V. Internationaler Pietismuskongress 2018. Teil II

V. Internationaler Pietismuskongress 2018. Teil II

Organisatoren
Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung (IZP); Franckesche Stiftungen zu Halle; Historisches Kommission zur Erforschung des Pietismus
Ort
Halle
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.08.2018 - 29.08.2018
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Von
Christine Marie Koch, Universität Paderborn / Thomas Grunewald, Franckesche Stiftungen

1.Teil

In seinem Vortrag „Making the Modern Self: Gefühl und Norm in 18th century German Pietist Autobiographies“ bettete DOUGLAS SHANTZ (Calgary, Kanada) die Kongressthematik zunächst weiter in die Geschichtswissenschaft ein. 1 Dafür unterstrich Shantz die Bedeutung des ‘emotional turn’, der nach kulturellen und sozialen Praktiken im Hinblick auf emotionale Ausdrucksweisen in frühmodernen Gesellschaften fragt. Ein akteurzentrierter Zugang, der Motive, Entscheidungen und gemeinschaftsbildende Prozesse mit einbezieht, sollte sich, so Shantz, in jeder geschichtswissenschaftlichen Fragestellung widerspiegeln. Pietismus könne als ‘emotional community’, abgeleitet von ‘textual’ und ‘imagined’ communities, die über eine eigene religiöse und emotionale Ausdrucksweise verfügt, untersucht werden. Dabei betonte Shantz insbesondere die Bedeutung von Ego-Dokumenten für die emotionale Selbstkonstruktion. Für besonders interessant hält Shantz dabei das Verhältnis von Emotionen und Aufklärung im Fall von Johann Christian Edelmann. Dessen Bekehrung zur Vernunft (Spinozismus) sei durch pietistische Emotionssprache ausgedrückt worden. Pietistische Erfahrung und emotionale Transparenz hätten daher einen wesentlichen Anteil an der Formierung eines modernen emotionalen Selbst gehabt.

Auch VERA FAßHAUER (Frankfurt am Main) räumte in ihrem Vortrag „Subjektive Empfindung, individuelle Norm. Selbsterfahrung als regelbildende Größe bei J. Chr. Senckenberg“ den Ego-Dokumenten Johann Christian Senckenbergs eine hohe Bedeutung ein. Die handschriftlichen Tagebücher Senckenbergs teilte sie dazu in zwei Aufzeichnungsphasen ein: Selbstbeobachtungen, Streben nach Selbsterkenntnis und Vervollkommnung in dessen früheren Jahren 1730-1742, sowie Aufzeichnungen über Patienten, Mitbürger und gesellschaftliche Missstände in den Jahren von 1743 bis zu seinem Tod 1772. Laut Senckenberg könne vollständig auf Bücher (auch die Bibel!) verzichten, “wer Gott in seiner eigenen Seele fühle”. Faßhauer konstatierte bei Senckenberg eine Untrennbarkeit von Medizin und Religion, die sich an dessen subjektiv-ganzheitlicher Perspektive durch Selbstbeobachtung in Gesundheit und Krankheit zeige.

Eine hohe Affinität der Herrnhuter gegenüber Gefühlen und Normen konstatierte WOLFGANG BREUL (Mainz) in seinem Vortrag in der Sektion E am Beispiel der „Mädchenerweckung“ bei der die Gemeine konstituierenden Abendmahlsfeier vom 13. August 1726. Im Rückgriff auf Barbara Rosenwein2 charakterisierte Breul die durch die Allianz von Zinzendorf und den „erweckten Mädchen“ gegründete Gemeine als „emotional community“ und bekräftigte in der Folge die Anwendbarkeit des Rosenweinschen Ansatzes für die Erforschung der Herrnhuter anhand von Beispielen aus der Diasporamission.

Über die Befindlichkeiten eines Waisenhausgründers sprach anschließend BRITTA KLOSTERBERG (Halle) und stützte sich dabei auf eine Auswertung der Tagebücher August Hermann Franckes, die dieser als Gedächtnisstütze, Memorialisierung, sichtbare praxis pietatis und Rechenschaftslegung vor Gott betrieb. In diesem Sinne wurden etwa Störungen des körperlichen oder geistigen Gleichgewichts Franckes immer am Anfang des Tages genannt und dienten wohl der Rechtfertigung für ein eingeschränktes oder vermindertes Tagespensum. Generell ermutigte Francke nicht nur seine Studenten zum Schreiben von Tagebüchern, sondern begründete offenbar eine Sammlungstradition, deren Ergebnis eine umfangreiche Kollektion an Tagebüchern im Archiv der Franckeschen Stiftungen ist, deren systematische Analyse nun durch ein eigenes Projekt3 vorangetrieben wird.

Ein computergestütztes Modell zur Analyse von Gefühlsäußerungen in Herrnhuter Lebensläufen präsentierten KATHRINE FAULL (Lewisburg, PA, USA) und MICHAEL MCGUIRE (Bloomington, IN, USA). Auf der Basis von 48 Lebensläufen und den darin enthaltenen Beschreibungen von Gefühlen zu den unterschiedlichsten Umständen entwickelten Faull und McGuire u.a. ein spezielles Wörterbuch für die aufgefundenen Vokabeln (Gefühlsäußerungen) und bewerteten diese anschließend in qualitativer Hinsicht. Durch Hinzuziehung unterschiedlicher Programme konnten im Weiteren bspw. Interdependenzen bei den verwendeten Wörtern sichtbargemacht und geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wortwahl aufgezeigt werden.

In der Sektion F zum Thema „Die räumliche und zeitliche Divergenz von Gefühl und Norm“ begann KIM GROOP (Turku, Finnland) den Vormittag mit seinem Vortrag zu “Feeling, Norm, Sociomateriality and Memory at the Francke Foundations in Halle”, indem er die Sichtbarkeit von Gefühlen und Normen in heutigen Memorialobjekten der Franckeschen Stiftungen untersuchte. ŁUKASZ FAJFER (Halle / Bremen) hingegen hob die persönliche Erfahrung pietistischer ‘studiosi’ auf Reisen hervor, die Einfluss auf Normen und Richtlinien genommen habe. Dabei ging es Fajfer auch um die Aushandlung der Ziele dieser speziellen Reisetätigkeit, die dezidiert nicht als Mission zu verstehen sei.

In seinem Vortrag über die Disziplinarpraxis im frühen hallischen Pietismus sprach HOLGER ZAUNSTÖCK (Halle) über körperliche Strafen an den Glauchaschen Anstalten. In der Kommunikation mit Eltern und Öffentlichkeit sei körperliche Strafe als Prinzip genannt, aber eher vage als “nicht übermäßig” charakterisiert worden, um Handlungsspielräume für die Praeceptoren und Inspektoren zu schaffen. Zusätzlich, wurde den Lehrern dadurch Rückendeckung nach außen hin gegeben – Eltern beschwerten sich nachweislich sowohl über zu hohe als auch über zu laxe Strafen. In den Aushandlungsprozessen zwischen Leitung und Lehrern versuchte Francke, ein mehrstufiges Strafregime zu implementieren, bei dem körperliche Züchtigung nur als ‘ultima ratio’ anzuwenden war. Da Strafen als Instrumente fungierten, um Kongruenz von Norm, Emotion und Verhalten herzustellen, wurden dadurch auch Entscheidungen für ordentliche und unordentliche (‘böse’) Emotionen auf Seiten von Schülern und Lehrern getroffen. An dieser Stelle, so Zaunstöck, zeige sich auch die Einsicht in die Grenzen angestrebter Formbarkeit junger Menschen: Fruchtete die emotionale Formierung nicht, wurde auf weitere Strafen verzichtet und ein Schulverweis angeordnet.

In der ersten Keynote des dritten Tages betrachtete JONATHAN STROM (Atlanta, GA, USA) die Emotionalisierung des Bekehrungserlebnisses im Halleschen Pietismus. Dabei stellte er – ausgehend vom Bekehrungserlebnis August Hermann Franckes – eine Zunahme der Bedeutung der Emotionen für die Beschreibung und die Bekehrung selbst fest. Hatte Francke, so Strom, noch auf eine scharfe Selbstprüfung bestanden und zwischen göttlichen und menschlichen Emotionen unterschieden, ist ab 1730 ein dahingehender Wandel im Zusammenhang mit einem stetigen Anstieg der Konversionsliteratur zu verzeichnen. Dabei rückten der genaue Zeitpunkt der Konversion und der vorhergehende Bußkampf – verstanden als höchster Grad der Traurigkeit – ins Zentrum der Darstellung, die der von Francke geforderten Prüfung nicht mehr folgte. Im Zuge dieses Wandels wurden Malefikantenberichte fester Bestandteil der pietistischen Bekehrungsliteratur.

In der letzten Keynote des Kongresses ging ANETT LÜTTEKEN (Zürich, Schweiz) der Frage nach, inwieweit poetologische Einflüsse und christliches Weltbild in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits verbunden waren. Am Beispiel Lavaters zeigte Lütteken dabei nicht nur eine große Menge an unterschiedlichen Gefühlen in dessen „Bibliothek der Gedanken“ auf, sondern auch, dass die Trauer um Lavaters Tod im protestantisch geprägten Zürich bewusst überhöht in eine reformierte Traditionslinie gestellt wurde. Die Trauer um Lavater wurde zum Identifikationsmerkmal für die Eidgenossenschaft stilisiert, die in einer tiefen Krise gefangen war, die Lütteken als zwischen „Aufklärung und Französischer Revolution“ befindlich charakterisierte.

Am Beginn der Vormittagssitzung des Nachwuchspanels stand der Vortrag von MARTIN PRELL (Jena), der Einblicke in sein laufendes Dissertationsvorhaben zum Thema „Pietismus 4.0“ gab, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Distanz bzw. Nähe der reußischen Herrscherhäuser zum pietistischen Zentrum in Halle mittels computergestützter Verfahren zu erfassen und zu analysieren. Zur Bestimmung der Gefühlsbeziehungen zwischen diesen Knotenpunkten stellte Prell das Tool „JEmAS (Jena Emotion Analysis System) vor, das unter Zuhilfenahme eines weiteren Programms den emotionalen Wert eines Wortes qualifizieren und bestimmen kann. Hierüber können die Beziehungen der Worte durch „Wortvektoren“ dargestellt werden und darüber etwa die Häufigkeit bestimmter Wortpaare oder miteinander in Verbindung stehender Worte (Emotionen) verdeutlicht werden.

Anschließend versuchte MARITA GRUNER (Greifswald) eine Ordnung der Gefühle im Briefwechsel der Töchter des Grafen von Zinzendorf, wobei die meisten auf Benigna von Watteville entfallen. Als besonders bemerkenswert stellte Gruner dabei die Angst Benignas um ihren Ehemann heraus, der häufig krank war. Hieraus leitet Gruner auch Einsichten in das Eheverständnis Benignas ab, die mehr über den Zustand ihres Mannes schrieb als über den ihrigen und offenbar ihre Aufgabe in der Sorge um ihren Mann erblickte. Großes Räsonieren oder negative Gefühle wie Wut oder Trauer ließ Benigna dabei kaum zu, was auch daran gelegen haben könnte, dass sie gewusst habe, so Gruner, dass ihre Briefe von mehreren Personen gelesen wurden.

Die Nachmittagssektion des Nachwuchspanels begann mit einem Vortrag von THOMAS GRUNEWALD (Halle) über Mesalliancen im Pietismus, die er in einem zukünftigen Projekt weiter untersuchen wird. Grunewald untersuchte die Darstellung einer Mesalliance zwischen Georg Christian Haine und der Burggräfin Magdalena Christina von Kirchberg von Seiten des halleschen Predigers und Bräutigams insbesondere hinsichtlich der Schilderung von Emotionen, die einen deutlichen Widerstreit von Rationalität und Gefühl aufweise. Haine selbst spricht dabei nicht von Liebe, sondern verortet in seiner Darstellung das Gefühl auf Seiten der Gräfin, welche “mit solcher Zärtlichkeit” und “auf so tendere Art” auf die Ehe als “göttlicher Wille” beharrt habe. Vielmehr habe Haine sich ihr gegenüber nur “passive verhalten” und ob ihrer Beharrlichkeit seine “Schwäche” eingestanden und berichtete dies auch so – rechtfertigend – an August Hermann Francke.

NIKOLAS SCHRÖDER (Halle) gab in seinem Beitrag über das Sammeln, Kopieren und Zensieren in den Halleschen Zeitungen einen Einblick in sein laufendes Dissertationsprojekt zu den Medien des Halleschen Waisenhauses. Dabei ging es Schröder um die redaktionelle Bearbeitung von Informationen aus Halles weltweiten Netzwerken vor ihrer Weiterverbreitung. Neben Interpunktion, Kürzung und literarischer Glättung wurde auch die Meinung einzelner Autoren in ihren Berichten gestrichen. Dem Sammeln, Kopieren und Zensieren in den Zeitungen des Hallischen Waisenhauses hätten jedoch, so Schröder, keine expliziten allgemeingültigen Anweisungen zugrunde gelegen.

In seinem Vortrag „Von dem Teuffel am Strick und in die Hölle geführt“. Der Konflikt zwischen pietistischem Wertehorizont und Hofkultur in emotionaler Dimension untersuchte JOHANNES MOOSDIELE-HITZLER (Augsburg) die pietistische Konfessionskultur beispielhaft an drei Kleinstherrschaften in Schwaben. Die Herrschaftspraxis habe dort aus Sicht der Untertanen gegen die pietistischen Normen und Werte verstoßen und emotionalen Aufruhr ausgelöst. Diese religiösen Umstände, so Moosdiele-Hitzler, hätten neben sozio-ökonomischer Enge und Ungerechtigkeitsempfinden auch eine Rolle bei der Bächinger Auswanderung nach Ebenezer in Nordamerika gespielt.

CRAIG ATWOOD (Bethlehem, PA, USA) sprach in seinem Vortrag in Sektion E über die Rolle der Glückseligkeit bei den Herrnhutern im 18. Jahrhundert. Ihm zufolge verkehrte Zinzendorf die typische Ausdrucksweise der Protestanten, die Disziplin und Pflichtbewusstsein dem sündhaften Genuss (Jonathan Edwards) gegenüberstellte, in ihr Gegenteil: Glückseligkeit galt bei Zinzendorf als der wirkliche Beweis für Bekehrung. Dabei handele es sich im Gegensatz zum Verständnis der Aufklärung jedoch, so Atwood, nicht um ein individuelles, sondern ein gemeinschaftliches Bestreben. Zinzendorfs Ausdrucksweise sei dabei ganzheitlich und unmittelbar, doch auch er könne diese “innere Reaktion” nicht immer klar definieren. Zinzendorf folgend könne alles, ob Musik oder das Stillen eines Kindes, zum Ausdruck täglicher Verbundenheit mit Christus werden; zu den zentralen Elementen der herrnhutischen Glückseligkeit zählte Atwood zufolge nicht nur spirituelle sondern auch sexuelle Seligkeit. Atwood hob jedoch auch den normativen Anspruch der ständigen Glückseligkeit hervor, dessen Nichterfüllung einer Form von Rebellion gleichkommen könne.

CHRISTIANA PETTERSON (Canberra, Australien) beschäftigte sich in ihrem Vortrag ebenfalls eingehend mit Zinzendorfs emotionalem Vokabular. Auch hier sei der Zustand des Einzelnen das Resultat gemeinschaftlicher Bestrebung: Die Versammlungen hätten die Aufgabe, einen Zustand des Vergessens (“state of oblivion”) zu kultivieren, der Unempfindlichkeit gegen äußere Einflüsse schaffe und damit beinahe als „leichenhaft oder betäubt“ bezeichnet werden könne. Dabei bilde der Heiland aufgrund von dessen eigener Erfahrungen als Mensch einen emotionalen Anker und jegliches Vergnügen solle aus der Beziehung zu diesem gespeist werden.

Nachdem in Sektion C unter anderem die Emotionalisierung von LeserInnen mit dem Ziel ihrer Identifikation und Solidarisierung mit verfolgten Glaubensgenossen (SIEGLIND EHINGER, Stuttgart) und der Einfluss einer Emotionalisierung der Herrnhuter Sprache auf die Sorbische Alltagssprache (LUBINA MAHLING, Dresden), sowie das Bildschaffen der Herrnhuter (SYLVAINE HÄNSEL, Münster) thematisiert worden waren, beschloss CORINNA KIRSCHSTEIN (Halle) das Panel mit ihrem Vortrag über das Theater. Dabei sprach Kirschstein über das Urteil Speners und des Halleschen Pietismus gegenüber „Verstellung und Lüge“ im Hinblick auf das Theater und ging dabei den Ursachen für die Theaterfeindlichkeit der Hallenser auf die Spur. Hintergrund, so Kirschstein, ist das Bibelverständnis Franckes, der die Affekte als vom heiligen Geist eingegeben ansah, die sich in den Darstellungen der Bibel in stilistischen Eigenheiten wiederfanden. Die im Theater dargestellten Affekte seien demgegenüber als Lüge und Heuchelei anzusehen. Kirchstein zeigte jedoch auch auf, dass Spener im ersten sogenannten Hamburger Theaterstreit explizit gegen eben diesen Vorwurf argumentiert hatte.

In Panel B wurde die Bedeutung emotionaler Kodierungen in Übersetzungsprozessen pietistischer Texte und Musik in die litauische Sprache durch INGA STRUNGYTÉ-LIUGIENÉ, ŽAVINTA SIDABRAITÉ und MINDAUGAS ŠINKŪNAS (Vilnius, Litauen) hervorgehoben. Zum Schluss thematisierte FRANK LÜDKE (Marburg) die Musik Dwight L. Moodys (1837-1899) und deren Auswirkungen in den USA und Europa. Die emotionalen Großveranstaltungen (‘Shows’) von Moody und Ira David Sankey (1840-1908) mit ihrer einfachen, fröhlich und hoffnungsvoll klingenden Musik hätten, so Lüdkes Fazit, auch den deutschen Neupietismus des 19. Jahrhunderts beeinflusst.

Der V. Internationale Pietismuskongress hat in vielfältigen Bereichen Erkenntnisse hinsichtlich der Interdependenzen von Gefühl und Norm im Pietismus gewonnen. Die Tagung ist daher ein wichtiger Beitrag in diesem Diskurs, der nicht nur von einigen wenigen, sondern mittlerweile von vielen Wissenschaftlern auf der Basis extensiven Quellenmaterials geführt wird. Durch die Öffnung der Pietismusforschung gegenüber dem ‘emotional turn’ als Forschungszugang wurde das Spannungsfeld zwischen Gefühl und Norm im Umfeld pietistischer Gefühlskulturen ausgelotet. Diesen Ansätzen folgend wurden sowohl der soziale Performanzcharakter – äußere Gefühlsregungen galten als messbare Anzeichen für den Bekehrungsstatus – als auch vielfältige Subjektivierungsstrategien (wie Unsagbarkeit und Selbst-Produktion) untersucht. Im Zentrum stand dabei auch die Normierung durch semantische Vorgaben für den Ausdruck von Gefühlen, die auch geschlechter- und standesspezifische sowie geographische Unterschiede aufweisen konnte.

Intensive Diskussionen über den bereits vielfältig thematisierten Pietismusbegriff führten zu einer Hinterfragung seiner Zuschreibung als “gefühlsintensive” Bewegung. In diesem Kontext betonte Pascal Eitler 4 in seiner Respons zudem, dass die Begrifflichkeiten „Gefühl“ und „Emotion“ bisher bei weitem nicht ausreichend definiert worden sind. Auch die Verknüpfung mit den Thematiken, Methoden und Semantiken der parallel zum Pietismus verlaufenden Aufklärung, an deren befruchtende, aber auch einschränkende Bedeutung mehrfach erinnert wurde, bietet noch weiteres Forschungspotential. Insgesamt erscheint Emotion in den untersuchten pietistischen Gefühlskulturen als gemeinschaftliches Bestreben in dem die Erschaffung eines Selbst unter normativen Vorgaben und der eigene Ausdruck in steter Verbindung mit einer ‘emotional community’ steht.

Anmerkungen:
1 Der erste Teil des Berichts erschien bei H-Soz-Kult am 12.02.2019 <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8104>
2 Rosenwein, Barbara H.: Emotional Communities in the early Middle Ages, Ithaca, N.Y. 2006.
3 „Erschließung und Digitalisierung von Selbstzeugnissen der Frühen Neuzeit aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen“ (DFG Projekt am Studienzentrum August Hermann Francke) – https://www.francke-halle.de/neuigkeiten-n-11607.html
4 Vgl. Eitler, Pascal; Scheer, Monique: „Emotionengeschichte als Körpergeschichte: Eine heuristische Perspektive auf religiöse Konversionen im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Geschichte und Gesellschaft 35 (2009), Nr. 2, S. 282-313; Eitler, Pascal: „Der ‚Ursprung‘ der Gefühle – reizbare Menschen und reizbare Tiere“, in: Frevert, Ute u.a. (Hg.), Gefühlswissen: eine lexikalische Spurensuche in der Moderne, Frankfurt u.a. 2011, S. 93-119.


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