Das Buch der Päpste: Der _Liber Pontificalis_ – ein Schlüsseldokument europäischer Geschichte

Das Buch der Päpste: Der _Liber Pontificalis_ – ein Schlüsseldokument europäischer Geschichte

Organisatoren
Römisches Institut der Görres-Gesellschaft
Ort
Vatikanstadt
Land
Vatican City State (Holy See)
Vom - Bis
21.11.2018 - 24.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Kieslinger, Mittelalterliche Geschichte, Römisches Institut der Görres-Gesellschaft

Nur wenige Werke verdienen die Auszeichnung, ein „Schlüsseldokument der europäischen Geschichte“ zu sein. Der Liber Pontificalis gehört ohne jede Frage in diese Kategorie, wie diese international besetzte und polyglotte Tagung gezeigt hat. Die sukzessiv gewachsene, offiziöse Sammlung römischer Bischofsgesta ist bekanntlich nicht nur eine, wenn nicht sogar die zentrale Quelle für die spätantike, früh- und hochmittelalterliche Papstgeschichte, sondern auch unverzichtbar für die Erschließung der Geschichte der Stadt Rom. Das Bischofsbuch gewährt darüber hinaus Einblicke in die römische Wahrnehmung und Beurteilung von Ereignissen und Entwicklungen im gesamten christlichen Europa. Mit der Tagung wurde eine umfassende Würdigung dieses über Jahrhunderte gewachsenen Werks als Ganzes angestrebt. Zugleich sollte die Bündelung und Weiterführung verschiedener epochaler, thematischer und methodischer Schwerpunktsetzungen eine vertiefende Erforschung des Werks und seiner historischen Bedeutung ermöglichen. Die Umsetzung dieses Ansinnens ist den Veranstaltern der Tagung gelungen. Besonders hervorzuheben sind die fruchtbaren Diskussionen nach den einzelnen Vorträgen, aber auch nach Abschluss des eigentlichen Tagesprogramms, die sich hoffentlich in den zu veröffentlichenden Beiträgen niederschlagen werden.

Nach der Eröffnung der Tagung durch KLAUS HERBERS (Erlangen), MATTHIAS SIMPERL (Augsburg) und den Rektor des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft STEFAN HEID (Rom), in deren Rahmen das Konzept der Tagung erläutert wurde, ging ROSAMOND MCKITTERICK (Cambridge) der Frage der frühen handschriftlichen Verbreitung des Liber Pontificalis nach. Auffällig sei nämlich, dass die frühen Handschriften – wenngleich doch ein in Rom komponierter Text – mehrheitlich aus den fränkischen Reichen des transalpinen Raums überliefert seien. Mit ihrer Fokussierung auf den Langtext des Papstbuchs und seine Überlieferung stellte McKitterick vor allem das Wissen der Autoren bezüglich deren Beschreibung von Rom selbst und dem Papst(tum) auf den Prüfstand. Die Betrachtung der Konzeptualisierung von kirchlicher Autorität im Frühen Mittelalter anhand des Liber Pontificalis beschloss ihren Vortag.

Die erste Sektion wurde am Folgetag mit einem Beitrag von ANDREA ANTONIO VERARDI (Rom) begonnen, der in jüngerer Zeit vorgeschlagen hatte, die verschiedenen überlieferten Fassungen des Liber Pontificalis des sechsten Jahrhunderts als konkurrierende, mit unterschiedlichen (kirchen-)politischen Optionen besetzte Texte zu interpretieren. Verardi suchte diese These unter Einbezug kanonistischen Quellenmaterials und einer ins Detail gehenden Analyse verschiedener Viten aus der ersten Hälfte des sechsten Jahrhunderts zu untermauern. Eine Antwort auf Verardis Thesen stellte in gewisser Hinsicht der folgende Beitrag von Matthias Simperl dar, der im Gegensatz zu Verardi die redaktionsgeschichtliche Priorität des überlieferten Langtextes plausibel zu machen suchte. Simperl regte außerdem an, einen ersten Liber Pontificalis zu diskutieren, der höchstens Einträge zu römischen Bischöfen bis zum Ende des fünften Jahrhunderts umfasst habe. ANDRÁS HANDL (Leuven) warf mit seinem Vortrag einen Blick auf die im ersten Teil des Papstbuchs charakterisierenden Formulierungen hinsichtlich kirchenrechtlicher Akte der römischen Bischöfe und analysierte insbesondere deren Inhalte sowie die Verteilung der Zuschreibung solcher rechtssetzender Handlungen. Eine Systematik sei nicht erkennbar. Mit dem Kunstnamen Documenta Symmachiana und Documenta Laurentiana wird eine Gruppe von Texten bezeichnet, die ihren Ursprung einem mehrjährigen Schisma zwischen den römischen Bischöfen Symmachus und Laurentius verdanken: Sie waren Untersuchungsgegenstand von ECKHARD WIRBELAUER (Straßburg). Anhand philologisch-historischer Analysen stellte er eine Verbindung dieser Texte mit den frühen Versionen des Liber Pontificalis her und zeigte Ansatzpunkte für ein besseres Verständnis der frühen Redaktionsgeschichte des Papstbuchs auf. Möglichen Quellen des Werks war ebenso der Beitrag von Stefan Heid gewidmet, der unter historischen und statistischen Gesichtspunkten die Angaben zur Zahl päpstlicher Weihehandlungen im Liber Pontificalis untersuchte. Das Zahlenmaterial sei insgesamt verlässlich und decke sich auffallend gut mit anderen, davon unabhängigen Informationen über und Rückschlüssen auf die Personalentwicklung des stadtrömischen Klerus. Heid lieferte damit zugleich einen Beitrag zur Personalgeschichte und Amtsentwicklung der antiken und frühmittelalterlichen stadtrömischen Kirche.

VERA VON FALKENHAUSEN (Rom) eröffnete die zweite Sektion „Von der Urbs zum Orbis: Quelle und Erinnerungsträger“ mit ihrem Vortrag zur Darstellung der griechischen Gemeinden in Rom im Liber Pontificalis. Dabei situierte sie dortige Notizen über die Präsenz byzantinischer Kultur, Klöster und Gemeinschaften sowie nicht zuletzt der griechischen Sprache in Rom in einem breiteren historischen Kontext. LIDIA CAPO (Rom) nahm ausgehend vom Liber Pontificalis das Verhältnis der römischen Bischöfe zur öffentlichen Gewalt im Frühmittelalter in den Blick. BRUNO BON (Paris), der im Namen des kurzfristig verhinderten FRANÇOIS BOUGARD (Paris) sprach, diskutierte die Brauchbarkeit stilometrischer Verfahren bei der Zuweisung von „Viten“ des neunten Jahrhunderts an bestimmte Autoren und zeigte insbesondere die Grenzen einer solchen Herangehensweise auf. VERONIKA UNGER (Erlangen) ordnete mit ihrem Beitrag die „Viten“ des neunten Jahrhunderts in den großen Rahmen der päpstlichen Schriftlichkeit dieser Zeit ein. Die Frage danach, wie, wo und warum der Liber Pontificalis aufbewahrt wurde, brachte sie mit den beiden Kernbegriffen „Kanzlei“ und „Archiv“ in Verbindung und schlug so die Brücke zu ihrer 2018 erschienenen Dissertation Päpstliche Schriftlichkeit im 9. Jahrhundert – Archiv, Register, Kanzlei. Mit einem Beitrag aus der Archäologie und Kunstgeschichte, warf CAROLA JÄGGI (Zürich) einen Blick auf frühchristliche und -mittelalterliche Kirchenräume Roms sowie deren textiler Ausgestaltung und bot so einen differenzierten und weiterführenden Blick über die Forschungsgeschichte seit dem 19. Jahrhundert. Eine weitere Analyse einer auch im Liber Pontificalis erwähnten Realie bot MICHAEL BRANDT (Hildesheim) mit seinem Vortrag „in angulo obscurissimo: Das Gemmenkreuz der Sancta Sanctorum“, in dem er das zwar nicht von Sergius I. in Auftrag gegebene, aber von diesem in einen neunen Bedeutungszusammenhang gestellte crux gemmata behandelte. Besonderes Gewicht kam dabei der Erwähnung des Kreuzes in der Descriptio Lateranensis Ecclesiae zu, über die das Kreuz als jene crux gemmata zu identifizieren sei, die Hartmann Grisar 1905 im Altar der Sancta Sanctorum aufgefunden hat. Durch den Umstand, dass das Gemmenkreuz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht mehr greifbar, aber die Beschreibungen von Augenzeugen und die erhaltenen Fotoaufnahmen detailliert überliefert sind, konnte Brandt Aussagen über das ursprüngliche Erscheinungsbild treffen und somit einen Zusammenhang mit den Schriftquellen bezüglich eventueller Auftraggeber herstellen.

Die dritte Sektion „Kontext, Vergleich und Rezeption“ eröffnete MICHEL SOT (Paris) mit einem Vortrag zur Fragestellung: „Le liber pontificalis romain, est-il le prototype des gesta episcoporum?“ Sot griff damit eine Fragestellung erneut auf, der er während seiner wissenschaftlichen Laufbahn bereits mehrfach nachgegangen war und bewertete seine These im Licht neuerer Forschungsergebnisse. Einen weiteren Bezug zur Gattungsform der Gesta stellte KNUT GÖRICH (München) her. Er behandelte die Papstviten Kardinal Bosos, mit denen dieser im 12. Jahrhundert an die Papstgeschichtenschreibung des Liber Pontificalis anknüpfte. Dem Motiv des Prüfungen und Verfolgungen erleidenden (rechtmäßigen) Papstes galt dabei das besondere Augenmerk Görichs. Die Rezeption des im Liber Censuum überlieferten Papstkatalogs De Nominibus et Temporibus Constitutionibus et Actibus Pontificum Romanorum und die Einfügung von aus dem Liber Pontificalis bekannten Konstitutionen in eine Papstliste des frühen 13. Jahrhunderts, war Gegenstand des Vortrages von THOMAS KIESLINGER (Rom). Er stellte heraus, dass die selektiv aus beiden Werken übernommenen und in eine zusammen mit dem Decretum Gratiani überlieferte Handschrift eingefügten Informationen, die Viten der Päpste vor allem hinsichtlich des Gebrauchs zusammen mit dem Dekret und nicht hinsichtlich der sonst für den Liber Pontificalis charakteristischen Merkmale (etwa Weihedaten) genutzt wurden. Mit einer weiteren philologischen Betrachtung ging HEINRICH HEIDENREICH (Frankfurt am Main) nicht nur auf die Papstviten des Pandulphus ein, sondern erhellte zugleich die Anwendung des cursus Leoninus im päpstlichen Umfeld des Hochmittelalters. STEFAN BAUER (York) bot einen Ausblick in das Zeitalter der Renaissance und untersuchte die Zusammenhänge zwischen dem Liber Pontificalis und den Vitae pontificum, welche um 1475 vom Humanisten Bartolomeo Platina verfasst wurden. Gleichzeitig widmete er sich der Betrachtung des Augustinerbruders Onofrio Panvinio (1430–1568) und dessen neuem Versuch, eine Geschichte der Päpste zu schreiben. Die Wahrnehmung beider Werke an der römischen Kurie am Ende des 16. Jahrhunderts beschloss seinen Vortrag und gleichzeitig die Sektion.

Eine handschriftliche Führung mit papstgeschichtlichem Fokus erhielten die Teilnehmer am Donnerstagmittag durch CHIARA CECALUPO (Rom) in der Biblioteca Vallicelliana. Stefan Heid führte am Samstagvormittag außerdem durch den Laterankomplex (Sancta Sanctorum, Baptisterium, Basilika und Kreuzgang) und damit einem derjenigen Orte Roms, die für die Entstehung und Fortschreibung des Liber Pontificalis von besonderer Bedeutung sind.

Den Abschluss der Tagung bildete ein öffentlicher Abendvortrag des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, den in magistraler Weise Klaus Herbers hielt. Herbers verknüpfte die verschiedenen methodischen und inhaltlichen Zugänge zum Papstbuch zu einem einheitlichen Bild und legte so zugleich eine umfassende Gesamtwürdigung der Tagung und ihrer Ergebnisse vor.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Rosamond McKitterick (Cambridge): The Early Medieval Manuscript Dissemination of the Liber Pontificalis and its Possible Implications

Erste Sektion: Genese und Funktion(en) früher Textschichten

Andrea Antonio Verardi (Rom): Ricostruire dalle fondamenta: l‘origine poligenetica del Liber Pontificalis romano e le sue implicazioni storiche ed ecclesiologiche

Matthias Simperl (Augsburg): „Quaestio grauissima et perplexa“: Zur Rekonstruktion der frühen Redaktionsgeschichte des Liber Pontificalis

András Handl (Leuven): „Hic constituit...“: Bischöfliche Bestimmungen im präkonstantinischen Abschnitt des Liber Pontificalis

Eckhard Wirbelauer (Straßburg): Der Liber Pontificalis und die symmachianisch-laurentianischen Documenta

Stefan Heid (Rom): „Hic fecit ordinationes“: Die Weihestatistiken des Liber Pontificalis und die Kirchenorganisation Roms

Zweite Sektion: Von der Urbs zum Orbis – Quelle und Erinnerungsträger

Vera von Falkenhausen (Rom): Die Darstellung der griechischen Gemeinden in Rom im Liber Pontificalis

Lidia Capo (Rom): Il Liber Pontificalis, la Chiesa Romana e il rapporto con il potere publico

François Bougard / Bruno Bon (both Paris): Le Liber Pontificalis et ses auteurs au IXe siècle: enquête stylométrique

Veronika Unger (Erlangen): Verwendung und Aufbewahrung des Liber Pontificalis im neunten Jahrhundert

Carola Jäggi (Zürich): Die Bedeutung des Liber Pontificalis für die frühchristliche Archäologie und die Kunstgeschichte

Michael Brandt (Hildesheim): „in angulo obscurissimo“: Das Gemmenkreuz der Sancta Sanctorum – ein Fallbeispiel

Dritte Sektion: Kontext, Vergleich und Rezeption

Michel Sot (Paris): Le Liber Pontificalis romain, est-il le prototype des gesta episcoporum?

Knut Görich (München): Papstgeschichtsschreibung im Zeichen des Schismas: Die Papstviten des Kardinals Boso

Thomas Kieslinger (Rom): Der Liber Pontificalis und der Liber Censuum als Fundgrube: Zur Rezeption von Papstviten in einer hochmittelalterlichen Papstliste

Heinrich Heidenreich (Frankfurt am Main): „Ut Leoninum cursum reduceret“: Pandulphus und die Renaissance leoninischer Klauseltechnik in Urkunden Urbans II.

Stefan Bauer (York): The Book of Pontiffs in the Renaissance: Platina, Panvinio and their Critics

Vierte Sektion: Forschungsgeschichte

Andreas Sohn (Paris): Louis Duchesne und der Liber Pontificalis

_Kulturelles Programm: Besichtigung der Chiesa Nuova, des Oratoriums und der Biblioteca
Vallicelliana (Führung durch Chiara Cecalupo, PIAC)_

Öffentlicher Abendvortrag des RIGG
Klaus Herbers (Erlangen): Das Buch der Päpste: Der Liber Pontificalis – ein Schlüsseldokument europäischer Geschichte