexuellen Handlungen, mit Ausnahme der Prostitution und „Unzucht wider die Natur“, von nun an als Privatsache betrachtet. Während die Josephinischen Rechtsgelehrten sich in erster Linie auf die Bedürfnisse von Männern fokussierten, legte Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917), eine der ersten Ärztinnen im deutschen Raum, ihren Fokus auf die weibliche Sexualität. NORA LEHNER (Wien) konnte zeigen, dass Fischer-Dückelmann mit einem Tabuthema brach und eine eigenständige Sexualität bei Frauen feststellte. Damit stellte sie sich bewusst gegen die vermeintliche sexuelle Minderwertigkeit von Frauen. Die Ärztin verurteilte zwar Homosexualität und Onanie, betrachtete beides jedoch als Krankheit und nicht als Straftat. Bei der World Association for Sexual Health, kurz WAS, lässt sich der Inhalt bereits aus dem Namen ablesen. ALAIN GIAMI (Paris) stellte die Organisation vor, die seit 1978 versucht, die öffentliche Wahrnehmung von sexueller Gesundheit und sexuellen Rechten zu stärken. Der Organisation geht es neben dem wissenschaftlichen Austausch auch um eine breitenwirksame Kampagne – frei nach dem Motto „Raus aus dem Elfenbeinturm“. Dort wollte sich Fritz Brupbacher (1874–1945) ebenfalls nicht verortet wissen. Der kommunistisch geprägte Schweizer Arzt, vorgestellt von CHRISTIAN KAISER (Bonn), betrieb in der Arbeiterschicht sexuelle Aufklärungsarbeit. Sein Ziel war die sexuelle Befreiung aller Menschen, welche er als einen Grundpfeiler allgemeiner Gesundheit und Zufriedenheit betrachtete. Diese wollte Brupbacher im Übrigen nicht nur auf heterosexuelle Menschen reduziert wissen – alles, was gefällt und niemandem schadet, sollte erlaubt sein. Sein hedonistischer Zugang zeigte sich auch in seiner positiven Einstellung gegenüber Verhütung und Abtreibung – letztere lehnte er unter medizinischer Betreuung nicht ab, da nur so heimliche Abtreibungen unter widrigen Umständen verhindert werden könnten. MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) referierte über sexualtherapeutische Maßnahmen in Psychiatrien im 18. und 19. Jahrhundert und rekonstruierte damit ein Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis. Während nämlich auf einer theoretischen Ebene Sex als Therapiemaßnahme durchaus positiv bewertet wurde, um den Organismus wieder mit sich selbst in Einklang zu bringen, herrschten in der Praxis meist rigide Formen von Sexualmoral vor, die sich etwa am dominanten Onanie-Diskurs manifestierte. PETER DINZELBACHER (Werfen) reiste bei seinen Untersuchungen bis ins Mittelalter zurück. (Therapeutischer) Sex wurde dort häufig als Sünde dargestellt. Entgegen der heute häufig vorherrschenden Meinung, wonach die Kirche dieses für sie unerwünschte Thema komplett kontrolliert hätte, stellt Dinzelbacher aber fest, dass Geschlechtsverkehr in einigen Teilen der Gesellschaft auch damals als gesund erachtet wurde. Mit Bezug auf die Humoralpathologie erklärten sich diverse Forschende positive Effekte auf den Körper – ein Wissen, das die breite Bevölkerung aber selten erreichen sollte. Diese interessierte sich laut ELKE HAMMER-LUZA (Graz) aber sehr wohl für Aphrodisiaka – sofern das nötige Kleingeld vorhanden war. Diese Hilfsmittel stellten zwar ebenfalls ein Tabuthema dar, wurden aber aus denselben Gründen wie heute dennoch verwendet. Ob Pfeffer, Liebstöckl, Zimt, Nelken, Arsen, Spanische Fliege, phallusförmige Pflanzen oder tierische Produkte – die Experimentierfreude der Kräutermischer kannte kaum Grenzen. So ist es wenig verwunderlich, dass der Grat zwischen Erregung und Tod teilweise ein sehr schmaler war.

Neben den schon erwähnten Beiträgen, die ihren Fokus in erster Linie auf die sexuelle Gesundheit legten, gab es einen zweiten Block, in dem Fragen über Reproduktion, Aufklärung, Verhütung und medizinische Betreuung ins Zentrum des Interesses rückten, wenngleich die Trennlinie auf beiden Seiten äußerst durchlässig war. So sprachen MARIA BORMUTH und EUGEN JANUSCHKE (beide Berlin) über die deutsche HIV/AIDS-Politik seit den 1980er-Jahren. Sie konnten dabei sehr pragmatische und liberale Zugänge feststellen. So plakatierte die „Deutsche AIDS-Hilfe“ bereits 1985 einen in erster Linie an homosexuelle Männer adressierten Aufruf, Kondome zu verwenden. Die zumeist sehr zielgruppenspezifisch ausgerichteten Kampagnen konnten schließlich Kondome in der öffentlichen Wahrnehmung als wichtigstes Schutzmittel etablieren, wobei die Vortragenden kritisch anmerkten, dass dies auch heute noch Großteils der Fall sei, obwohl mit PREP seit geraumer Zeit ein medikamentöses Präventionsmittel zur Verfügung steht. PIERRE PFÜTSCH (Stuttgart) analysierte, dass die ab 1982 vermehrt in den Medien auftauchenden Berichte über AIDS in Deutschland zu einem (vorläufigen) Ende der Sexliberalisierung führten. Er schließt dies aus von ihm erhobenen Eingaben an bundesdeutsche Gesundheitsbehörden, welche ein großes Interesse an Aufklärung über HIV/AIDS erkennen ließen. Dieses Interesse fußte seiner Meinung nach vor allem auf der Furcht vor Ansteckung, welche ab 1986 – nach erfolgreichen Informationskampagnen – wieder zu sinken begann. Mit ANITA WINKLER (Zürich) kam es zu einem Wechsel von der BRD in die DDR. Dort wurde von 1963–1965 mit der vierteiligen Serie „Beziehungen zwischen Jungen und Mädchen“ versucht, sozialistische Sexualkunde für Jugendliche zugänglich zu machen. Ausschlaggebend war 1963 das von Walter Ulbricht ausgearbeitete „Jugendkommuniqué des Politbüros“ gewesen, das Themen wie Liebe und Verhütung mit dem staatstragenden Sozialismus kombinierte. Ideologieuntaugliche Themen wie Abtreibung und alleinerziehende Mütter wurden dabei aber ausgeklammert. LUTZ SAUERTEIG (Newcastle) brachte beide Länder zusammen, indem er die historische Dimension von Sexualität und Verhütung unter deutschen Jugendlichen thematisierte. Dabei stellte er für das 20. Jahrhundert vier sexualerzieherische Konzepte fest. Das erste versuchte Sex als Sünde darzustellen; Geschlechtsverkehr sollte nur innerhalb der Ehe und zum Zweck der Fortpflanzung geschehen. Das zweite warnte vor den Gefahren – Onanie wurde so beispielsweise als vermeintliche Krankheit dargestellt. Ab den 1920er-Jahren wurde vor allem vor den Risiken gewarnt, wobei nach den Behandlungsmöglichkeiten etwa von Syphilis durch Penicillin in erster Linie ungewollte Schwangerschaften in den Blick gerieten. Ab den 1960er-Jahren kam es schließlich zu einer „Normalisierung“ von Sex. Zu diesem Thema referierte auch BIANCA BURGER (Wien), jedoch mit einem regionalen Fokus auf das Montafon. Dort führte sie eine drei Generationen umfassende Befragung durch, um die von den Frauen verwendeten Verhütungsmethoden in Erfahrung zu bringen. Während das Thema bei Frauen älteren Jahrgangs noch tabuisiert wurde und daher nur auf wenig verlässliche „traditionelle“ Methoden zurückgegriffen werden konnte, gehörte für die befragten Frauen der Nachfolgegenerationen in den 1960er- und 1970er-Jahren die Pille bereits zum Alltag. Unter den Jüngsten geht die Bereitschaft zur hormonellen Verhütung aber wieder zurück. Reproduktive Gesundheit war bei den Befragten insgesamt ein sehr wichtiges Thema, welches auch FELICITAS SÖHNER (Düsseldorf) aufgriff. In ihrem Beitrag führte sie aus, dass die breite Verfügbarkeit von humangenetischen Beratungszentren im deutschen Raum, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Contergan-Skandals, dazu führte, dass werdende Eltern geradezu genötigt wurden, pränatale Diagnostik mit all ihren existentiellen Implikationen in Anspruch zu nehmen. Ein Grundsatz, der erst in den 1980er-Jahren wieder aufgegeben wurde. Praktisch mit dem Gegenteil – nämlich der ungewollten Kinderlosigkeit – setzte sich MARINA HILBER (Innsbruck) auseinander. Sie untersuchte die gynäkologische Privatpraxis des Arztes Ludwig Kleinwächter (1839–1906), der Ende des 19. Jahrhunderts in Czernowitz (Bukowina) eine vorwiegend jüdische Klientel bediente. Aufgrund seiner Expertise wurde Kleinwächter sehr häufig von kinderlosen Paaren aufgesucht, sie machten rund 15 Prozent seiner Patientinnen aus. Hilber fokussierte sich dabei auf die Strategien der Patientinnen im Umgang mit der Kinderlosigkeit sowie die therapeutischen Ansätze des Arztes. Dieser nahm den unerfüllten Kinderwunsch als gesundheitliches und soziales Problem wahr – Jahrzehnte bevor die WHO Kinderlosigkeit als Krankheit anerkannte.

CHRISTINA VANJA (Kassel) stellte in ihrer Zusammenfassung sämtlicher Beiträge zur Diskussion, ob Sex denn nun wirklich gesünder sei als freiwillige Keuschheit. Mit ihrem Einwurf regte sie zum Nachdenken an und wies darauf hin, dass die positiven Entwicklungen, welche in den Präsentationen festgehalten wurden, im globalen Kontext bislang nur wenige Teile der Erde erreicht hätten.

Konferenzübersicht:

Impulsvorträge

Alfred Stefan Weiß (Salzburg): Sex. Facts and Fantasies. Eine lustvolle Annäherung an die letzten 50 Jahre (1968–2018)

Alain Giami (Paris): A History of the World Association for Sexual Health (1978–2017)

Panel I: Sex wird erstritten – Staatliche Zugriffe und Reglementierungen, Emanzipations- und Bürgerrechtsbewegungen

Gerhard Ammerer (Salzburg): Revolution in der Bewertung des Sexuellen? Diskurse und Neuinterpretation sexuellen Verhaltens bei der Vorbereitung des Josephinischen Strafgesetzbuches (1781–1787)

Panel II: Sex wird erklärt – Strategien zur Aufklärung und Prävention

Anita Winkler (Zürich): Sexy Sixties in the GDR: Film and Sex Education in State Socialism

Maria Bormuth / Eugen Januschke (Berlin): HIV-Präventionsmedien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) und Aidshilfen auf Grundlage der Bejahung von Sexualität und im Kontext ihrer Entwicklung sowie Konflikte in der Bundesrepublik Deutschland

Panel III: Sex wird gesund – Sexuelle Praktiken als Therapeutika

Peter Dinzelbacher (Werfen): Gesunder Sex im Mittelalter

Lutz Sauerteig (Newcastle): Sünde – Gefahr – Risiko – Sex: Sexualerziehung im 20. Jahrhundert

Elke Hammer-Luza (Graz): „Die Venus-Lust erweckende Mittel“. Aphrodisiaka in der Frühen Neuzeit

Maria Heidegger (Innsbruck): „[…] zur Erregung eines angenehmen Lebensgefühls“ (J. C. Reil). Therapeutische Konzepte von Sexualität im Kontext der frühen Psychiatrie

Pierre Pfütsch (Stuttgart): Bundesrepublikanische Ansichten der 1980er Jahre über Sexualität und Gesundheit

Panel IV: Sex wird (re)produktiv – Körper zwischen Selbstbestimmung und Bevölkerungspolitik

Christian Kaiser (Bonn): „Freiheit der Geschlechtsbetätigung, insofern dadurch niemand geschädigt wird“ – Gesundheit und Sexualität in Fritz Brupbachers medizinischer Anthropologie und Politik

Nora Lehner (Wien): Zur Sagbarmachung der weiblichen Sexualität im Sexualratgeber. „Das Geschlechtsleben des Weibes“ (1901) von Anna Fischer-Dückelmann

Bianca Burger (Wien): „Weib du bist frei“ – Sexualität und Verhütung im Montafon seit den 1960er-Jahren

Marina Hilber (Innsbruck): Patients‘ Quest for Reproductive Health – Encounters in a 19th Century Gynaecological Practice

Felicitas Söhner (Düsseldorf): Reproduktive Gesundheit und humangenetische Beratung in der Bundesrepublik

Panel V: Kommentar und Schlussdiskussion

Christina Vanja (Kassel): Sexualität als Thema einer Sozialgeschichte der Medizin – Resümee der Tagung und zukünftige Herausforderungen