Migration und Sehnsuchtsräume im Osten (18. und 19. Jahrhundert): Erfahrungswelten „gemeiner“ Leute

Migration und Sehnsuchtsräume im Osten (18. und 19. Jahrhundert): Erfahrungswelten „gemeiner“ Leute

Organisatoren
Karl-Peter Krauss, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde (IdGL), Tübingen; Dmytro Myeshkov, Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa an der Universität Hamburg e. V. (IKGN), Lüneburg
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2018 - 24.11.2018
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Von
Karl-Peter Krauss, Forschungsbereich Demographie/Sozialgeographie, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen; Dmytro Myeshkov, Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa an der Universität Hamburg e.V. (IKGN), Lüneburg

Bis in das frühe 19. Jahrhundert waren Ostmittel- und Osteuropa die Hauptziele von Auswanderern aus vielen deutschen Territorialstaaten und -herrschaften. Die Geschichte dieser Migration ist insgesamt gut erforscht. Doch der historisch-anthropologische Fokus auf die Akteure, die „gemeine“ Frau, den „gemeinen“ Mann bleibt ein Forschungsdesiderat. Dieser Thematik nahm sich diese Tagung an. Dabei ging es auch um religiös konnotierte Narrative, die beim Entschluss zur Migration und deren Deutung eine wichtige Rolle gespielt haben.

Sehnsuchtsräume werden auch durch Konstrukte der „Paradies-Metaphorik“ legitimiert. Konnotationen vom neuen „Kanaan“, in dem Milch und Honig fließen, wurden und werden von Staaten, Werbern und Migranten selbst evoziert. Es sind Imaginitätskonstruktionen, die Migrationsprozesse generieren und instrumentalisieren. Die wirkungsmächtigen Bilder der Sehnsuchtsräume projizieren durch Realitäten schwer zerstörbare Narrative. Gerade für protestantische Gruppen konnten religiöse und biblische Motive eine Rolle spielen. Unter Vertretern von verschiedenen anabaptistischen Strömungen nach (und in) Russland spielten Vorstellungen von einer ersehnten besseren Welt eine wichtige Rolle. Bei katholischen Siedlern dominierten Bilder vom „besseren“ und „leichteren“ Leben.

Nach einer in der Regel schweren Adaptionsphase folgten Aufbauperioden, in denen sich die wirtschaftlichen Lebensbedingungen deutlich verbesserten. Einerseits förderte der Wohlstand eine wohlwollende Wahrnehmung der „neuen Heimat“. Doch genauso wurden in der Erinnerung die Leiden der ersten Ansiedler thematisiert, oft genug in sich ähnelnden Reflexionsmustern. Vor der Projektion dieser Metaphern, auch in der schöngeistigen Literatur oder in Auswandererliedern, ging es um das eigentliche Ziel der Tagung, die Erfahrungswelten der „gemeinen“ Leute. Nicht die Rahmenbedingungen von Migrationsbewegungen standen im Mittelpunkt, sondern die historisch-anthropologische Annäherung an das Leben der „kleinen“ Akteure, ihre subjektiven und realen Handlungsspielräume.

Den Auftakt zur Tagung bildete der Einführungsvortrag von GEORG FERTIG (Halle-Wittenberg). Auch wenn der Fokus des Vortrags auf Nordamerika gerichtet war, so wurden doch die Leitmotive des Fragerasters konstitutiv für die gesamte Tagung. Am Ausgangspunkt stand die Fragetrias nach den Imaginationen (1), Erfahrungen (2) und Deutungen (3). Inwieweit war der Auswanderungswunsch eine irrationale Sehnsucht oder ein rationales Ziel (1)? Woher kommt rationales Wissen (2) und welche Narrative lagen zugrunde (3)? An quellenbasierten Beispielen legte Fertig die konkurrierenden Deutungsperspektiven und die unterschiedlichen Deutungsebenen dar. Dabei öffnete sich ein breites Spektrum an Deutungspotentialen der Migranten. Schwer zugänglich ist hingegen ein Zugang zu den Erfahrungsebenen, was die Auswanderer tatsächlich dachten. Bei den Deutungen spielt die Perspektivwahl des Historikers eine zentrale Rolle; diese muss sich bewähren und gemäß der Fragestellung angemessen sein.

Im Rahmen der ersten Sektion der Tagung „Sehnsuchtsräume“ griff KARL-PETER KRAUSS (Tübingen) den Leitbegriff mit seinem Beitrag auf. Der Vortrag war komparativ angelegt, indem er zwei Zielräume von Auswanderern fokussierte: Das Königreich Ungarn und das Zarenreich. Zugleich war es eine integrative Perspektive, da sich in den „Erfahrungswelten“ trotz unterschiedlicher Auswanderungsziele zahlreiche Übereinstimmungen zeigten. Im Mittelpunkt stand eine dichte historisch-anthropologische und zugleich kontextualisierte Annäherung an zwei Akteurinnen im frühen 19. Jahrhundert: Franziska Lorch, die mit ihrer Familie nach Südungarn ausgewandert war und Katharina Kielnecker, die nach dem Tod der Mutter mit Vater und Schwester in den Südkaukasus gezogen war. Dabei ging es auch um die Frage ob reale Erfahrungen des Scheiterns und zerbrochene Hoffnungen von Auswanderern das dominante Konstrukt der Sehnsuchtsräume dekonstruieren konnten. Oder war die Sehnsucht „nach einem besseren Platz“ so wirkungsmächtig, dass sie reale Erfahrungen überdeckte?

Den räumlichen, aber auch thematischen Faden spann EVA-MARIA AUCH (Berlin) nahtlos weiter. Im Mittelpunkt stand der erträumte Sehnsuchtsort Helenendorf im Südkaukasusgebiet (heute Göygöl, Aserbaidschan). Auch fragte nach den Ursachen und Motiven der Auswanderung in diesen peripheren Raum, der nicht nur als Sehnsuchts-, sondern auch als Bergungsort pietistisch-separatistischer Auswanderer konnotiert war. Bedeutende Pietisten schufen die Basis für die religiösen Motive. Hinzu kam, dass Johann Heinrich Jung, genannt Jung-Stilling (1740-1817), ein Kommunikationsnetz mit der Frau von Zar Alexander I. (1777-1825), Luise von Baden (1779-1826) und der als Prophetin gefeierten Juliane von Krüdener (1764-1824) etablierte. Katalysator für die Auswanderung war die große Hungersnot 1816/17. Die Referentin warnte allerdings vor einer Überbetonung religiöser Gründe. Das Zerbrechen mancher Sehnsüchte ließ Sittenstrenge in Sittenverfall umschlagen. Schließlich wurde mit der „neuen“ (zugleich „alten“) württembergischen Kirchenordnung der Alltag einem Regelwerk unterzogen.

Im Mittelpunkt des Vortrags von RAINER S. ELKAR (Wilnsdorf) stand die Rekonstruktion der Biographie des Goldschmiedegesellen Eberhard Otto Baur (1825-1892) aus Reutlingen. Er befand sich fünf bis sechs Jahre auf Wanderschaft und fand in einer kurzen Phase seines Lebens einen „erträumten, besseren Ort“ in Ungarn. Die Stadt Pest in der Revolutionszeit (1848/1849) wurde zu „seinem“ Sehnsuchtsort der Freiheit. Dort identifizierte er sich mit den Revolutionären und bekundete mit dem brieflich geäußerten Ausspruch „Sieg oder Tod“, dass er lieber sterben wolle als zurück nach Reutlingen zu gehen. Doch genau dorthin zurück führten ihn seine Wege. Nach dem Verkauf des Elternhauses, einer Verschuldung, stand er vor dem finanziellen Ruin. Zurück blieben nur noch seine Erinnerungen an eine bessere Zeit, die mit den Begriffen „Essen, Trinken, Wein, Freiheit und Krankheit“ umschrieben werden kann. Elkar kontextualisierte das Fallbeispiel des „kleinen“ Goldschmiedegesellen im Rahmen seiner umfangreichen Forschungen von über 30.000 Fallbeispielen an Handwerksgesellen.

Die zweite Sektion „Erfahrungswelten: ‘Gemeine’ Leute“ eröffnete ELEONÓRA GÉRA (Budapest). Einleitend verortete sie das Thema mit einer Darstellung der Bevölkerungszahl und -entwicklung, der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung nach der Eroberung von den Osmanen sowie der sozialen Hierarchien in der multiethnischen, mehrheitlich von Deutschen besiedelten Stadt. Basierend auf dem einzigartigen Bestand an Gerichtsakten modellierte sie Fallbeispiele heraus, an denen die ganze Bandbreite zwischen Scheitern und wirtschaftlichem Erfolg aufgezeigt werden kann. Sozialer und wirtschaftlicher Erfolg stellte sich oft durch die Bildung familiärer Netzwerke ein. Einen großen Einbruch in der Entwicklung der Stadt stellte dabei der Aufstand von Franz II. Rákóczi (1703-1711) dar.

NORBERT SPANNENBERGER (Leipzig) thematisierte in seinem Vortrag die bemerkenswerte Erfolgsgeschichte eines Kolonisten. Der 1709 in Hessen geborene, umtriebige Mann schaffte den sozialen Aufstieg vom Kleinhäusler (lat. inquilinus) in Felsőnána im Komitat Tolna zum Bauern in Ráckozár (heute Egyházaskozár) im Komitat Baranya und wurde 1775 Gemeinderichter. Bei der wirtschaftlichen Verdrängung der orthodoxen „Raitzen“ (Serben) sowie der katholischen Deutschen und Kroaten durch deutsche Protestanten spielte Birkenstock eine wichtige Rolle; die Dorfelite war zunehmend evangelisch-lutherisch, die Serben wurden marginalisiert. Durch Bestechung gelang es Birkenstock, dass evangelischer Unterricht und Gebete möglich wurden. Auch der ökonomische Erfolg durch eine forcierte Binnenkolonisation und Intensivkulturen wie Tabak und Wein blieb nicht aus. Nach dem Toleranzedikt von 1781 war Ráckozár der erste protestantische Ort in Ungarn mit Kirchturm. Korruptionsvorwürfe und Anzeigen über Amtsmissbrauch sowie Streit mit dem Pfarrer führten schließlich zum tiefen Fall des „Bauernkolonisators“, der 1792 als Geächteter starb.

Der Pietismus war die nachhaltigste und bedeutendste Reformbewegung nach der Reformation im Protestantismus. Schon vor 1700 kam es zu Verfolgungs- und Unterdrückungsmaßnahmen, insbesondere der kirchenkritischen Strömung der radikalen Pietisten. Hier setzte ULF LÜCKEL (Marburg) mit seinem Beitrag an. Es erfolgten Auswanderungen pietistischer Gruppen nach Nordamerika, aber gerade auch nach Bessarabien, der Krim, dem Wolgagebiet und Kaukasien. So fand die Herrnhuter Brüdergemeinde Aufnahme durch Zarin Katharina II. im Wolgagebiet, wobei ihre Zielvorstellungen in der Aussage „wohin uns der Herr führt“ zum Ausdruck kamen. Ein besonderer Fokus wurde auf den lutherischen Prediger Joachim Christian Grot (1733-1800) gerichtet. Der in Plön (Holstein) Geborene wirkte unter anderem in Sankt Petersburg und Narwa.

Der Beitrag von KATALIN SIMON (Budapest) eröffnete die dritte Sektion „Erfahrungswelten: Weltliche und geistliche Obrigkeit”. Altofen (Óbuda) gehörte von 1659 bis 1766 der Hochadelsfamile Zichy. Nach 1766 kam die Stadt in den Besitz der königlichen Hofkammer, blieb aber gleichwohl im Schatten der königlichen Freistadt Ofen (Buda), was auch Auswirkungen auf den Forschungsstand hatte. Im Jahre 1720 waren 70 Prozent der Bevölkerung Deutsche, 21 Prozent Ungarn und neun Prozent Serben. 1772 gab es acht deutsche und vier ungarische Geschworene; den Richter stellte im ersten und zweiten Jahr ein Deutscher, dann folgte ein Ungar. Die Pfarrer sollten seit 1720 deutsch sprechen. Simon befasste sich mit dem Sozialstatus der Einwanderer und wertete die 1080 Trauungen zwischen 1704 und 1750 im Heiratsregister aus. Anhand der Trauzeugen lassen sich Rückschlüsse auf die sozialen Beziehungsnetze und damit den Sozialstatus ziehen. So hatten Gastwirte, Fleischhacker (Metzger) und Müller einen hohen Sozialstatus.

ANDRÁS OROSS (Budapest / Wien) legte eine mikrohistorische Nahaufnahme über die Kameralbeamten und ihr Beziehungsgeflecht zu den Kolonisten vor. Sie hatten nach der Türkenzeit die Aufgabe, die neue „staatliche“ Verwaltung im Alltag einzurichten. Am Anfang des 18. Jahrhunderts war im Königreich Ungarn ein merklicher Bedarf nach Beamten, die richtig schreiben und zählen konnten und über die nötige Sprachkompetenz verfügten. Sie hatten die Aufgabe, die neue „staatliche“ Verwaltung zu organisieren; sie stammten aus verschiedenen Regionen der Habsburgermonarchie und des Heiligen Römischen Reiches, viele waren ehemalige Soldaten. Oross stellte die Karrieremöglichkeiten dieser neuen Beamten in Ungarn vor. Insbesondere in den Gebieten der Neoacquistica gab es eine ständige, nicht konfliktfreie Interaktion mit den neuen Siedlern aus dem Heiligen Römischen Reich und dem Militär, das nicht selten ohne Rücksicht auf die zivile Verwaltung Rechte usurpierte. Als problematisch erwies sich auch die Tatsache, dass die Positionen von den Beamten bezahlt werden mussten, was ihre Korruptionsanfälligkeit erhöhte.

Eng anschlussfähig an diese Thematik war der Beitrag von VASILE-IONUT ROMA (Graz). Neben Südungarn und Siebenbürgen war das Banat eines der wichtigsten Migrationsziele für auswanderungslustige Angehörige verschiedener sozio-professioneller Gruppen wie Bauern, Handwerker oder Bergleute. aus den Ländern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Parallel zur Migration der Kolonisten gab es eine Fachkräftemigration. So kamen ehemalige Soldaten, Kameral- und Kanzleibeamte, die im Banat eine bezahlte Stelle suchten. Hier standen die Erfahrungshorizonte und Schicksale dieser Menschen und ihrer Familien im Vordergrund. Insgesamt ließen sich über 1.400 Beamte dauerhaft im Banat nieder. Ihre Fluktuation war schon durch eine hohe Mortalität hoch, wovon zahlreiche Briefe von Witwen zeugen. Als Problemfaktoren erwiesen sich mangelnde Sprachkenntnisse in einer multilingualen Umgebung, die demographische Krise der Anfangsjahre, soziale Isolation und häufige Verschuldung.

Die zentrale Fragestellung bei ZOLTÁN GŐZSY (Pécs) lautete, wie es den Pfarrern gelang, eine Schlüsselstellung in den neu konstituierten Gemeinden einzunehmen, um eine Homogenisierung der Sitten und der Moral gerade in den Anfangsphasen der Gemeinden zu bewirken. Es ging somit nicht mehr nur um die cura animarum, sondern um die cura morum. Voraussetzung für diese Prozesse der kirchlichen Sozialdisziplinierung war, dass der Priester zunächst ein Teil der Gemeinde wurde. Viele Priester kamen aus dem Reich, ebenso aus dem Raum Ofen. Der große Einfluss der Patronatsherren führte zunächst zu einer hohen Fluktuation. Doch die Lage der Pfarrer verbesserte sich durch die Einrichtung einer cassa parochorum generalis durch Karl VI. (Karl III. in Ungarn) und durch die Stärkung der Stellung der Bischöfe, die den Einfluss der Grundherren zurückdrängten. Diese Prozesse machte Gőzsy am Beispiel des Pfarrers Andreas Freindorfer von Tevel im Komitat Tolna deutlich. Dies sowie die höhere Universalbildung und die verlangte Sprachkompetenz der Pfarrer führten nach 1750 schließlich zu längeren Dienstzeiten in einer Gemeinde.

MATHIAS BEER (Tübingen) knüpfte zunächst an den „roten Faden“ der Fragestellung an. In seinem Beitrag ging es um Transmigrationen, die zum breiten Spektrum an Zwangsmigrationen der Frühen Neuzeit gehören. Nukleus und Ausgangspunkt war die Biografie von Georg Schwaiger aus Kärnten, der 1735 zunächst alleine nach Siebenbürgen deportiert wurde. Später musste seine Frau denselben Weg gehen, durfte ihre Kinder aber nicht mitnehmen. Der Referent beleuchtete drei Perspektiven: Erstens, jene der Transmigranten selbst, wie sie sich in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts niederschlagen. Zweitens, jene der Dorfgemeinschaften in Siebenbürgen, wie sie in Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts dargelegt sind. Und drittens jene der Wissenschaft, wie sie im aktuellen Forschungsstand ihren Ausdruck findet. Der Vortrag stellte die These zur Diskussion, dass Zwangsmigrationen und Sehnsuchtsräume sich nicht gegenseitig ausschließen. Im Gegenteil, sie schließen die Möglichkeit ein, einen Verbannungsort als Sehnsuchtsort zu deuten. Diese These rechtfertigte letztendlich, Zwangsmigrationen in die Tagung mit einzubeziehen, da sie das übliche Spektrum des Sehnsuchtsraumes erweiterte.

Den Ausgangspunkt für den Beitrag DMYTRO MYESHKOVs (Lüneburg) bildeten die Anwerbungskampagnen der russischen Regierung in Livorno und Danzig in den 1780er-Jahren. In der Zeit kurz vor und während der Ausreise sowie auch in den ersten Monaten in ihren Zielgebieten kommunizierten die Ausreisewilligen die Wunschbilder und Vorstellungen besonders intensiv. Anhand der Zeitzeugenberichte sowie der Korrespondenzen der russischen Regierung versuchte der Referent, erstens, die Sehnsuchtsräume im Osten zu lokalisieren und, zweitens, die Stimmungslage an beiden Auswanderungsorten hinsichtlich des Tagungsthemas einzuordnen. In Anlehnung an die emotionsgeschichtliche Forschung ließ sich „Sehnsucht“ hier als emotionaler Zustand aufschlussreich beschreiben. Dabei wurden Stimmungen der Auswanderungswilligen durch die Aktivitäten russischer Anwerber oft gekonnt erzeugt und instrumentalisiert.

Den finalen, zeitlich weit ausgreifenden Beitrag der Tagung bestritt ANNELORE ENGEL-BRAUNSCHMIDT (Kiel). Schriftsteller und Dichter sind keine „gemeinen“ Leute, aber sie berichten über diese; so können über eine solche Fremdwahrnehmung ebenfalls Einblicke in die Wahrnehmung der „gemeinen“ Leute gewonnen werden. Mit anderen auslandsdeutschen Literaturen in Mittel- und Osteuropa reagiert auch die weithin unbekannte russlanddeutsche Literatur in ihrer kurzen Geschichte mit Verzerrungen und Kehrtwendungen auf Veränderungen in Politik und Gesellschaft. Es handelt sich häufig um einen retrospektiven Blick auf eine als intakt wahrgenommene Welt bäuerlichen Lebens und der Verlusterfahrung des Vergangenen angesichts der dramatischen Brüche im späten 19. und 20. Jahrhundert. Die Traumata bis hin zur Deportation 1941 ließen die Russlanddeutschen zur „Schicksalsgemeinschaft“ werden, die Wolga wurde zur Heimatimagination, eine Rückbesinnung auf die (scheinbar) heile Welt schien unvermeidlich. Die alte Heimat, der Heimatverlust, bleiben in der Erinnerung ein „Sehnsuchtsort“ und werden in Vers und Prosa weitergegeben.

Konferenzübersicht:

Reinhard Johler (IdGL, Tübingen) / Victor Dönninghaus (IKGN, Lüneburg): Begrüßung

Einführungsvortrag
Georg Fertig (Halle-Wittenberg): „Mann müße alda arbeiten, als wie hiesiger Orthen auch“: Imaginationen, Erfahrungen und Deutungen in der frühen Auswanderung nach Nordamerika

Sektion 1: Sehnsuchtsräume
Moderation: Reinhard Johler (Tübingen)

Karl-Peter Krauss (Tübingen): Sehnsuchtsräume und zerbrochene Hoffnungen

Eva-Maria Auch (Berlin): Entgrenzung. Sehnsuchtsort Kaukasien?

Rainer S. Elkar (Salzburg): Sehnsuchtsort Freiheit – Anmerkungen zur Wanderung eines schwäbischen Goldschmiedegesellen nach Ungarn 1846-1849

Sektion 2: Erfahrungswelten: „Gemeine“ Leute
Moderation: Victor Dönninghaus (Lüneburg)

Eleonóra Géra (Budapest): Glück oder Unglück. Deutschsprachige Familien in Buda in der Wiederaufbauphase (1686-1726)

Norbert Spannenberger (Leipzig): Der „Bauernkolonisator“ Johann Heinrich Birkenstock im Esterházyschen Dominium Dombóvár

Ulf Lückel (Marburg): Auf der Suche nach dem neuen Glück: Pietistische Gruppen und Einzelgänger aus Westfalen und Hessen auf dem Weg in das Zarenreich

Sektion 3: Erfahrungswelten: Weltliche und geistliche Obrigkeit
Moderation: Mathias Beer (Tübingen)

Katalin Simon (Budapest): Alltagsleben der deutschen Bevölkerung in Altofen (Óbuda) im 18. Jahrhundert

András Oross (Budapest / Wien): Konfrontation und Kooperation. Die Kameralbeamten und die neuen Siedler in Ungarn nach der Türkenzeit

Vasile-Ionut Roma (Graz): Facetten der arbeitsbedingten Migration. Erfahrungen der Beamten und deren Ehefrauen im Rahmen des Wiener Personalmanagements im Banat (1716-1753)

Zoltán Gőzsy (Pécs): Cura morum. Die Sozialdisziplinierung der katholischen Kirche in den deutschen Siedlungsgebieten im 18. Jahrhundert

Sektion 4: Deutung
Moderation: Georg Fertig (Halle-Wittenberg)

Mathias Beer (Tübingen): „ich meinen Sohn also hab zurück laßen müßen.“ Religiöse Deutungen von Zwangsmigrationen im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts

Dmytro Myeshkov (Lüneburg): Zwischen Traum und Realität. Die ersten deutschen Ansiedler im nördlichen Schwarzmeergebiet in der Kolonistenliteratur des 19. Jahrhunderts

Annelore Engel-Braunschmidt (Kiel): Russlanddeutsch, Sowjetdeutsch, Deutsch: „Heimat" in der russlanddeutschen Literatur