Archiving the Unarchivable / Das Unarchivierbare archivieren

Archiving the Unarchivable / Das Unarchivierbare archivieren

Organisatoren
documenta archiv, Kassel
Ort
Kassel
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2018 - 24.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Andrea Neidhöfer, basis wien, Archiv und Dokumentationszentrum für zeitgenössische Kunst, Wien

Was bleibt am Ende einer Ausstellung, insbesondere eines Großereignisses wie der documenta? Welche Mittel ermöglichen die adäquate Dokumentation sowohl einer Gesamtkonzeption unter Berücksichtigung prozesshafter Zusammenhänge, als auch der einzelnen Werke? Wie kann ein Archiv solch ein Ereignis für spätere Generationen nachvollziehbar und erforschbar machen und mit den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen eines gegenwärtigen Ausstellungswesens Schritt halten?

Seit mehr als 50 Jahren widmet sich das documenta archiv der Dokumentation der bedeutenden internationalen Ausstellungsreihe. Im Rahmen dieser Konferenz lud das Archiv internationale Expert/innen ein, neue Impulse für die Erarbeitung einer Handlungsstrategie für ein zeitgenössisches Archiv zu diskutieren. Der große Zulauf, den die Konferenz verzeichnete, zeigte die Aktualität und Relevanz dieses Themas auf.

Der erste Abend stand ganz im Zeichen des zukünftigen documenta Instituts und begann mit Grußworten und Ausblicken von SABINE SCHORMANN (Kassel), ERIC SENG (Wiesbaden) und BIRGIT JOOSS (Kassel). Die anschließende Live Performance „Mediendienst Leistungshölle“ (Klaus Erich Dietl / Stephanie Müller, beide München) stimmte auf anschauliche Art und Weise auf das Thema der Konferenz ein, die den Fokus vor allem auf ephemere Kunstwerke und zeitbasierte Medien legte.

In ihrer Keynote untersuchte DAGMAR BRUNOW (Växjö) Archive im Spannungsfeld von Erinnern und Vergessen. Erinnerung sei ein dynamischer Prozess, der einer ständigen Rekontextualisierung und Neubewertung von Informationen unterliege. Aufbewahrung allein trage noch nicht zum kulturellen Gedächtnis bei. Brunow beschrieb die Aufzeichnung der Erinnerung als einen performativen Akt der Macht. Archivar/innen hätten Definitionshoheit, was ins Archiv kommt und wer Zugang dazu bekommt. Auch die Materialität der Objekte könne über die Aufnahme ins Archiv bestimmen. Nicht nur sei es unmöglich, die Erfahrung etwa von Raum, Zeit oder Geruch festzuhalten – auch das Risiko des Verlusts sei intrinsisch mit der Materialität der Objekte verbunden. Die anfänglich mit großem Optimismus betriebene Digitalisierung sei zunächst als Lösung zur Langzeitarchivierung angesehen worden. Große Datenfriedhöfe werfen heute allerdings die Frage auf, ob sich der Mythos Digitalisierung nicht als leeres Versprechen herausgestellt habe. Unter dem Aspekt der Zirkulation betrachtet, könne Digitalisierung jedoch ein wirkungsvolles Mittel sein, um Informationen in Umlauf zu bringen und vergessene kulturelle Inhalte neu zu entdecken. Abschließend forderte Brunow Selbstreflexivität der Archive ein – also das Erkennen von blinden Flecken des eigenen Sammelbestandes. Im Fall des documenta archivs sei das beispielsweise der langjährige Fokus auf männlich dominierte, weiße Kunstproduktion – eine Tatsache, die vom Archiv nicht geändert werden kann, die aber zum Beispiel in Form von künstlerisch-archivarischen Interventionen thematisiert werden könnte.

Anhand von konkreten Beispielen erörterte MICHAEL KOERBER (Berlin) die Rolle nationaler und internationaler Netzwerke für die Erhaltung, Verbreitung und Erforschung des Films und versuchte Antworten auf die Frage zu geben, was wir daraus für scheinbar nicht archivierbare Kunstwerke lernen können. Das Medium Film habe im Verlauf seiner Geschichte unzählige Wandel erlebt, die nicht nur die physische Ebene betroffen (Material, Träger, Ausrüstung, Technik), sondern auch die gesellschaftliche (Produktionsbedingungen und Projektionspraxis, Publikum, Rezeption). Bereits in den 1930er-Jahren entstanden erste Filmarchive, die sich mit der Konservierung auseinandersetzten und Netzwerke zum Austausch von Informationen, Filmen und verwandten Materialien gründeten. Auch wenn analoge Filme in ihrer Materialität als flüchtig bezeichnet werden könnten, sei der Aspekt, der am meisten von Verlust betroffen ist, nicht der physische, sondern der Kontext in welchem der Film zur Gesellschaft steht. Als ephemere Filme bezeichnen Filmhistoriker/innen demnach Filme wie Amateurfilme, Werbefilme und Erziehungsfilme, die keiner wichtigen Gattung zuzuordnen sind und bisher nur wenig Aufmerksamkeit in der Forschung erfahren haben.

CHRIS EDWARDS (Los Angeles), Leiter der Digitalisierungsabteilung des Getty Institute, führte anhand von ausgewählten Beispielen durch wichtige Stationen der Fotogeschichte, um dann einen Ausblick auf neueste Perspektiven zu geben. Technische Errungenschaften wie zum Beispiel der 3D-Scan, der bereits jetzt von Archiven und Museen zur Dokumentation von dreidimensionalen Objekten eingesetzt wird, würden in Zukunft noch viel breitere Anwendungsmöglichkeiten finden. Durch die Verschränkung von Bilddaten mit anderen Forschungsdaten würden sich ganz neue Felder der wissenschaftlichen Analyse eröffnen.

Dass frühe Videoarbeiten heute noch gezeigt werden können, erfordert das Zusammenspiel verschiedener Elemente auf technischer und inhaltlicher Ebene. Während kein Weg an der Digitalisierung vorbeiführt, geht es neben der Bewahrung reiner Funktionalität auch darum, so lange wie möglich die Materialität zu erhalten.

JOHANNES GFELLER (Stuttgart) erklärte zeitbasierte Medienwerke als System von drei Trägern (Informationsträger, Werkträger, Bildträger). Zu Beginn der 2000er-Jahre habe noch die Sicherung der Informationsträger, also beispielsweise der Videokassette, im Vordergrund gestanden. Seitdem habe sich die Aufmerksamkeit auch auf die Hardware verlagert, also Abspielgeräte (Werkträger) sowie Monitore und Projektoren (Bildträger), die ebenfalls aufgrund von Materialermüdung und Mangel an Ersatzteilen zunehmend schwieriger zu erhalten seien. Vor allem bei der Nutzung zeitgenössischer Bildträger könne es zu Verlusten der Integrität des Werks kommen.

JOANNA PHILLIPS (New York), Restauratorin für digitale Medien am Guggenheim Museum, führte durch den Ablauf bei der Akquise eines zeitbasierten Kunstwerks. Für die Erhaltung und Restaurierung orientiere sich das Guggenheim Museum an den Empfehlungen der „Variable Media Intitiative“: Zeitbasierte Kunstwerke würden demnach als Systeme interpretiert. Neben den materiellen Komponenten würden Verhaltensweisen und Strategien des Werks identifiziert, auf deren Grundlage ein akzeptierbares Maß an Veränderung festgelegt werde. Konkret beschrieb Phillips den Ankauf von Mariam Ghanis Videoinstallation A Brief History of Collapses, welche 2012 für die documenta 13 in Auftrag gegeben und 2015 vom Guggenheim Museum erworben wurde. Sie erklärte, wie in Zusammenarbeit mit verschiedenen Abteilungen des Museums sowie mit der Künstlerin die Grundlage gelegt worden sei, das Werk zu erhalten und in unterschiedlichen Situationen ausstellen zu können.

DORCAS MÜLLER (Karlsruhe), gab Einblicke in die Arbeit des Labors für antiquierte Videosysteme am ZKM. Seit dem Auftreten von erschwinglichen Konsumentensystemen in den 1960er-Jahren, haben Hersteller jährlich neue – miteinander inkompatible – Videoformate auf den Markt gebracht. Diese sogenannte Obsoleszenz der Medien betrifft Trägermedien und Hardware, die jeweils voneinander abhängig sind. Ohne das passende Abspielgerät bleibt das Videoband wie eine geschlossene Auster. Grundlage für die Arbeit im Labor ist eine Sammlung von immer seltener werdender Hardware, welche die Digitalisierung einer großen Anzahl verschiedener Videoformate erlaube. Von Verfallserscheinungen betroffene Bänder – seit den 1980er-Jahren ist das Phänomen des „Sticky-Shed-Syndroms“ bekannt – müssen gereinigt und behandelt werden. Die Spezialist/innen des ZKM digitalisieren jährlich hunderte Werke früher Videokunst, und unterstützen auch Künstler/innen und andere Institutionen bei der Sicherung ihrer Bestände.

Nach diesen praktischen Einblicken stellte ANDREAS WEISSER (München) die Frage nach ethischen Grundlagen der Restaurierung – ein Thema das aus seiner Sicht eine eigene Konferenz gerechtfertigt hätte. Auch als relativ junge Disziplin ist die Restaurierung von Medienkunst geprägt von technischen Entwicklungen, den wandelnden Einstellungen dazu und den darin gründenden Irrtümern. So wurden beispielsweise mit dem Aufkommen der Digitalisierung oft die ursprünglichen Träger entsorgt, was zu nicht wiederherstellbaren Verlusten geführt habe. Können ethische Codes wie die Charta von Venedig (1964) und der E.C.C.O. Code, die ursprünglich für traditionelle Kunstwerke – in der Regel physische Objekte – entwickelt wurden, auch auf komplexe zeitbasierte Medienarbeiten übertragen werden? Oder braucht es komplett neue Richtlinien? Weisser wollte keine abschließenden Antworten auf diese Fragen geben, sondern unterschiedliche Lösungsansätze aufzeigen, darunter auch die bereits vorgestellte Methodologie der „Variable Media Initiative“.

ANNE J. GILLILAND (Los Angeles), beschrieb das Archiv des 21. Jahrhunderts als die ultimative zeitbasierte Konstruktion: Es befinde sich in einem permanent instabilen Zustand, immer im Prozess des Werdens begriffen, sei nie fertig, nie vollständig, jedes Archiv habe seine Überlieferungslücken. Archive müssten sich nun die Frage stellen, wie sie trotz dieser Umstände die beste Version eines Archivs werden können? Dafür gebe es keine einfache Formel: Gilliland plädierte dafür, die vielen, bereits zur Verfügung stehenden Technologien zu nutzen, neue Entwicklungen zu antizipieren und sich ihrer Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit bewusst zu machen. Archive müssten nachhaltige Strategien entwickeln, um herauszufinden, welche Inhalte für zukünftige Generationen bewahrt werden sollen und diese transparent darlegen. Dennoch sei es unmöglich, eine vollständige Kontrolle über die technische Infrastruktur zu haben und wir könnten nicht vorhersehen, wie sich die Semantik im Lauf der Zeit verändern werde. Es sei daher essentiell, dass sich Archive diesem ständigen Wandel gegenüber offen zeigten und die Idee aufgeben, dass sie für ewig sind.

JONAH WESTERMANN (Purchase) präsentierte ein Forschungsprojekt der Tate Gallery, das untersuchte, wann und wie Performance-Kunst Eingang ins Museum findet und wie sich die Bedeutung dessen, was wir darunter verstehen, über einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren verändert hat. Er schlug eine neue Sichtweise auf die verschiedenen Dimensionen von Performance-Kunst vor: Anhand der vier Gegensatzpaare Vergänglichkeit – Archiv, Handlung – Idee, Publikumsbeteiligung – Entfremdung, Wirklichkeit – Repräsentation, zerlegte er den Begriff „Performance“ in Komponenten, die eine differenzierte Analyse ermöglichten. An Beispielen zeigte er dann die praktische Anwendung seiner Methodik.

Medienkünstler und Aktivist DANIEL S. ANDUJAR (Barcelona) unterzog das Thema des Archivs einer kritischen Analyse aus künstlerischer Sicht. Er adressierte den Aspekt der Macht, welcher dem Archiv von Beginn an innewohne. Dabei schlug er den Bogen von dem spanischen König Philipp II., dessen Herrschaft die gesamte damalige Welt umspannte, auf einem bürokratischen Netzwerk gründete und sich in den Ordnungen des Staatsarchivs in Simancas und der Escorialbibliothek widerspiegelte, bis zu modernen Informationstechnologien. Als medienkritischer Künstler thematisierte Andujar den Zwiespalt zwischen der Notwendigkeit, die eigene Arbeit zu archivieren und dem gleichzeitigen Wunsch, sich der Ordnungsmacht der Archive zu entziehen.

TILLMAN BAUMGÄRTEL (Mainz) stellte das Medienprojekt „Piazza Virtuale“ des Kollektivs Van Gogh TV vor, welches aktuell Gegenstand eines DFG geförderten Forschungsprojekts ist. Die Gruppe, die aus Künstler/innen und Hacker/innen bestand, nahm mit ihrem Konzept eines interaktiven Fernsehens Phänomene heutiger sozialen Medien vorweg. „Piazza Virtuale“ war ein tägliches Programm, das 1992 im Rahmen der documenta 9 über 3sat und Satellit ausgestrahlt wurde und bei dem sich das Publikum via Fax, Telefon und Modem beteiligen konnte. Gesendet wurde aus einem Container hinter dem documenta archiv, in dem sich ein selbstgebautes Studio befand. Baumgärtel beschrieb die ersten Erkenntnisse und Herausforderungen im Umgang mit dem archivierten Material, das der Forschung lange nicht zugänglich war.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der mediale Wandel Archive im 21. Jahrhundert vor viele Herausforderungen stellt und gleichzeitig große Chancen bietet, die Bedeutung des Archivs zu überdenken und neue Wege zu gehen. In den Vorträgen wurden vielfältige Ansätze aufgezeigt, mithilfe neuer Technologien Strategien für die adäquate Bewahrung, Restaurierung und Dokumentation ephemerer Kunstwerke und zeitbasierter Medien zu entwickeln. Objektivierbare Daten und deren nachhaltige Sicherung sind dabei von ebenso großer Bedeutung, wie innovative Konzepte zu deren Kontextualisierung und Zirkulation. Das Spannungsfeld zwischen dem Archivierbaren und dem Nicht-Archivierbaren wird somit ständig neu verhandelt – ein Prozess, in dem Archive selbst eine aktive Rolle einnehmen können.

Conference Overview:

Sabine Schormann (documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Kassel) / Eric Seng (Hessisches Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Wiesbaden) / Birgit Jooss (documenta archiv, Kassel): Grußworte

Live Performance
Klaus Erich Dietl / Stephanie Müller (beide München): Mediendienst Leistungshölle

Susanne Völker (Stadt Kassel) / Birgit Jooss (documenta archiv, Kassel): Grußworte

Erste Sitzung: Archivieren von Erinnerungen
Chair: Andreas Gardt (Universität Kassel)

Keynote
Dagmar Brunow (Linnaeus University, Växjö): Zwischen Erinnern und Vergessen: Das Archiv und das kulturelle Gedächtnis

Martin Koerber (Deutsche Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen, Berlin): Expertennetzwerke zur Rettung, was können wir von Filmarchiven lernen?

Chris Edwards (J. Paul Getty Trust, Los Angeles): Digitization: Current Practices to Future Prophecies

Zweite Sitzung: Zeitbasierte Medienkunst: Die neue Disziplin der Konservierung
Chair: Arnaud Obermann (Staatsgalerie Stuttgart)

Johannes Gfeller (Staatliche Hochschule für Gestaltung, Stuttgart): Time-based Media: Macrotime, Microtime, Transmateriality

Joanna Phillips (Guggenheim Museum, New York): Zeitabhängige Medienkonservierung in der Museumspraxis

Dorcas Müller (Zentrum für Kunst und Medien ZKM, Karlsruhe): Sauve qui peut (les médias)! ZKM / Labor für Antiquierte Videosysteme

Andreas Weisser (Restaumedia und Doerner Institut, München): Ethische Herausforderungen bei der Konservierung von zeitbasierten Medien. Brauchen wir einen digitalen Verhaltenskodex?

Podiumsdiskussion
Moderation: Johannes Gfeller (Stuttgart)

Dritte Sitzung: Zeitbasierte Medienkunst: Den Herausforderungen des Lifecycle Managements begegnen
Chair Alexander Zeisberg (documenta archiv, Kassel)

Anne J. Gilliland (University of California, Los Angeles): Ethik, Auswirkungen und Technologien der Wiederherstellung und Reparatur in Kunstarchiven des 21. Jahrhunderts

Jonah Westerman (Purchase College, State University of New York): Performance, pragmatisch: Wahrheitsansprüche in der Ausstellungspraxis

Daniel G. Andújar (Künstler, Barcelona): Gegen das Archiv als „politischer Raum“

Tilman Baumgärtel (Hochschule Mainz): Archivierung am Rande des Digitalen. Van Gogh TV und „Piazza Virtuale“ auf der documenta 9

Podiumsdiskussion
Moderation: Nora Sternfeld (Kunsthochschule Kassel)