V. Internationaler Pietismuskongress 2018. Teil I

V. Internationaler Pietismuskongress 2018. Teil I

Organisatoren
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung (IZP); Franckesche Stiftungen zu Halle; Historisches Kommission zur Erforschung des Pietismus
Ort
Halle
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.08.2018 - 29.08.2018
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Von
Christine Marie Koch, Universität Paderborn / Thomas Grunewald, Franckesche Stiftungen

Das Leitthema des durch die DFG geförderten Kongresses war „Gefühl und Norm. Pietismus und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert“. Damit griffen die Veranstalter das Feld der „emotional history“ auf, das in der Forschung der letzten Jahrzehnte eine signifikante Konjunktur erlebt, aber gerade im Hinblick auf die mit einer „wahren Herzensänderung“ verbundene, wichtigste Reformbewegung innerhalb des Protestantismus deutlich unterforscht ist. Aus interdisziplinärer Perspektive widmete sich der Kongress den zentralen Fragen nach dem Verhältnis von Gefühl und Norm im Pietismus, nach der Art und Weise des Ausdrucks von Gefühlen, wie diese normiert wurden und welche Instanzen mit welchen Argumenten über solche Normierungen entscheiden konnten. Einzelne Sektionen beschäftigten sich mit Begriff und Kontextualisierung von ‚Gefühl‘ im 18. Jahrhundert (Sektion A), Pietismus und Gefühlskulturen in gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten (Sektion B), Kunst und Medien, Expression und Performanz (Sektion C), sowie Pietismus als emotional regime (Sektion D), Norm und Gefühl als identitätsformende interdependente Faktoren (Sektion E) und der räumlichen und zeitlichen Divergenz von Gefühl und Norm (Sektion F). Diese Herangehensweise wurde durch die Perspektive der Genderforschung erweitert, deren Fragestellungen in einem eigenen Panel (Sektion G) Raum gegeben wurde. Die Organisatoren trugen der Vielfalt an Methoden und Fragen durch ein besonderes Panel (Sektion H) Rechnung, in dem Nachwuchswissenschaftler ihre Fragestellungen, Zugriffe und Ansätze sowie Ergebnisse auf einem internationalen Kongress präsentieren konnten. Die viertägige Veranstaltung setzte sich damit aus insgesamt acht Panels, sieben Hauptvorträgen mit sechs Expertenkommentaren, sowie Abendveranstaltungen und Exkursionen zusammen. Über 160 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen besuchten den Kongress mit den insgesamt 84 Vorträgen. Da diese parallel zueinander in vier Zügen gehalten wurden, können aus den verschiedenen Sektionen im Folgenden nur kursorisch einige Einblicke wiedergegeben werden, ohne dass mit der Auswahl eine inhaltliche Wertschätzung verbunden ist.

Nach den Begrüßungsworten gestaltete JACQUELINE VAN GENT (University of Western Australia) vom ARC Centre of Excellence for the History of Emotions den Eröffnungsvortrag zum Thema „Love, joy and tears. Emotions and Pietism in the early modern world“. Anhand von drei Beispielen aus dem Feld des Herrnhuter Pietismus (Findungsphase und „Mädchenbekehrungen“, Labradormission 1, Mission in der Dänischen Karibik) ging Van Gent der Frage nach, wie Emotionen normative Ordnungen etablierten und veränderten. Dabei beschrieb sie die pietistischen Communities als „Zufluchtsorte“, in denen die Mitglieder ihr Inneres, ihre Empfindungen, mit den sozialen Normen in Einklang zu bringen suchten. Dass es bei den Herrnhutern insbesondere auf den „state of heart“, den Zustand des Herzens, ankam, verdeutlichte Van Gent u.a. am Beispiel Christian Oldendorps, der sich in der Dänischen Karibik der 1760er-Jahre für eine Reform der Sklaverei aussprach. Oldendorp, so Van Gent, sah die Ursache für die mit der Sklaverei einhergehende Gewalt (regime of violence) in einem dem System immanenten Fehlen von Selbstkontrolle auf Seiten der Europäer begründet, welche nur durch einen Wandel des „emotional regimes“, einer Änderung des Herzens, überwunden werden könne.

Die Keynotes des ersten Konferenztages zu „Gefühl zwischen Medizin, Naturkunde und Spiritismus“ lieferten IRMTRAUT SAHMLAND (Marburg) und FRIEDEMANN STENGEL (Halle). Sahmland erörterte die Ansichten und medizinischen Anleitungen des pietistischen Arztes Johann Samuel Carl, der ein Schüler Georg Ernst Stahls war und Descartes Lehre ablehnte. In der Tradition der galenischen Körpersäftelehre stehend, begriff Carl den Körper als eine „irdische Hütte“, die sich die Seele für ihre Existenz gebaut habe. Ziel der Behandlung Carls war die Schaffung eines Gleichgewichts der Affekte in Körper und Seele, die durch Affektkontrolle erreicht werden sollte. Dabei hob Sahmland hervor, dass Carl in seinen medizinischen Anleitungen immer wieder die pietistisch-religiöse Bedeutungsebene einer Krankheit betonte, die als Bewährungssituation vor Gott zu verstehen sei, in der sich der Patient durch Beten, fromme Gespräche und entsprechende Lektüre als würdig erweisen könne.

Stengel stellte die Verschiebungen der Gefühlsdebatten im aufklärerisch-frommen Kontext des 18. Jahrhunderts dar, die allgemein als für die Verbindung von Religion, Gefühl und Moral stehend begriffen werden. Um 1700 habe sich unter dem Einfluss theosophischer Autoren ein Wandel zur Verinnerlichung von Religion vollzogen, dem sich beispielsweise August Hermann Francke mit der Bändigung des „Gefühls“ entgegenstellte, da er das Gefühl als im Gegensatz zur Norm befindlich auffasste, während es theosophische Autoren wie Gottfried Arnold mit der Weisheit (Sophia) als zusätzlicher Erfahrungsquelle verbanden und aufwerteten.Dabei wurde dem Gefühl generell eine hohe Bedeutung zugeschrieben, da es als von Gott kommend angesehen wurde, weshalb auch die Religion selbst als etwas Empfundenes betrachtet wurde (Buddeus). Demgegenüber setzte im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Verschiebung im Hinblick auf die Felder der Empirie, Physiologie und Offenbarung ein, wobei die Erfahrung – verstanden sowohl als Gefühl als auch Quelle von Erkenntnissen – erheblich aufgewertet und zugleich der Kritik ausgesetzt wurde. Während etwa vor allem der ältere Johann Salomo Semler, so Stengel, die Möglichkeit übersinnlicher Erfahrung generell einräumte, erkannte Johann Joachim Spalding nur in inneren Empfindungen einen allerdings lediglich indirekten göttlichem Ursprung und wandte sich damit gegen Zeitgenossen wie Johann Caspar Lavater, der in Anknüpfung an Emanuel Swedenborg nach einem sinnlichen Beweis für die Existenz Gottes suchte.

Dass Religion und Gefühl als untrennbar miteinander verschränkt betrachtet wurden, zeigten auch die Vorträge von JOSEPH S. FREEDMAN (Montgomery, AL, USA), PETER VOGT (Herrnhut) und JAN VAN DE KAMP (Amsterdam, Niederlande) in Sektion A, welche sich mit Begriff und Kontextualisierung von ‚Gefühl‘ auseinandersetzte. Während Freedman sich eingehender mit Emotion und Norm im „Tabulae synopticae“ von Johann Franz Buddeus beschäftigte, stellte Vogt die Suche nach einer “angemessenen Begrifflichkeit zur Erklärung menschlicher Religiosität” als maßgebliches Ziel Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs dar. Zinzendorf zufolge habe „eine jede Kreatur ein Gefühl von etwas Höherem” und dieses elementare Gefühl gebe den Menschen überhaupt Anlass zu institutioneller Gottesverehrung. Ähnlich, so van de Kamp, habe auch der reformierte Pastor Theodor Undereyck den Trieb zu Gott als unabhängig von der Vernunft gesehen. Dessen Intensität sei laut Undereyck allerdings abhängig von Temperament, Geschlecht und Übung.

Der Appell an ein dem Menschen inhärentes Gefühl spielte auch in der Herrnhuter Indianermission eine entscheidende Rolle, wie BARBARA BECKER-CANTARINO (Columbus, OH, USA) in ihrem Vortrag zeigte. Im Ohio der 1770er-Jahre vermittelten die Missionare den persönlichen Glauben als sinnliche Wahrnehmung: Das persönliche Gespräch galt als wichtiger als Predigt und der Unterricht in Dogmen; hier sollten die Missionare sensibel, aber bestimmend mit den ‘Wilden’ umgehen und ihre Botschaft nicht an den Verstand, sondern das Herz richten. Gleichzeitig habe, so Becker-Cantarino, eine Affektregulierung durch gemeinsam aufgestellte Statuten von Missionaren und Geschwistern der Gemeine zur Förderung gemeinschaftsbildender Gefühle und zur Disziplinierung negativer Emotionen beigetragen.

Kritisch äußerte sich ANDREAS BÄHR (Berlin) in seinem Vortrag zu einer Charakterisierung des Pietismus als Gefühlsreligion. Dabei handele es sich um eine anachronistische Zuschreibung, die den Wandel in der Emotionssemantik nicht berücksichtige. Affekte und Empfindungen im Pietismus seien nicht gleichzusetzen mit den Gefühlen, von denen beispielsweise Kant spricht, der das fühlende Subjekt vom Übernatürlichen abgekoppelt habe. Die Bezeichnung als Gefühlsreligion gehe u.a. auf Kants Einteilung in herzzermalmendes (Spenerisch-Franckischer Pietismus) und herzzerschmelzendes Gefühl (Herrnhuter) zurück. Kant konnotierte den Begriff der „Gefühlsreligion“ pejorativ, unter anderem, so Bähr, da er den zirkulären Schluss, dass Gnade dem Gebet vorausgehen muss, aber Gebet Voraussetzung für Gnade ist, als Beleidigung menschlicher Vernunft angesehen habe.

Den ersten Vortrag der Sektion G – “Gender und Pietismus – Zur Kartierung eines Forschungsfeldes“ hielt RUTH ALBRECHT (Hamburg) über die Verwendung von Genderstereotypen einerseits zu Rechtfertigung und Angriff und deren Auflösung in der Erwartung endzeitlichen Einswerdens der Geschlechter als „männliche Jungfrau“. Dabei untersuchte Albrecht einen normativen Weg der Wiedergeburt im Umfeld des Quedlinburger Pietismus. Insbesondere die Schriften Anna Catharina Scharschmidts, so Albrecht, zeigten Etappen der Messbarkeit, an denen zu erkennen sei, wo man sich selbst auf dem Weg zur Wiedergeburt befinde. Diese Etappen, gekennzeichnet durch die Gefühle, die die Seele zu erwarten habe, weisen eine deutliche Gefühlsklassifizierung auf, die die gesamte Palette von Angst, Qual, Freude und Ruhe bis hin zur völligen Abwesenheit von Gefühlen beinhaltet.

XENIA VON TIPPELSKIRCH (Kassel) hingegen beschäftigte sich in ihrem Beitrag „‘Mehr und mehr in der Stille verborgen’ – Rückzug und Gefühlsregime im radikalen Pietismus” mit der Thematik von Rückzug und Einsamkeit aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Einsamkeit sei geschlechtlich kodiert und stünde mit spezifischen Gefühlsregimen in Verbindung; so sei beispielsweise zwischen Einsamkeit als Zustand und Rückzug als Prozess sowie zwischen dem Rückzug mit dem Leib oder dem Gemüt (Johann Jacob Schütz) zu differenzieren. Rückzug von weltlichen Aufgaben und gesellschaftlichen Verpflichtungen sei zudem eine besondere Herausforderung für adelige Fromme gewesen, die daher besonders ausgiebig darüber reflektierten.

Der Vortrag zum Thema „Reservoir der Gefühlsbeschreibung – (Un)sagbarkeit in Herrnhuter Lebensläufen des 18. Jahrhunderts“ von PIA SCHMID (Frankfurt am Main) stellte die spezifische Sprachwelt der Brüdergemeine vor, auf welche die Autoren der Lebensläufe beim Ausdruck von Gefühlen zurückgriffen. Obwohl die Brüdergemeine als ‘emotional community’ gelte, seien dabei jedoch deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern festzustellen – diese gingen mit Angst und Glaubenskrisen unterschiedlich um. Zusätzlich dazu markierten die Autoren die Einzigartigkeit der eigenen Gefühle durch “Unsagbarkeitsformeln”: Ausdrücke der Unfähigkeit sich auszudrücken, insbesondere hinsichtlich positiver Gefühle wie Liebe und Gnade, werden so Bestandteil einer Subjektivierungsstrategie.

Unter dem übergeordneten Titel „Pietismus als emotional regime“ der Sektion D des Kongresses sprach PAUL PEUCKER (Bethlehem, PA, USA) über den „Wahnsinn“ Johann Siegmund Krügers in Herrnhut im Jahr 1726, der die dort im Entstehen befindliche Gemeine vor eine erste Bewährungsprobe stellte. Krüger, der Zinzendorf anfangs unterstützte, wandte sich mit der Begründung, dass der Graf die Trennung von der lutherischen Kirche nicht vollständig vollzogen hätte, gegen ihn und gewann eine Anhängerschaft. Krügers zunehmender „Wahnsinn“ (spontanes Entkleiden, Spucken, auf dem Boden Wälzen, Umbenennung seiner Person), so Peucker, wurde von seinen Anhängern als „überhöhte religiöse Erfahrung und Selbstreinigung“ empfunden. Erst Krügers Einweisung in die Heilanstalt in Berlin und Zinzendorfs intensives Bemühen um dessen Anhänger in Herrnhut konnten die Einheit der Gemeine letztlich wiederherstellen. Den Pietismus Herrnhuter Prägung hatte auch TORSTEN DIETZ’ (Marburg) Vortrag zu Gerhard Tersteegens’ „Wider die Leichtsinnigkeit“ zum Thema. Dabei strich Dietz die Kritik Tersteegens an der Frömmigkeitspraxis in Zinzendorfs Brüdergemeine deutlich heraus und charakterisierte demgegenüber Tersteegens Vorstellungen von einer Erkenntnis Gottes als mehrstufiges System, bei der eine Ausdifferenzierung von Gefühlsnormen- und -regeln bei gleichzeitiger Offenheit für individuelle Erfahrungen zu konstatieren sei. In diesem Kontext, so Dietz, steht Tersteegens Kritik der Glaubensgewissheit der Brüdergemeine, der er einen Mangel an Unterscheidung zwischen Glauben und dem Gefühl der Gewissheit bescheinigte. Als Desiderat bezeichnete Dietz die Erforschung der Vorbilder und Quellen für Tersteegen Systematik.

Dem Bereich des adligen Pietismus wandte sich JAN MARTIN LIES (Mainz) anhand der „Mütterlichen Vermahnungen“ der Elisabeth von Braunschweig, Anna Katharina von Waldeck und Benigna von Solms-Laubach zu und hinterfragte dabei das Entstehen eines neuen Zugehörigkeits- und Gruppengefühls. Ziel der Vermahnungen war die, der eigenen Verantwortung der Hausmütter vor Gott geschuldeten, Anleitung der Söhne zu einem vorbildhaften Leben sowie der rechtschaffenen Führung der Regierung, des Hofes und der Untertanen. Dies, so Lies, diente der Steigerung des Ruhms der Person und der Dynastie im Diesseits und Jenseits und führte in der Konsequenz zu einer Verschmelzung der Konzepte des Geburtsadels und Tugendadels zu einem „Wiedergeburtsadel“.

Die drei anschließenden Vorträge hatten das Denken und das Werk Friedrich Christoph Oetingers zum Thema. So stand bei BENEDIKT BRUNNER (Bonn) dessen Schrift zur Wiedergeburt von 1735 im Mittelpunkt, wobei er Oetingers Vorstellung von der Wiedergeburt als mehrstufiges System charakterisierte, bei welchem das Erkennen und Empfinden immer mehr in einen Einklang geraten sollten. Als Desiderat bezeichnete Brunner die fehlende Verortung von Oetingers Schrift im pietistischen Kontext und Studien zu den mit der Wiedergeburt verbundenen Zukunftserwartungen. STEFAN LORENZ (Münster) erweiterte diese Ausführungen im Folgenden um Oetingers ausdifferenziertes und in vielschichtigen Traditionen eingebettetes Rationalitätskonzept. TÜNDE BEATRIX KARNITSCHER (Werben) widmete ihren Vortrag Oetingers Rezeption der von Johann von Tschesch edierten Werke von Jacob Böhme. Dabei zeigte Karnitscher nicht nur die in Oetingers Edition vorgenommenen Änderungen auf, sondern hob insbesondere die mit dem Werk verbundenen Gefühlsempfindungen hervor: So mahnte Oetinger den Leser zu „Gelassenheit, Nachsicht und Nachdenken“ über die Worte Böhmes und beschrieb sein eigenes „Lustempfinden“ durch die Erkenntnis des göttlichen Wortes.

Über die „wohlanständigen Sitten“ in den paränetischen Lektionen August Hermann Franckes sprach anschließend KRISTIAN MEJRUP (Kopenhagen, Dänemark) in seinem Vortrag “’Wie es den Heiligen ziehmet’ – Scriptural mores and norms”. Mejrup zeigte, dass es sich bei diesen Lektionen um eine Art „Studentenspiegel“ handelte, der sich vor allem aus den Bibelabschnitten zu Timotheus und Titus speist und auch in Dänemark Verbreitung fand.

Einen Einblick in ihr laufendes Dissertationsprojekt erlaubte ELISA BELLUCI (Halle) in ihrem Vortrag über die „Eschatologie des Ehepaares Petersen“. Entgegen der von der Confessio Augustana gedeckten Lehrmeinung, dass sich Gott als letztes den Aposteln mitgeteilt hatte, vertraten Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen die Ansicht, dass Gott sich auch weiterhin den Menschen offenbarte. Für diese Meinung und ihre christlich-kabbalistisch beeinflusste und auf die heterodoxe Allversöhnungslehre abzielende Bibelexegese wurden sie als „neue Propheten“ verunglimpft und kritisiert. Hiergegen rechtfertigten sie sich, so Bellucci, im Rückgriff auf die Ansichten Speners zur durch den Heiligen Geist gesteuerten Lektüre der Bibel, durch die andere, gegenüber den herrschenden Bekenntnissen eben auch heterodoxe, Bedeutungsebenen erkannt werden könnten.

Dass der Pietismus im Königreich Dänemark-Norwegen ebenfalls in der Kritik stand, zeigte JULIANE ENGELHARDT (Kopenhagen, Dänemark) in ihrem Vortrag der Sektion F. Dessen Lehren seien dort in den 1730/40er Jahren als Auslöser für Melancholie wahrgenommen worden. In der Tat, so Engelhardt, wiesen die Bekehrungsnarrative der Herrnhuter in Dänemark einen ausgiebigen Fokus auf emotionale Praxis und Performanz auf. Indem Gefühle als durch den Körper hervorgebracht verstanden wurden, sei dieser als offen für göttliche Intervention interpretiert worden, gleichzeitig sei durch den performativen Aspekt der sozialen Charakter von Gefühlen stärker betont worden.

CHRISTOPH SCHÖNAU (Göttingen) verglich in seinem Vortrag die Normierungsstrategien in den halleschen „Missionscontinuationen“ mit denen der jesuitischen Missionszeitschrift „Lettres édifiantes“. Schönau fragte nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, nach dem Resonanzrahmen und inwiefern sich diese ‚Sprachrohre‘ mit der Unternehmung der jeweils anderen Konfession beschäftigten. Als Gemeinsamkeiten konstatierte Schönau beiden Zeitschriften einen frömmigkeitlichen und informierenden Charakter und arbeitete zudem Ähnlichkeiten im Hinblick auf erfolgte Zensuren und deren Begründungen heraus. Auffällig erschien insbesondere die starke Auseinandersetzung der Jesuiten mit der protestantischen Mission, die von den Katholiken als große Gefahr und als materiell überlegen wahrgenommen wurde.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Jacqueline Van Gent (Perth, Australien): Love, joy and tears. Emotions and Pietism in the early modern world

Keynote: „Gefühl zwischen Medizin, Naturkunde und Spiritismus“
Moderation: Daniel Cyranka

Irmtraut Sahmland (Marburg): Anleitungen pietistischer Ärzte zur Affektkontrolle
Friedemann Stengel (Halle): Gefühl – Autorität – Religion. Verschiebungen in aufklärerisch-frommen
Gefühlsdebatten
Respons von Yvonne Wübben und Alessandro Nannini

Keynote: „Gefühl, Selbst und Erinnerung zwischen Autobiographie und Tagebuch“
Moderation: Yvonne Kleinmann

Douglas Shantz (Calgary, Kanada): Making the Modern Self: Gefühl und Norm in 18th century German Pietist Autobiographies
Vera Faßhauer (Frankfurt am Main): Subjektive Empfindung, individuelle Norm. Selbsterfahrung als regelbildende Größe bei J. Chr. Senckenberg
Respons von Eva Kormann und Pascal Eitler

Keynote: „Die Authentizität des Gefühls und die Kunst“
Moderation: Christian Soboth

Jonathan Strom (Atlanta, GA, USA): The Emotions of Conversion and the Problem of Authenticity in Pietism
Anett Lütteken (Zürich, Schweiz): Authentische oder erlernte Empfindung? Zur Sprache aufgeklärter Gefühlswelten im Zürich des 18. Jahrhunderts
Respons von Gisela Mettele und Corinna Kirschstein

Sektion A: „‚Gefühl‘ im 18. Jahrhundert – Begriff und Kontextualisierung“
Moderation: Frank Grunert

Anna Szyrwińska-Hörig (Vechta): „Ridiculi sunt, qui hominem sine affectibus esse volunt“ – Philipp Jakob Speners Auseinandersetzung mit dem Stoizismus und die Entwicklung pietistischer Anthropologie
Alessandro Nannini (Bukarest, Rumänien): The language of affections. From „pathologia sacra“ to „pathologia aesthetica“
Uwe Wolfradt (Halle): Gefühl und Empfindung in der Erfahrungsseelenlehre des 18. Jahrhunderts

Moderation: Thomas Ruhland
Jan van de Kamp (Amsterdam, Niederlande): Marker von geistlichem Leben: Affekte oder Geist? Die Überlegungen des reformierten Pastors Theodor Undereyck (1635–1693)
Joseph S. Freedman (Montgomery, AL, USA): All You Need is Love? Emotion (Gefühl) and Norm in the Synopsis (Tabulae synopticae: 1728) of Philosophical Writings by Johann Franz Buddeus (1667–1729)
Peter Vogt (Herrnhut): Der „Sensus Numinis“ als Grundkategorie religiösen Gefühls bei Zinzendorf
Yvonne Wübben (Bochum): Heinroths Begriff der Leidenschaften im Kontext der Psychiatriegeschichte
Barbara Becker-Cantarino (Columbus, OH, USA): „Da das Herz davon satt wird“. Zur gefühlsbetonten Missionsmethode in der Herrnhuter Indianermission Nordamerikas
Andreas Bähr (Berlin): Der Pietismus – eine „Gefühlsreligion“?

Sektion B „Pietismus und Gefühlskulturen in gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten“
Moderation: Andreas Pečar

Thomas K. Kuhn (Greifswald): Ende oder Anfang? Emotionalität im Kontext pietistischer
Endzeiterwartungen
Gerald MacDonald (Bochum): Johann Wilhelm Überfeld (1659–1731) und die Transformation des Gemüts
Klaus vom Orde (Halle): Ph.J. Spener und das Gefühl – Einblicke in seinen Briefwechsel

Moderation: Erik Dremel
Inga Strungytė-Liugienė (Vilnius, Litauen): Exposing or Ignoring Feelings: the Translations of Pietist Hymnody into
Lithuanian in the 18th Century
Žavinta Sidabraitė (Vilnius, Litauen): Literature of the Pietist Movement in Prussian Lithuania: Religions
Sensitivity and Search for National ldentity
Mindaugas Šinkūnas (Vilnius, Litauen): The change of personal attitude towards God in Lithuanian hymnals

Moderation: Thorsten Dietz
Stefan Borchers (Berlin): „Pietisten Huhre und Pietisten Teüfel“ – Der Scheidungsprozess des
Magister Luppe
Ulf Lückel (Marburg): „Da fand nun meine geistliche Sinnlichkeit vortrefflich ihre Nahrung“. Leidenschaftlich aktiv für Gott – die Versammlungen der Gemeinschaft des Charles Hector de Saint George Marquis de Marsay (1688–1753) während ihrer frühen Wittgensteiner Zeit
Thomas Hahn-Bruckart (Mainz): „Enthusiasmus“ und „unerklärbares Gefühl“ – kontinentale Entwürfe einer Gefühlskultur der methodistischen Erweckung
Frank Lüdke (Marburg): „Feel the Spirit!“ Die Verknüpfung von Evangelisation und Musik bei Dwight L. Moody (1837–1899) und ihre Auswirkungen auf den deutschen Neupietismus

Sektion C „Kunst und Medien, Expression und Performanz“
Moderation: Marianne Schröter

Peter Yoder (Dallas, TX, USA): Feeling our Repentance: August Hermann Francke’s evaluation of tears in his application of church discipline
Siglind Ehinger (Stuttgart): „Wo seyd ihr, Lutherische Christen? und was dencket euer Hertz zu einem solchen Exempel?“ Zur Emotionalisierung des Lesers in erbaulichen Kirchengeschichtswerken Georg Konrad Riegers
Elke Morlok (Frankfurt am Main): Gefühlswelten und Ritual im Chassidismus

Moderation: Christian Soboth
Otto Teigeler (Düsseldorf): „Ich sterbe!“ Genormte Gefühle und gefühlte Normen beim jungen Zinzendorf
Lubina Mahling (Dresden): Vermessung des Herzens. Von der brüderischen Herzensfrömmigkeit hin zur
sorbischen Literatur
Sabine Gruber (Tübingen): „Ich erschrak, und dennoch war in dieser Nachricht etwas Angenehmes für mich“ – Der Konflikt zwischen Norm und Gefühl in Johann Caspar Lavaters Tagebuch
Kaspar Bütikofer (Zürich, Schweiz): Zwischen Gefühl und Norm: Die Inspirationen der Margreth Künin
Anke Fröhlich-Schauseil (Dresden): Dinge, Blicke, Gesten, Gefühl: Emotionen im Werk des Malers Johann Eleazar Zeißig, gen. Schenau (1737–1806)
Michael Wiemers (Halle): „Wo, wie, wann, wie ofte, dieses sanfte Licht mich schon zum Nachdenken gereizt, mich ergötzte!“ Kunsthistorische Anmerkungen zur Sentimentalisierung des Nachthimmels im 18. Jahrhundert

Moderation: Hans-Jürgen Schrader
Christiane Hausmann (Halle): „Die Frommen sollen ihn schön preisen“: Musikalischer Affektausdruck und Glaubenswahrheit im pietistischen Lied
Andreas Waczkat (Göttingen): „Natürliche, moralische, rhetorische und mathematische Verhältnisse“ in der Musik: Gefühl und Norm in der Musikanschauung Johann Matthesons
Martin A. Hainz (Wien): Temperierte Emotionen des 18. Jahrhunderts
Rüdiger Kröger (Hannover): Zur Rolle der Bilder bei Zinzendorf und der Brüdergemeine (im 18. Jahrhundert)
Sylvaine Hänsel (Münster): „so erinnern die Bilder, die wir uns davon machen, auch unsere Sinne daran.“
Rita Wöbkemeier (Hamburg): „Der große helle Raum, auf dem alles vorging“. Gefühle auf der Bühne – zeigen und erkennen
Corinna Kirschstein (Halle): Schauspielkunst und Affekthermeneutik. Theaterfeindschaft, Verstellung und Lüge im Urteil Speners und des Halleschen Pietismus

Sektion D „Pietismus als emotional regime
Moderation: Peter Vogt

Paul Peucker (Bethlehem, PA, USA): Wahnsinn in Herrnhut: Johann Siegmund Krüger und sein Auftreten in Herrnhut 1726
Thorsten Dietz (Marburg): „Wider die Leichtsinnigkeit“. Die Bedeutung von affektbezogener Selbsterkenntnis und impliziten Gefühlsregeln in Gerhard Tersteegens kritischer Auseinandersetzung mit der Brüdergemeine
Jan Martin Lies (Mainz): Seelenheil – Politikberatung – dynastisches Agieren. Die Mutter als Ratgeberin

Moderation: Friedemann Stengel
Benedikt Brunner (Bonn): Gefühlte Erlösung? Friedrich Christoph Oetingers „Abriß der evang. Ordnung zur Wiedergeburt“ von 1735 und ihr Beitrag zur pietistischen Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts
Stefan Lorenz (Münster): „Gott […] formiret allen das Herz […].“ F.Ch. Oetingers Rationalitätskonzept
Tünde Beatrix Karnitscher (Werben): Ein Augenblick, der „in eine unwiederstrebliche Lust und Wohlgefallen hinreißt“. Friedrich Christoph Oetingers Rezeption von Jakob Böhme und Johann Theodor von Tschesch
Kristian Mejrup (Kopenhagen, Dänemark): „Wie es den Heiligen ziehmet“ – Scriptural mores and norms
Elisa Bellucci (Halle): Between revelations and orthodoxy: Hermeneutical reasons in Johann Wilhelm and Johanna Eleonora Petersen’s eschatological perspectives
Judith Dieter (Frankfurt am Main): Pietistische Gefühle in der Kritik theologischer Aufklärer – Johann Joachim Spaldings „Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum“

Sektion E „Norm und Gefühl als identitätsformende interdependente Faktoren“
Moderation: Pia Schmid

Wolfgang Breul (Mainz): Emotionale Kodierung und Kommunikation in der Herrnhuter
Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts
Britta Klosterberg (Halle): Franckes Befindlichkeiten Tag für Tag. Seine Tagebücher im Kontext der Selbstzeugnisse im Archiv der Franckeschen Stiftungen
Katherine Faull (Lewisburg, PA, USA) / Michael McGuire (Bloomington, IN, USA): Analyzing Moravian Feelings: Using Computational Methods to ask Questions about Norms and Sentiments in Moravian „Lebensläufe“

Moderation: Wolfgang Breul
Craig Atwood (Bethlehem, PA, USA): „We have nothing to do, but to be happy“: The Role of Happiness in 18th century Moravianism
Christiana Petterson (Canberra, Australien): Zinzendorf’s Emotional Vocabulary in the Herrnhut Choir-Speeches
Thea Olsthoorn (Nijmegen, Niederlande): „Bekehrt oder verkehrt?“ Das Bild der Herrnhuter im Bewusstsein der Dänen in Grönland und der Streit mit Hans Egede wegen der Lehre
Henryk Machoń (Opole, Polen): Katholischer Pietismus? „Gefühl“ in den Geistlichen Übungen von Ignatius von Loyola

Sektion F „Die räumliche und zeitliche Divergenz von Gefühl und Norm“
Moderation: Holger Zaunstöck

Juliane Engelhardt (Kopenhagen, Dänemark): Anxiety, Affect, and the Performance of Feelings in Radical Pietism: Towards a Topography of Religious Feelings in Denmark-Norway 1730–1746
Urban Claesson (Falun, Schweden): Katechismuseditionen in Dänemark und Schweden als Ausdrücke von verschiedenen Gefühlskulturen
Christoph Schönau (Göttingen): Normierungsstrategien und ihre Applikation in der Dänisch-Halleschen Mission

Moderation: Yvonne Kleinmann
Kim Groop (Turku, Finnland): Feeling, Norm, Sociomateriality and Memory at the Francke Foundations in Halle
Łukasz Fajfer (Halle/Bremen): Persönliche Erfahrung als Faktor von Normierungsprozessen: Pietistische „reisende studiosi“ aus Halle im Königreich Polen-Litauen
Holger Zaunstöck (Halle): „Wangenheim fängt wieder an sich übel zu verhalten und trotzig zu beweisen“. Disziplinarpraxis im frühen hallischen Pietismus – Normen, Erfahrungen, Gefühle

Sektion G „Gender und Pietismus – Zur Kartierung eines Forschungsfeldes“
Moderation: Gisela Mettele

Ruth Albrecht (Hamburg): Auf dem Weg zur Neuen Kreatur – Stufenmodell zur Wiederherstellung der Androgynität
Xenia von Tippelskirch (Kassel): „Mehr und mehr in der Stille verborgen“ – Rückzug und Gefühlsregime im radikalen Pietismus
Pia Schmid (Frankfurt am Main): Reservoir der Gefühlsbeschreibung – (Un)sagbarkeit in Herrnhuter
Lebensläufen des 18. Jahrhunderts

Moderation: Corinna Kirschstein und Martin Prell
Eva Kormann (Karlsruhe): Emotionalität als Norm – Genderkonnotierte Epochenkonstruktionen am Beispiel der Empfindsamkeit
Julia Schmidt-Funke (Gotha): Genderorientierte Pietismusforschung – Perspektiven, Potentiale, Probleme (Diskussion)

Sektion H Nachwuchspanel
Moderation: Ruth Albrecht

Jon Petter Heesch (Oslo, Norwegen): „The Ghosts of the Past“ – the strategy of Moravian historiography and scholarship in the aftermath of the sifting
Gergely Csukás (Bern, Schweiz): Enthusiastische Phänomene auf dem Prüfstand Halles. Die Rezeption von Erweckungsbewegungen in der „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes“
Paul Gohlke (Greifswald): Erkenntnis aus Erfahrung – Affekt und mystisches Erleben in den Erbauungsbüchern des Rostocker Theologen Heinrich Müller (1631–1675)
Moderation: Gisela Mettele
Martin Prell (Jena): Die Bestimmung von Emotionen in Briefen pietistischer Schreiber*innen mit
Hilfe computergestützter Verfahren
Marita Gruner (Greifswald): „nun genug hievon.“ Gefühle sortieren. Briefe einer Herrnhuterin der
zweiten Generation
Dorothea Hornemann (Halle): Geschnittene Gefühle – Portraitsilhouetten aus der Herrnhuter Brüdergemeine

Moderation: Holger Zaunstöck
Thomas Grunewald (Halle): „Daß mich aber ad consensum disponiren laßen, zeiget in satsam meine Schwäche und das ich ein Mensch wie andere gewesen“. – Mesalliancen im Pietismus. Motive, Wahrnehmungen, Normen
Nikolas Schröder (Halle): Die Aufbereitung von Informationen zu Zeitungsnachrichten. Sammeln, Kopieren und Zensieren in den Zeitungen des Hallischen Waisenhauses (1704–1714)
Johannes Moosdiele-Hitzler (Augsburg): „Von dem Teuffel am Strick und in die Hölle geführt“. Der Konflikt zwischen pietistischem Wertehorizont und Hofkultur in emotionaler Dimension

2. Teil

Anmerkung:
1 Van Gent, Jacqueline: „The Burden of Love: Moravian Conversions and Emotions in Eighteenth-Century Labrador“, in: Journal of Religious History 39 (2015), Nr. 4, S. 557-574.


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