Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert

Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert

Organisatoren
Archiv der deutschen Jugendbewegung
Ort
Witzenhausen
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.10.2018 - 21.10.2018
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Von
Jennifer Meyer, Hessisches Staatsarchiv Marburg

Auf der diesjährigen Tagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung wurden in vergleichender Perspektive gesellschaftliche Vorstellungen, Praktiken und Akteure der Lebensreform um 1900 und des alternativen Milieus in den 1970er- und 1980er-Jahren vorgestellt, um Kontinuitäten und Brüche sowie Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen beiden Bewegungen zu erörtern.

Nach einer Begrüßung durch die Archivleiterin und den Vorsitzenden des wissenschaftlichen Beirats des Archivs, ECKART CONZE (Marburg), der den interdisziplinären Charakter der Tagung über die Geschichtswissenschaft hinaus hervorhob, präsentierten die Organisatoren DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) und DAVID TEMPLIN (Osnabrück) ihre inhaltlichen Überlegungen zum Vergleich zwischen Lebensreform und Alternativmilieu. Siegfried unterstrich den unterschiedlichen Erforschungsgrad beider Bewegungen und hob dabei besonders die jüngere Forschung über das Alternativmilieu von Sven Reichardt hervor, die von dem theoretischen Impuls aus der Soziologie und einer „Renaissance“ (Peter Richter) des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses für die Thematik profitierte. Trotz der Spezifik ihrer Entstehungskontexte sollte laut Siegfried der Vergleich zwischen Lebensreform und Alternativmilieu einen genaueren Blick auf beide Bewegungen ermöglichen. Am Beispiel des autobiographischen Romans Rosinkawiese (1980) von Gudrun Pausewang illustrierte Templin die Vermittlung von lebensreformerischen Erfahrungen an das alternative Milieu um 1980.1 Neun Jahre zuvor hatte das Spiegelheft Deutsche Jugendbewegung 71. Flucht aus der Gesellschaft (33/1971) bereits beide Phänomene verglichen. Somit wurden die vermeintlich apolitischen Sub- und Nebenkulturen der 1970er-Jahre als Nachfolger der Jugendbewegung massenmedial aufgefasst. Um diese Bezugnahme zu erläutern, sollte die Tagung nach Kontinuitäten auf der Ebene der Akteure, des Habitus, der Traditionen und der Praxis und damit nach der Relevanz der Lebensreform für das Alternativmilieu fragen. Es sollte auch analysiert werden, ob die um 1900 und um 1970 geäußerte Gesellschafts- und Kulturkritik antimodern war oder eher avantgardistisch und somit zu einer Erneuerung der Moderne beitrug.

Mit seiner Keynote erarbeitete SVEN REICHARDT (Konstanz) eine „Archäologie der Gegenwelten“ entlang dreier Pfade. Den ersten Pfad bildete das gesellschaftskritische Experiment der fünfköpfigen Gruppe auf dem Monte Verità um 1900, die als „Miniaturmodell“ für die Alternativbewegung der 1970er-Jahre erscheint. Als zweiten Pfad benannte Reichardt die von der Feministin Juliet Mitchell analysierte Entstehung neuer Protestformen und sozialer Bewegungen, die nun Subjektivität, Emotion und Erfahrung als Ausgangspunkt der politischen Praxis nahmen und zur Schaffung eines neuen Menschen durch Selbstgestaltung beizutragen wünschten. Der dritte Pfad führte zu einem Briefwechsel im Mai 1968 zwischen Theodor W. Adorno und Elisabeth Lenk, die zwei Jahre zuvor die Rezeption von Charles Fouriers Ideen einer Wirtschafts- und Liebesgemeinschaft im linksalternativen Milieu durch die Herausgabe seiner Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen in deutscher Sprache ermöglicht hatten. In einer Zeit, in der das Private und das Intime erstmals als politisch betrachtet wurden, schuf die Erweiterung und Modernisierung der marxistischen Theorie durch Impulse aus der Psychoanalyse, des Feminismus, der Bürgerrechtsbewegungen usw. eine neue Verknüpfung zwischen individueller Selbstverwirklichung und Konstruktion einer „Gegengesellschaft“. Somit wuchs auch die Verbindung zwischen der Kritik einer „Entfremdung“, anstelle der klassischen Ausbeutung, in der kapitalistischen Gesellschaft und dem Wunsch nach ganzheitlicher Solidarität, Entfaltung und Gemeinschaftlichkeit. Von kommunistischer Seite rasch als politisch naive und kleinbürgerliche Strategie, die den Kapitalismus nicht überwinden könne, kritisiert, gehörten die Projekte der alternativen Ökonomie hauptsächlich dem Dienstleistungssektor an. Somit waren sie keine Symptome für einen Rückfall in eine vormoderne, landwirtschaftlich geprägte Ökonomie, sondern kündigten vielmehr die postmoderne Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft an. Am Ende seines Vortrags betonte Reichardt, dass das größte Modernisierungspotential von Siedlungsprojekten während der als krisenhaft wahrgenommenen Hochmoderne im Bereich der Erziehung und der Pädagogik lag. Trotz vieler kontextbedingter Unterschiede seien somit die Lebensreform und die Gegenkulturen der 1970er-Jahre als „zwei Schübe von Kulturkritik“ anzusehen. Sie reflektierten den Wandel der Gesellschaft, wagten mit Experimentierfreudigkeit verschiedene soziale Utopien und waren Teil einer durch die Verknüpfung von sozialem Handeln und Körperlichkeit gekennzeichneten präfigurativen Kultur.

Zu Beginn des Panels „Modernitätskritik“ plädierte JOACHIM C. HÄBERLEN (Warwick) dafür, dass die Forschung den Einfluss lebensreformerischer Entwürfe auf die linksalternative Gesellschaftskritik in den Blick nehmen solle. Wichtige Bezüge waren unter anderem die Kritik einer „kalten“ Vernunft und Rationalität, der Abstraktion und der Wissenschaft sowie die Kritik am urbanen Wohnen und das Zelebrieren von Nacktheit. Trotz aller Unterschiede, wie vor allem der unterschiedlichen Körperideale und des Einbettens linksalternativer Entwürfe in eine Kapitalismuskritik, sah Häberlen den wesentlichsten Anknüpfungspunkt in der Rationalitätskritik.

Ausgehend von der These, dass eine „Somatisierung des Religiösen“ auch in den 1970er- und 1980er-Jahren stattfand, verglich BERNADETT BIGALKE (Leipzig) Vertreter/innen des New Age mit Anhänger/innen der Theosophie und des Mazdanan. Dabei nahm sie ein breites Spektrum in den Blick: Es reichte von Sprachbildern und religiösem Jargon, (transatlantischen) Transferprozessen innerhalb bzw. zwischen beider Bewegungen, dem jeweiligen Religionsverständnis und der Bezugnahme auf den Orientalismus über kosmologische und anthropologische Lehren, Körperpraktiken, meist in Form von Ratgeberliteratur verbreitete Angebote der Gesundheitsfürsorge und der Therapeutisierung bis zu Politisierungsstrategien. Im Hinblick auf die Fragestellung der Tagung konnte Bigalke somit diachrone Netzwerke, erkennbar vor allem an der Präsenz von Theosophen der dritten Generation in den New Age Gruppen, und Kontinuitäten in der religiösen Sprache aufdecken.

Im Mittelpunkt von ROSA EIDELPES’ (Konstanz) Vortrag über die Bedeutung der „Völkerkunde“ für das Alternativmilieu um 1980 stand Hans Peter Duerrs Buch Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation (1978). Geistige Verwandtschaften lassen sich, so Eidelpes, zwischen der Begeisterung für nicht-westliche Lebens- und Gesellschaftsformen während des „Ethnobooms“ der 1970er- und 1980er-Jahre und der Völkerkunde um 1900 konstatieren. Besonders das neue Selbstverständnis der Ethnologie als Medium zum Verständnis der eigenen Kultur durch das Erforschen des „Fremden“ und die von Studierenden geforderte kritische Revision des Fachs erinnern an die sogenannte Rehabilitierung des „Primitiven“ der Jahrhundertwende. Ein wesentlicher Beweis dafür sei die Wiederentdeckung des Werks von Leo Frobenius. Damit konnte Eidelpes die „alternative“ Ethnologie als ein Reformprojekt kennzeichnen, das gleichzeitig mit einer Entpolitisierung – durch die reine Ausrichtung auf das transformatorische Potential des Selbst durch die Begegnung mit dem „Anderen“ – und einer Radikalisierung der (klein)bürgerlichen Selbstkritik einherging.

Abschließend präsentierte NADINE ZBERG (Zürich) ihr Dissertationsprojekt zum stadtkritischen Diskurs des Schweizer Alternativmilieus. Im Zentrum ihrer Analyse standen die Forderungen nach „Freiräumen“ und Teilhabe linksalternativer Menschen, die eine „zweite Zerstörung“ und völlige Neukonzipierung der Stadt beschworen. Während die lebensreformerisch geprägte Gartenstadtbewegung die Entfremdung überwinden wollte, indem sie das Land in die Stadt holte, seien die linksalternativen Projekte der 1970er- und 1980er-Jahre von postapokalyptischen Vorstellungen geprägt. Vor diesem Hintergrund plädierte Zberg für eine genauere Untersuchung der im Alternativmilieu vertretenen Konzeptionen von Natur, da diese stets im Verhältnis zur Definition von Stadt und Kultur entworfen wurde und ihre Eigenschaften (exotisch, wild, gefährdet, schützenwert) auf das kollektive Wir übertragen wurden. Daraus habe sich später der große Einfluss linksalternativer Vorstellungen auf die Creative City Bewegung der 1990er-Jahre gespeist.

Im Panel „Alternative Ernährung und Reformwirtschaft“ untersuchte zuerst STEFAN RINDLISBACHER (Zürich), inwieweit die Entstehung der Lebensreformbewegung, vorerst der Naturheilbewegung, mit der Herausbildung einer Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft in der Schweiz zusammenhing. Am Beispiel verschiedener Zeitungsannoncen analysierte er den Einstieg eines naturheilkundlichen Kurangebots in den etablierten Markt des im ausgehenden 19. Jahrhundert entstandenen konsumorientierten Gesundheitstourismus. Dieser stellte mit seiner Verknüpfung von individuell gestelltem Therapieangebot und touristischem Begleitprogramm einen wichtigen Wirtschaftsfaktor in der Schweiz dar. Mit ihrem Selbstverständnis als weltanschauliche Erweiterung der Konsumoptionen und ihrem Versprechen nach Natürlichkeit und Gesundheit bot die Reformwirtschaft der urbanen Mittelschicht eine wichtige Distinktions- und Subjektivierungsmöglichkeit an, bevor sie sich in den 1930er-Jahren stark popularisierte.

Eine longue durée der Lebensreform postulierend, fokussierte EVA LOCHER (Zürich) die Transfer- und Zirkulationsprozesse zwischen alten Lebensreformern und jungen Alternativen in der Schweiz der 1960er- und 1970er-Jahre. Lebensreformerische Ideen fanden Eingang in die Kritik der Massenkonsumgesellschaft nach 1945 und trugen zum Transfer von ernährungsreformerischen Konzepten ins Alternativmilieu bei, obwohl eine Verlangsamung dieser Ausbreitung durch die Konkurrenz der Lebensmittelindustrie zu verzeichnen war. Eine generationelle Rollenteilung deckte Locher am Beispiel der Beteiligung alter Lebensreformer an verschiedenen Projekten von selbstversorgenden Landkommunen und Sommercamps in den Alpen auf. Abschließend stellte sie die These auf, dass die Rezeption der Lebensreform und die Übernahme ihrer Praktiken durch das Alternativmilieu deren eigenen Erosionsprozess beschleunigten.

In seinem Beitrag verglich JÖRG ALBRECHT (Leipzig) die Reformkost und die Naturkost als zwei Formen „alternativer Ernährung“. Obwohl beide Bewegungen typischerweise ihre eigenen Produktions- und Distributionsstrukturen entwickelten, unterstrich Albrecht, dass die erste aus dem Vegetarismus entstand, während die zweite vorzugsweise Bezug auf die Makrobiotik als eine religiöse und spirituelle Ernährungsweise nahm. Kontinuitäten zwischen beiden Milieus sah er vor allem auf der Ebene der Kontakte und Transfers sowie in der Integrierung der Vollwerternährung in einigen Teilen des Alternativmilieus.

Den Auftakt im Panel „Sexualität“ bestritt ELIJA HORN (Braunschweig), der vergleichend untersuchte, wie die Freideutsche Jugend und die Neo-Sannyasins die „sexuelle Frage“ behandelten. Dabei ging es besonders um die Anschlussfähigkeit der Indienbilder an jugendkulturellen Topoi des 20. Jahrhunderts. Auffallende Gemeinsamkeiten zwischen beiden Bewegungen können, so Horn, am Alter und an der sozialen Herkunft ihrer Mitglieder, an den sexualisierten Übergriffen und der meist gegen Frauen verübten Gewalt sowie am romantisierten, als Gegenentwurf zu einem „seelisch verkrüppelten“ Westen skizzierten, Indienbild konstatiert werden. Drei zentrale Unterschiede seien allerdings, dass, erstens, die Neo-Sannyasins vorwiegend persönliche und therapeutische Bedürfe bearbeiteten, zweitens, psychologische Einflüsse bei den Freideutschen wenig bis gar keine Rolle spielten, während die Neo-Sannyasins an den „Psychoboom“ der 1970er- und 1980er-Jahre anschlossen, und, drittens, die Freideutsche Jugend eine kleine elitäre Gruppe bildete, während die Bewegung um Bhagwan Rajneesh Tausende Anhänger/innen fand.

Anschließend präsentierte LUTZ SAUERTEIG (Newcastle) wichtige Etappen in der Geschichte des sexualerzieherischen Diskurses über kindliche und jugendliche Sexualität in Deutschland. Kontinuitäten erkannte er in der Sexualisierung des Kindes, die nicht erst in den 1970er-Jahren entstand, sondern bereits um 1900 geschah, der Kritik an mangelhaften sexualaufklärerischen Informationen und den Forderungen nach Sexualität. Der zentrale Unterschied lag jedoch in der Politisierung dieser Anliegen um 1968. Bezugnehmend auf Dagmar Herzogs Forschung betonte Sauerteig schließlich, dass die Liberalisierung der Sexualmoral in den 1970er-Jahren zugleich mit neuen Formen gesellschaftlicher Zwänge und einer zunehmenden, von Feministinnen kritisierten Sexualisierung von Frauen einherging.

An die Kritik des Befreiungsnarratives und der Liberalisierungsthese knüpfte KARL BRAUNs (Marburg) Vortrag über linke Jugend und Sexualität um 1918 und um 1968 an. Nach einem Plädoyer für die Historisierung des Sexualitätsbegriffs zeigte Braun, dass die in der Jugendbewegung entwickelte These einer Harmonisierung der Gesellschaft durch befreite Sexualität, durch „freie Liebe“ eine Radikalisierung, unter anderem durch die Rezeption von Reimut Reiche und Herbert Marcuse, in der Studentenbewegung erfuhr. Dennoch habe der neue markt- bzw. warenförmige Charakter von Sexualität zu einer repressiven Entsublimierung geführt und die sexuelle Revolution musste sich einer notwendigen feministischen Kritik unterziehen.

Im Rahmen einer Podiumsdiskussion fragten DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) sowie DAMIR SKENDEROVIC (Fribourg), BERND WEDEMEYER-KOLWE (Hannover) und SILKE MENDE (München) danach, inwieweit die beiden Phänomene eher Bewegungen gegen die Moderne oder vielmehr Katalysatoren gesellschaftlicher Selbstreflexion darstellten. Während ein international steigendes (Forschungs-) Interesse an diesen Fragen konstatiert wurde, besonders für die Schweiz und die USA, sei die gesellschaftliche Wirkung weiterhin strittig. Zwar wurde das Potential beider Bewegungen für gesellschaftskritische Positionierungen betont, zumal als Erweiterung der Revolte von 1968, aber die Einbindung in neoliberale Entwürfe und der starke Individualisierungsschub böte auch gegenläufige Inanspruchnahmen an. Letztlich bewirke der Mangel an politischer und definitorischer Klarheit, dass das anregende Potential, zum Beispiel hinsichtlich der Betonung des Körpers als Ausgangspunkt vieler Reformen, nicht einhellig, etwa zur Stärkung der Zivilgesellschaft, aufgegriffen wurde.

Die Tagung schloss mit zwei Beiträgen im Panel „Kulturelle Ausdrucksformen“. Ergänzend zur bekannten These, wonach die Deutschfolkbewegung durch die amerikanische Populärkultur und die sogenannten „keltischen“ europäischen Folkszenen geprägt sei, zeigte GUNTER MAHLERWEIN (Saarbrücken) deren eindeutige Verbindungen zur Jugendmusikbewegung des frühen 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund der von Adorno kritisierten Anschlussfähigkeit der Jugendmusikbewegung an die nationalsozialistische Ideologie, war eine Rückbesinnung auf NS-belastete Lieder nicht möglich. Der Versuch einer alternativen Identitätsbildung wurde unternommen, indem man sich auf die Vormoderne oder den Widerstand gegen den Nationalsozialismus bezog. Eine Annäherung an andere sozialen Bewegungen fand ebenfalls statt. Dennoch erinnerte in mancher Hinsicht die Volkslied-Renaissance mit ihrem Wunsch nach einer „authentischen“, „akustischen“ und „natürlichen“ Musik an den zivilisations- und modernitätskritischen Gestus des Wandervogels. Kontinuitäten erkannte Mahlerwein auch in der Rolle einiger aus der bündischen Jugend stammenden Folkpioniere, in der Bedeutung der Festivals auf der Burg Waldeck sowie teilweise im Repertoire und im Instrumentarium.

Im letzten Tagungsbeitrag widmete sich BODO MROZEK (Berlin) der Bedeutung der Haartracht in holistischen Bewegungen. Den Blick auf Richard Ungewitters Rassentheorie richtend, zeigte er Parallelen mit der in der Lebensreform verbreiteten zivilisationskritischen Ablehnung der Kopfbedeckung auf. Die positive Deutung männlicher Langhaarigkeit als Rückkehr zur Natur und Symbol der Freiheit lasse sich auch in anderen Kontexten wiederfinden. Während das androgyne Erscheinungsbild der Hippies der hegemonialen Militärfrisur entgegengesetzt wurde, assoziierten Anhänger des George-Kreises Langhaarigkeit und Denkerstirn mit Dichtertum. Und während die „barfüßigen Propheten“ der 1920er-Jahre aus einer modernen Ikonografie des Christus schöpften, die dessen „geniale Künstlernatur“ durch Langhaarigkeit zum Ausdruck brachte, propagierten bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts afrophile Werke wie Der Papalagi eine verklärende Exotisierung rassifizierten Haares. Mit diesem Streifzug durch die Geschichte der Haartracht verdeutlichte Mrozek die verbreitete Assoziation langer Haare bei weißen Männern mit Freiheit, Natürlichkeit, Antibürgerlichkeit und, vor allem in den 1970er-Jahren, Emanzipation.

Deutlich wurden im Verlauf der Tagung die höchst unterschiedlichen Perspektiven bei der Erforschung der historisch 70 Jahre voneinander entfernten Phänomene „Lebensreform“ und „Alternativmilieu“, was einen direkten Vergleich erschwerte, von den Referent/innen aber durchgehend produktiv reflektiert wurde. Das interdisziplinäre und transnationale Gespräch der Tagung brachte eine Vielfalt an Sichtweisen zur Sprache, die mal als Spezialstudie, mal als systematischer oder überblicksartiger Vortrag angeboten wurden.

Konferenzübersicht:

Detlef Siegfried (Kopenhagen) / David Templin (Osnabrück): Einführung in das Tagungsthema

Sven Reichardt (Konstanz): „Alternative Pfade“ (Keynote)

Modernitätskritik

Joachim C. Häberlen (Warwick): Genealogien der Vernunftkritik. Von der Lebensreform zum Alternativen Milieu

Bernadett Bigalke (Leipzig): Von theosophischen „Adepten“ um 1900 und spirituellen „Suchern“ in den 1970er/1980er Jahren. Ein religionswissenschaftlicher Vergleich

Rosa Eidelpes (Konstanz): Ethnologische Gegenkultur. Zur Bedeutung der „Völkerkunde“ für das Alternativmilieu um 1980

Nadine Zberg (Zürich): Genealogien der Kritik und der Imagination von Stadt im Schweizer Alternativmilieu der 1970er- und 1980er-Jahre

Alternative Ernährung und Reformwirtschaft

Stefan Rindlisbacher (Zürich): Sanatorien, Reformhäuser und Biohöfe: Die Entstehung der Reformwirtschaft in der Schweiz (1900–1932)

Eva Locher (Zürich): „Keimzellen einer einfachen, gesunden, friedlichen Lebensweise“. Zur Interaktion zwischen alten Lebensreformern und jungen Alternativen in der Schweiz (1960er und 1970er Jahre)

Jörg Albrecht (Leipzig): Reformkost und Naturkost. Kontinuitäten und Brüche Alternativer Ernährung

Sexualität

Elija Horn (Braunschweig): „Sexuelle Befreiung“ aus Indien. Vom „Recht auf freie Hingabe“ in der Freideutschen Jugend (1918) zur Sexualität als Weg zur Erlösung bei den Neo-Sannyasins (1974-1981)

Lutz Sauerteig (Newcastle): Von Hodann zu Amendt. Vorstellungen von sexueller „Liberalisierung“, kindlicher Sexualität und Geschlechterverhältnissen in der Sexualerziehung um 1900 und um 1970

Karl Braun (Marburg): Linke Jugend und Sexualität um 1918 und 1968. Zum Mythos des Zusammenhangs von Befreiung der Sexualität und Harmonisierung der Gesellschaft

Podiumsdiskussion

Detlef Siegfried (Kopenhagen) / Damir Skenderovic (Fribourg) / Bernd Wedemeyer-Kolwe (Hannover) / Silke Mende (München): Lebensreform und Alternativmilieu – Bewegungen gegen die Moderne oder Katalysatoren gesellschaftlicher Selbstreflexion?

Kulturelle Ausdrucksformen

Gunter Mahlerwein (Saarbrücken): Vom Zupfgeigenhansl zu Zupfgeigenhansel. Brüche und Kontinuitäten zwischen Wandervogel und Deutschfolkbewegung der siebziger Jahre

Bodo Mrozek (Berlin): „Walle, walle, nimm die schlechten Lumpenhüllen!“ Vom bärtigen Propheten zum Hippie: body politics im Vergleich

Anmerkung:
1 Gudrun Pausewang, Rosinkawiese: Alternatives Leben vor 50 Jahren, Ravensburg 1980 (Neuauflagen unter dem Titel Rosinkawiese: Alternatives Leben in den zwanziger Jahren)


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