Historische Authentizität. Subjektivierung und Vergemeinschaftung in der Moderne

Historische Authentizität. Subjektivierung und Vergemeinschaftung in der Moderne

Organisatoren
Leibniz-Forschungsverbund "Historische Authentizität"; Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2018 - 14.09.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Julian Genten, Didaktik der Geschichte, Freie Universität Berlin

Im Rahmen des Leibniz-Forschungsverbundes Historische Authentizität beschäftigte sich eine von Achim Saupe, Bodo Mrozek, Annelie Ramsbrock und Katja Stopka vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam ausgerichtete interdisziplinäre Tagung mit dem Bedeutungswandel des Authentischen in der Moderne. Die Idee eines authentischen Subjekts, einer vermeintlich unverstellten, in sich selbst ruhenden Person gewinnt seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung und wird dabei auch als Charakterisierung von Gruppen und Nationen verwendet.

Insofern war das zentrale Ziel der Konferenz, die Semantik des Authentischen im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Vergemeinschaftung innerhalb von Authentizitätsdiskursen der letzten zwei Jahrhunderte exemplarisch aufzuschließen, wie ACHIM SAUPE (Potsdam) in seinem Eröffnungsvortrag betonte. Dazu hatten die Veranstalter vier Themenbereiche ausgewählt: Neben intellektuellen und literarischen Diskursen suchte man den Vorstellungen vom authentischen Selbst anhand von Debatten über populäre Musik und über Körperpraktiken näherzukommen. Gefragt wurde dabei auch, inwiefern die Vorstellung vom authentischen Selbst und damit die Konstitution von „Subjektauthentizität“ unabhängig von Fragen historischer und dingbezogener Authentizität zu denken sei, wie MARTIN SABROW (Berlin/Potsdam) in seiner Begrüßung hervorhob.

Auf die Spannweite der Semantik des Authentischen machte PHILIPP SARASIN (Zürich) gleich zu Beginn in seiner Keynote aufmerksam. Dieser kontrastierte das Spiel mit hegemonialen Authentizitätsvorstellungen und deren Verfremdung im frühen Hip-Hop (insbesondere bei Afrika Bambaataa) einerseits mit Michel Foucaults Techniken des Selbst, in denen die Vorstellung eines authentischen Rückbezugs auf das Selbst nur eine von vielen Möglichkeiten der Selbstbeziehung ist, und andererseits mit essentialistischen Authentizitätsvorstellungen der Neuen Rechten. Deutlich wurde durch diese breite Palette an Beispielen, dass in den 1970er-Jahren auch jenseits linksalternativer Debatten 1 die Ideen vom authentischen Selbst und authentischer Gemeinschaft neu konfiguriert wurden. Weit davon entfernt, rechte und linke Diskurse über das Authentische gleichzusetzen, wurde deutlich, dass Authentizitätsbehauptungen eine Antwort auf Marginalisierung darstellen. Was auf der einen Seite als berechtigte Selbstbehauptungsstrategie erscheint, mündet auf der anderen Seite in rassistische bzw. „ethnopluralistische“ Konzeptionen von Gemeinschaften.

Im ersten Panel stand die Auseinandersetzung mit romantisierenden Vorstellungen authentischer Gemeinschaften in Abgrenzung zur modernen Massengesellschaft im Vordergrund. So wies DIRK ROSE (Innsbruck) auf die Bedeutung der frühen Medienkritik Johann Gottfried Herders für die Herausbildung moderner Konzeptionen von Authentizität hin. Das Authentische sei für Herder das medial Unvermittelte, weshalb der unmittelbaren stimmlichen Kommunikation – wofür exemplarisch Herders Sammlung von Volksliedern stehe – in „authentischen“ Gemeinschaften eine zentrale Rolle zukäme. Den an Herder anschließenden Authentizitätsdiskursen und deren materiellen Bedingungen in der europäischen Romantik widmete sich GÜNTER LEYPOLDT (Heidelberg) aus netzwerktheoretischer Perspektive. Dabei wurde deutlich, wie die zeitversetzte Verbreitung der Vorstellung eines „tiefen Selbst“ aus unterschiedlich konstituierten Netzwerkkonfigurationen und Praxisräumen im deutsch-, französisch- und englischsprachigen Raum resultierte.

Die im Verlauf der Tagung häufig erörterte Frage, ob die mit der Zeit verändernde Semantik des Authentischen lediglich auf einen Bezeichnungs- oder vielmehr auf einen Bedeutungswandel hindeute, griff auch CHRISTIAN GEULEN (Koblenz) in seinem Vortrag über den Topos der Natur als Quelle des Authentischen auf. Denn dass „authentisch“ und „natürlich“ auch heute noch – trotz eines sich in der Moderne grundlegend gewandelten Verhältnisses zur Natur – oftmals synonym verwendet werden, lasse sich nur erklären, wenn auch Vorstellungen von Authentizität einem vergleichbaren Wandel unterworfen gewesen seien. In der anschließenden Diskussion wurde zudem deutlich, dass sich insbesondere im Natur-Diskurs eine konzeptionelle Trennung von Objekt- und Subjektauthentizität kaum aufrechterhalten lässt, da beide Dimensionen in der Interaktion des Subjekts mit der als authentisch konstruierten Natur ineinander übergehen.

Die Analyse rechter Authentizitätsdiskurse nahm TILMANN SIEBENEICHNER (Potsdam) in seiner Erörterung von Gewalt als Authentisierungsstrategie in der Weimarer Republik wieder auf. Anhand ausgewählter Texte von Ernst Jünger und Ernst von Salomon zeichnete er nach, wie Gewalt in der Rechten nicht nur als Mittel zur Konstitution einer „echten“ nationalen Gemeinschaft vorgestellt, sondern darüber hinaus der Moment des Gewaltakts selbst als einzig authentische Seinsweise mystifiziert wurde.

Das zweite Panel leitete KATJA STOPKA (Potsdam) ein. Sie gab einen schlaglichtartigen Überblick über Umbrüche in der Literaturgeschichte seit 1800 und die sich wandelnden Strategien des Authentisierens und Authentifizierens. Obwohl Literatur mit ihren fiktionalen Ansprüchen dem Authentizitätsbegehren eher fern zu stehen scheint, sei es doch andererseits gerade die Literatur, die als künstlerischer Spiegel des Subjekts immer wieder auch Authentizitätsansprüche erhoben hat und erhebt: etwa im Bedürfnis der Avantgarden, Kunst und Leben zusammenzuführen oder auch in dem so ästhetischen wie reflektorischen Anliegen, Fakt und Fiktion miteinander in Verhandlung treten zu lassen, um die Verwandtschaft oder aber auch die Differenz zwischen beiden hervorzuheben bzw. ihre Semi-Permeabilität sichtbar werden zu lassen.

Dem Ideal der Ursprünglichkeit und der Verbindung ökonomischer und religiöser Motive im Dadaismus ging CHRISTOPH ZELLER (Nashville) am Beispiel Hugo Balls nach. Dabei verwies er nicht nur auf Kontinuitäten literarischer Authentizitätsvorstellungen von Herder bis Ball, sondern auch auf die Nähe von Authentizitätsvorstellungen im zeitgenössischen Exotismus zu rassistischen Diskursen. Inwiefern der Erfolg derartiger Strategien auch von historischen Erfahrungsgemeinschaften der Leserschaft abhängt und zum Erfolg einer literarischen Gattung beitragen kann, veranschaulichte JÖRG DÖRING (Siegen) mit einer Analyse westdeutscher Kriegserzählungen um 1950. Und CLAUS PIAS (Lüneburg) erörterte Auswirkungen der Computerisierung und Digitalisierung auf Vorstellungen von Authentizität seit den 1970er-Jahren. Dabei zeige sich, dass mit der Habitualisierung und Normalisierung des Digitalen das Virtuelle zunehmend als das Authentische wahrgenommen wird, analoge Kulturtechniken hingegen als unauthentisch bzw. artifiziell. Pias sprach dabei Formen des „Durcharbeitens“ (Hannes Bajohr) digitaler Möglichkeiten in der Literatur, der „Verweigerung“ (Kenneth Goldsmith) sowie Aspekte der Kommerzialisierung (Tang Jia San Shao) an.

In seiner Einführung zum dritten Panel stellte BODO MROZEK (Berlin/Potsdam) drei Felder der Musikgeschichte heraus, in denen Authentizität verhandelt wird: Erstens die technischen Bedingungen der Produktion, Reproduktion und Aufzeichnung von Musik in der Moderne, zweitens die wirtschaftlichen Produktionsbedingungen der Musik und drittens die Musik selbst als Marker für bestimmte soziokulturelle Lebensverhältnisse, Projektionsflächen und Identifikationsangebote. Einen wichtigen Bezugspunkt des Panels stellte zudem Allan F. Moores Konzept der Dreiteilung von Subjektauthentizität in First-, Second- und Third-Person-Authenticity dar, die eine Analyse perspektivierter Zuschreibungsprozesse ermöglicht.

Dass die Erzeugung von Authentizität keineswegs ein obligatorisches Element musikalischer Darbietungen sein muss, arbeitete STEFFEN JUST (Berlin) am Beispiel des populären Musiktheaters des frühen 20. Jahrhunderts heraus. Ziel sei hier nicht der möglichst unverstellte Selbstausdruck der Künstler/innen gewesen, sondern im Gegenteil das Spiel mit Masken und gesellschaftlichen Konventionen sowie deren Überspitzung und Übertretung. Dass sich in von Rassismus und Sexismus geprägten Gesellschaften Authentizitätsdiskurse nicht losgelöst von Fragen der Hautfarbe und des Geschlechts erörtern lassen, veranschaulichte DIETMAR ELFLEIN (Braunschweig) am Beispiel „Soul und Authentizität“. So habe sich der weiß und männlich dominierte Rock seit den 1960er-Jahren erfolgreich als Genre des authentischen Ausdrucks inszeniert, wobei auch Abgrenzungsstrategien gegenüber dem als kommerzialisiert delegitimierten Soul eine wichtige Rolle gespielt hätten. Und da Authentizität stets performativ und in Interaktion mit dem Publikum hergestellt werden müsse, seien schwarze Authentizitätsentwürfe in einer weißen Mehrheitsgesellschaft jenseits rassistischer Stereotype (Stichwort Gangster) kaum realisierbar. Mit dem Spannungsverhältnis zwischen authentischer Inszenierung und Kommerzialisierung beschäftigte sich auch KATHRIN FLEISCHMANN (Berlin) in ihrem Vortrag für den sie verschiedene Fan-Zines untersuchte. Dabei verwies sie auf das Rauhe, Unverstellte, nicht-Technisierte sowie auch auf Praktiken der Selbstverletzung als Distinktionsmarker für authentisch inszenierten und als solchen wahrgenommenen Punk.

Im vierten Panel wurden Konzepte des Authentischen bei der physischen und psychischen Konstituierung des Selbst eruiert. Dabei führte ANNELIE RAMSBROCK (Potsdam) mit der Frage ein, inwieweit Konzepte des Authentischen körperhistorische Perspektiven, die zumeist von der Unterscheidung des vermeintlich Natürlichen und des Künstlichen profitieren, überhaupt produktiv erweitert werden könnten. Der Vorstellung eines natürlichen Verhältnisses zum eigenen Körper ging NINA MACKERT (Erfurt) anhand US-amerikanischer Ernährungsdiskurse des frühen 20. Jahrhunderts nach. Dabei strich sie heraus, wie das Ideal eines vermeintlich natürlichen, der Norm entsprechenden Körpers über eine Verwissenschaftlichung der Ernährung angestrebt worden sei, wobei deren eigene Kategorien (Kalorie, Diät, usw.) jedoch wiederum mit Vorstellungen des Authentischen (Tradition, Geschmack, usw.) konfligieren konnten.

Dem Wandel des authentischen Selbst vom linksalternativen Gegenentwurf der späten 1960er-Jahre zu kapitalistischen Entfremdungsprozessen hin zum neoliberalen Subjektideal widmete sich MAIK TÄNDLER (Jena) mit einer Untersuchung therapeutischer Diskurse. Die konstatierte Verkehrung des ursprünglich emanzipatorischen Anspruchs dieser Diskurse in ein marktkonformes Coaching des Individuums als Unternehmer seiner selbst sei dabei keineswegs bloß ein bedauerlicher Fehler, sondern konstitutiv für die gesellschaftliche Durchschlagskraft therapeutischer Diskurse gewesen. Das im Verlauf der Tagung häufiger thematisierte Wechselverhältnis zwischen (technischer) Inszenierung einerseits und deren als authentisch wahrgenommener Rezeption andererseits beleuchtete abschließend BARBARA ORLAND (Basel) anhand cineastischer Dokufiktionen über Schwangerschaft und Geburt.

In der Abschlussdiskussion zeigten sich die verbindenden Elemente der fachlich breit aufgefächerten Vorträge der Tagung, die Impulse für weiterführende Forschungsfragen ergaben. Zentral war dabei der Vorschlag, den Fokus stärker auf den prozessualen Charakter des „Authentisierens“ und „Authentifizierens“, auf die Interaktion einzelner Subjekte untereinander und die Bezugnahme auf die dingliche und sensitive Umwelt, eingeschlossen des eigenen Körpers, zu legen, als bei der Dekonstruktion von essentialistischen Authentizitätsbehauptungen stehen zu bleiben. Die Betonung dieses interaktionalen Charakters der Authentitätskonstruktion führte zudem zu einer kritischen Betrachtung der in der Forschungsliteratur weit verbreiteten und noch zu Beginn der Tagung diskutierten Trennung zwischen Objekt- und Subjektauthentizität die sich in Aushandlungsprozessen und Mensch-Ding-Beziehungen häufig aufzulösen scheint.

Konferenzübersicht:

Einführung: Martin Sabrow, Achim Saupe (beide ZZF Potsdam)

Keynote: Philipp Sarasin (Universität Zürich)

Panel I: Intellektuelle und gesellschaftliche Projektionen des „authentischen“ Selbst
Achim Saupe: Einführung/Moderation

Dirk Rose (Universität Innsbruck): Recht und Gesang. Zum medialen Ort des Authentischen bei Johann Gottfried Herder

Günter Leypoldt (Universität Heidelberg): Das tiefe Selbst. Romantische Innerlichkeit und die Entstehung nationaler Identität

Christian Geulen (Universität Koblenz): Die versiegende Quelle des Authentischen. Über Natur im 20. Jahrhundert

Tilmann Siebeneichner (Humboldt-Universität): Auf der Suche nach dem „echten Kollektiv“. Gemeinschaft und Gewalt in der Weimarer Republik

Panel II: Authentizitätskonstruktionen in der Literatur
Katja Stopka (Einführung/Moderation)

Christoph Zeller (Univ. of Vanderbilt, Nashville): Der Dichtung heiligster Bezirk. Wie Hugo Ball durch Laute seine Ruhe fand

Jörg Döring (Universität Siegen): Authentisierung in westdeutschen Kriegserzählungen um 1950

Claus Pias (Universität Lüneburg): Creative Computing, Uncreative Writing, 1970/2010

Panel III: Das authentische Selbst in der populären Musik
Bodo Mrozek: Einführung/Moderation

Steffen Just (Humboldt-Universität): Figur vs. Authentizität. Theatrale Inszenierungen im populären Musiktheater 1890-1930

Dietmar Elflein (TU Braunschweig): What‘s going on? Soul und Authentizität. Spuren einer problematischen Beziehung

Kathrin Fleischmann (Humboldt-Universität): „Ist das noch Punk?“

Panel IV: Konzepte des Authentischen bei der physischen und psychischen Konstituierung des Selbst
Annelie Ramsbrock: Einleitung/Moderation

Nina Mackert (Universität Erfurt): How to train the appetite into natural paths. Zur Ambivalenz des Authentischen in US-amerikansichen Ernährungsdiskursen des frühen 20. Jahrhunderts

Maik Tändler (Universität Jena): Aporien therapeutischer Authentizität in den 1970er Jahren

Barbara Orland (Universität Basel): Das Drama des Lebens. Authentizität und Fiktion der pränatalen Bildgebung

Abschlussdiskussion
Achim Saupe (Moderation), Martin Sabrow, Philip Sarasin, Katja Stopka

Anmerkung:
1 Sven Reichhardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014.


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