Zitatkulturen des Mittelalters. Jahrestagung des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek

Zitatkulturen des Mittelalters. Jahrestagung des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek

Organisatoren
Carmen Cardelle de Hartmann, Universität Zürich; Martina Giese, Universität Potsdam
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2018 - 09.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Frank Buschmann, Institut für Germanistik, Universität Leipzig

Dem Zitat in seinen unterschiedlichen Ausprägungen in mittelalterlicher Literatur und Kultur widmeten sich verschiedene Beiträge der Jahrestagung des Mediävistischen Arbeitskreises der Herzog August Bibliothek. Für die Organisation zeichneten Carmen Cardelle de Hartmann und Martina Giese verantwortlich.

Die Tagung hatte zum Ziel, unterschiedliche Facetten des Zitates und Zitierens in der mittelalterlichen Kultur und Schriftlichkeit interdisziplinär zu beleuchten. Vertreten waren Fachwissenschaftler/innen der Geschichte, der lateinische Philologie und der Paläographie, der Kunst- und Musikgeschichte sowie der Germanistik. Die Beiträge behandelten folgende Themen: die paläographische und buchgestalterische Herausbildung von Zitatmarkierungen, die Entwicklung musikalischer Notationssysteme, gattungsinterne (Enzyklopädien, Briefrhetoriken, Historiographie) und werkspezifische (Albertus Magnus) Besonderheiten des Zitierens, Sonderformen von Bildzitaten im Spätmittelalter und Zitate aus mittelalterlichen Texten als poetologisches Konzept in der aktuellen deutschsprachigen Literatur.

Die Genese unterschiedlicher Arten von Zitatmarkierungen in lateinischen Handschriften des 4. bis 9. Jahrhunderts war Thema des eröffnenden Vortrages von EVINA STEINOVÁ (Toronto). Anhand paläographischer und statistischer Analysen zeichnete sie nach, wie sich die Verwendung layoutbasierter Markierungen (Ein- und Ausrücken, Schriftwechsel, Rubrizierung) und unterschiedlich gestalteter marginaler Anführungszeichen in Spätantike und Frühmittelalter entwickelte. Steinová konstatierte, dass es sich bei der Hervorhebung von Zitaten zunächst um eine christliche Praxis handle, da die frühesten Belege für bewusste Markierungen Bibelzitate als solche ausweisen würden. Layoutbasierte Hervorhebungen seien mit der Zeit durch verschiedene marginale Anführungszeichen – vor allem die kursive Diple habe sich durchgesetzt – ergänzt oder abgelöst worden. Insgesamt legte Steinová nahe, dass der Blick auf die Technik des Zitierens Rückschlüsse auf sich ändernde Produktions- und Lesegewohnheiten ermögliche, da ein Übergang von ursprünglich individuellen Einfügungen durch einzelne Nutzer hin zu einem standardisierten Element der Buchgestaltung erkennbar sei.

Die Entwicklung neuartiger musikalischer Notationssysteme unter Rückgriff auf Boethius‘ ‚De institutione musica‘ in zwei Traktaten des 9. Jahrhunderts von Aurelian von Réôme und Hucbald von St. Amand analysierte CHARLES ATKINSON (Columbus, Ohio). Beide Autoren hätten in unterschiedlicher Art und Weise auf die antike Autorität zugegriffen, um den im Frankenreich neu eingeführten römischen Ritus, dessen unbekannte Intervalle und deren skalaren Aufbau leichter erlern- und memorierbar zu machen. Aurelian habe in den ersten beiden Kapiteln mehrfach fast wortwörtlich aus Boethius‘ Text zitiert und auch Diagramme von dort übernommen, ohne den Autor zu nennen. Hucbald hingegen gebrauche neben indirekten Zitaten häufig direkte Zitate und verweise bei diesen auf Boethius. In mehreren Schritten habe Hucbald ein funktionierendes Notationssystem entwickelt, indem er verschiedene Beispiele des gängigen Repertoires der fränkischen Sänger herangezogen und zu Boethius‘ Ausführungen in Verbindung gesetzt habe; auf die komplexe mathematische Fundierung, die Boethius vornahm, habe er so verzichten können.

ISABELLE DRAELANTS (Paris) blickte auf die Entwicklung enzyklopädischer Texte zwischen 1180 und 1260, wobei sie den Umgang mit Autoritäten (auctores) und verschiedene Ausprägungen und Formen des Zitatgebrauchs nachzeichnete. Enzyklopädien als heterogene Gattung böten erschöpfende und allgemeingültige Zusammenfassungen verschiedener Quellen in Form von Zitaten zu einem Thema. Anhand des Libellus apologeticus des Vinzenz von Beauvais und anderer Beispiele aus dem Bereich naturwissenschaftlicher Enzyklopädien verdeutlichte sie, dass in der von ihr gewählten Phase eine intensive Assimilation neuer Autoritäten stattgefunden und sich das Selbstverständnis der kompilatorisch arbeitenden Enzyklopädisten emanzipiert habe. Die den einzelnen Werken zugrundeliegenden Konzeptionen von compilator, auctor und autor habe sich geändert, wie sich anhand der Paratexte und im Zitatgebrauch selbst zeige. Zunehmend sei es zudem möglich geworden, aus einem erweiterten Korpus von Autoritäten zu schöpfen und auch zeitgenössische Texte und eigene Beobachtungen als mögliche Referenzen zu nennen. Erkennen lasse sich daher eine Zuwendung der Enzyklopädien hin zur Philosophie und weg von der Theologie, da sich die tradierte christliche Ordnung von Autoritäten sukzessive umgekehrt habe.

FLORIAN HARTMANN (Aachen) präsentierte einen Überblick zur Entwicklung der in über 10.000 Handschriften überlieferten Lehrbücher zur Briefrhetorik (ars dictaminis), den artes dictandi, von der antiken Tradition zum späten Mittelalter. Hartmann verfolgte über den Nachweis von „Zitatketten“ Kontinuitäten der Gattung – artes dictandi würden bereits vorhandene artes dictandi zitieren und daher vor allem Kompilationen darstellen. Er legte nahe, dass der scheinbar direkte Zugriff auf antike Autoritäten in den artes dictandi des Spätmittelalters nicht als frühhumanistische Rückbesinnung zu verstehen sei, sondern forschungsgeschichtlich aus der noch immer prekären Editionslage resultiere. Hartmann verdeutlichte außerdem, wie umfassend in der Kanzleipraxis des (Spät-)Mittelalters aus verschiedenen Formelbüchern und Musterbriefsammlungen (summae dictandi), die zur rhetorischen Standardausbildung im Trivium gehörten und eine entsprechende Autorität und Bekanntheit besaßen, zitiert wurde. Da eine Markierung mittelalterlicher Vorlagen im Normalfall nicht erfolgte, würden auch hier intertextuelle Bezüge verschleiert durch die schlechte Editionslage.

Die Bedeutung von Zitaten für Untersuchungen zur Genese eines Textes, seiner Vorlagen und überlieferungsgeschichtlichen Abhängigkeiten verdeutlichte MARTINA HARTMANN (München) am Beispiel der Bamberger Weltchronistik des 11. und 12. Jahrhunderts. Da in der autographen Chronik des Komputisten Frutolf von Michelsberg aus vorhandenen Vorlagen zitierte längere Passagen fehlerfrei seien, während selbst formulierte Abschnitte nachträgliche Eingriffe aufwiesen, könne man dem Autor „bei seiner Arbeit immer wieder gut über die Schulter schauen“. Frutolf habe häufig mehrere Quellen parallel genutzt und zu harmonisieren versucht, wobei er die Zuverlässigkeit einzelner Vorlagen an den betreffenden Stellen diskutierte. Hartmann konnte in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung zeigen, dass der genaue Nachweis von Zitaten in Verbindung mit der Kollationierung von für die Textgenese oder -rezeption relevanten Handschriften stichhaltige Indizien zur Lösung stemmatischer Probleme beitragen kann. In derartigen Fällen, bei denen ein komplexes Geflecht von Abhängigkeiten zwischen unterschiedlichen Vorlagen und einem Werk bestünde, würde sich außerdem die Erarbeitung einer digitalen Edition anbieten, da diese den Vergleich betreffender Textstellen deutlich erleichtere.

MARC-AEILKO ARIS (München) betrachtete (Selbst-)Zitate und Querverweise im umfangreichen Œuvre des Dominikaners Albertus Magnus, welches gattungstypologisch und inhaltlich unterscheidbare Werkgruppen mit unterschiedlich ausgeprägten Arten und Funktionen des Zitatgebrauchs umfasse. Zitate und Verweise würden in der Frühphase die Autorschaft des Albertus belegen und dafür sorgen, die „doktrinelle Konsistenz seines Werkes zu generieren und zu demonstrieren und zugleich die Interdependenz der theologischen Aussagen nachzuweisen“. Jeweils unterschiedliche Erkenntnismethoden habe Albertus für Theologie und Philosophie angewandt, deren Verbindung als komplementäre Teile eines „Wissenssystems […] durch Zitate und Verweise garantiert [wird]“. Die bewusste Trennung unterschiedlicher Diskurse lasse sich auch an anderer Stelle erkennen: Die Bibelkommentare des Dominikaners würden belegen, dass seine Auslegungspraxis der vier Schriftsinne nicht mechanisch erfolgt, sondern ebenfalls an ihren Gegenstand angepasst worden sei; so habe er die mögliche Bedeutung verschiedener Passagen der Bibel fast ausschließlich über Bibelzitate ermittelt, womit der Status der Heiligen Schrift als sui ipsius interpres betont werde.

KLAUS NIEHR (Osnabrück) verdeutlichte anhand mehrerer Beispiele spätmittelalterlicher Marienabbildungen verschiedene „Modi der Referenzialität“ von Bildreproduktionen, die durch das intendierte Publikumsinteresse in ihrer Zitathaftigkeit unterschiedlich ausgeprägt wären. Möglich sei einerseits der Gebrauch traditioneller Bildformeln, andererseits als neue Tendenz des 15. Jahrhunderts die Anbindung an konkrete Darstellungen mit einer besonderen „Aura“. Diese Hinwendung zu einer einzelnen Vorlage deute auf eine „spezifische Kultur der Authentizität“ hin, die „Qualität behauptet und Autorität bestimmt“ und sich auch anhand (erinnerungs-)politischer Intentionen der Auftraggeber und zeitgenössischer Bildbeschreibungen belegen lasse. Diese Form der Referenzialität auf ein besonderes Bild könne zudem in zweifacher Hinsicht abgestuft sein: So sei die Tendenz erkennbar, dass für ein in den bildenden Künsten bewandertes Publikum hergestellte Repliken deutliche Anklänge moderner Abbildhaftigkeit hätten und mehr künstlerische Freiheiten ließen. Außerdem sei die Rückkehr zu traditionellen Formularen bei zunehmender Entfernung der neuen Abbildungsarten von ihrem spezifischen Zusammenhang mit besonders auratischen Vorlagen erkennbar, wenn dieser für die Rezipienten nicht mehr ersichtlich gewesen sei.

Einen Einblick in die produktive Rezeption mittelalterlicher Werke in der zeitgenössischen Literatur bot der Abendvortrag von FRIEDER VON AMMON (Leipzig). Mit Durs Grünbein fasste er Zitate als Form des Zwiegesprächs mit Texten der Vergangenheit1, um im Anschluss verschiedene Formen und Funktionen des Zitierens mittelalterlicher Literatur in Gedichten des Lyrikers Thomas Kling und weiterer Autor/innen der Gegenwart nachzuzeichnen. Von Ammon legte nahe, dass Zitate einerseits Impulsgeber für literarische Produktivität, andererseits „Ausweis des eigenen poetischen Ansatzes“ und „Mittel der Positionierung von Autoren im literarischen Feld“ seien und insgesamt zur Herausbildung eines „Zitier-Zirkels im Zeichen des Mittelalters“ geführt hätten. Die germanistische Prägung der Literat/innen führe dabei zu einer Praxis des „elitären Zitates“, welche einen ähnlichen historisch-philologischen Wissensstand bei den Rezipient/innen voraussetze, um das jeweilige Erkenntnispotential der Gedichte in – oder trotz – seiner „textuellen Verwebung“ erschließen zu können.

Die verschiedenen Beiträge der Tagung zeigten aufgrund ihrer thematischen und methodischen Vielfalt das Potential, das die Beschäftigung mit dem Phänomen des Zitates für die mediävistische Forschung birgt. Zitate könnten als Grundlage und bzw. oder Arbeitsweise der Textgenese, als Schmuckwerk oder als verselbständigte gnomische Form begegnen, womit sicher nicht abschließend alle Gebrauchsarten und -zusammenhänge genannt sind. Als übergreifendes Ergebnis der Tagung wurde deutlich, dass die Untersuchung von Zitaten das Aufzeigen von Wissens- und Referenznetzwerken ermöglicht, welche historische Gegenstände in ganz unterschiedlicher Weise (neu) zu kontextualisieren vermögen. Mit offenem Ergebnis wurden aber auch verschiedene Problemfelder diskutiert: Wie sei mit Zitaten umzugehen, die nur eine implizite Referenzialität aufweisen und sich daher lediglich über heutige Methoden der Text-, Überlieferungs- oder Traditionskritik rekonstruieren lassen? Inwiefern ist in solchen Fällen die Kategorie ‚Zitat‘ angemessen? Wie lassen sich „Zitatketten“ nachweisen, die nicht auf einen Text selbst, sondern auf Auszüge aus diesem in Florilegien oder anderen Sammlungen zurückgehen? Wie sind Gedächtniszitate zu identifizieren und analysieren, die auf Wissen, das beispielsweise in der schulischen oder universitären Ausbildung erworben wurde, zurückgreifen? Kann bei der Verwendung von Texten aus Formelbüchern von einem Zitat gesprochen werden? Notwendig wäre neben weiteren an die Tagung thematisch angelehnten Studien ein methodisch eingrenzender Zitatbegriff, der den spezifischen Eigenheiten mittelalterlicher Quellenbezüge und nachweise gerecht wird und vermutlich nur, wie die einzelnen Beiträge verdeutlichten, aus den Gegenständen selbst heraus entwickelt werden kann.

Konferenzübersicht:

Evina Steinová (Pontifical Institute of Mediaeval Studies, Toronto): The oldest methods of citation-marking in the Latin West

Klaus Niehr (Universität Osnabrück): Herbeizitiert. Auctoritas und Memoria im reproduzierten Heiligenbild des späten Mittelalters

Marc-Aeilko Aris (Ludwig-Maximilians-Universität München): Zitate und Selbstzitate bei Albertus Magnus

Frieder von Ammon (Universität Leipzig): Zur Zwiesprache bereit. Mittelalterliche Zitate in der Gegenwartsliteratur

Isabelle Draelants (Centre national de la recherche scientifique, Paris): Sub eisdem verbis abreviatis ut facilius in componendis libris auctoritates sic paterent: citer les autorités dans les encyclopédiques du 13e siècle

Florian Hartmann (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen): Scharniere einer Zitatkultur: Zitate in den und aus den artes dictandi des späten Mittelalters

Charles M. Atkinson (Ohio State University, Columbus): Direct and Indirect Citation in Early Medieval Treatises on Music

Martina Hartmann (Monumenta Germaniae Historica, München): Zwerge auf den Schultern eines Riesen? Frutolf vom Michelsberg und die Bamberger Weltchronistik des 11./12. Jahrhunderts

Anmerkung:
1 Durs Grünbein, Z wie Zitat, in: ders. (Hrsg.), Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt am Main 2005, S. 61–64.