Vergangenheit analysieren – Zukunft gestalten. Technik-, wirtschafts- und sozialhistorische Forschung seit den 1960er-Jahren

Vergangenheit analysieren – Zukunft gestalten. Technik-, wirtschafts- und sozialhistorische Forschung seit den 1960er-Jahren

Organisatoren
Paul Thomes, Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte, RWTH Aachen
Ort
Aachen
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.02.2019 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Lena Knops, Lehr- und Forschungsgebiet Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte, RWTH Aachen

Die 12. Tagung des Aachener Kompetenzzentrum Wissenschaftsgeschichte (AKWG) fand anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des WISOTECH unter der Federführung von Paul Thomes statt, der das Institut seit 1995 leitet. Rund 60 Gäste diskutierten im Rahmen der interdisziplinär angelegten Veranstaltung über die Wahrnehmung und Generierung von Wissen und über die Wirkung von Wissen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

In seiner Begrüßung und Einführung im David-Hansemann-Saal der IHK Aachen, betonte PAUL THOMES (Aachen) das Anliegen des Lehr- und Forschungsgebietes Wirtschafts-, Sozial- und Technologiegeschichte, das 50jährige Bestehen seiner Professur zum Anlass zu nehmen, um an diesem Tag einen selbstkritischen Rück- und Ausblick auf die Disziplin an sich, ihr Selbstverständnis sowie die daraus abgeleiteten Themen und Methoden zu werfen. Paul Thomes betonte, dass es – insbesondere an einer Technischen Hochschule – unerlässlich sei, Fragen von Transformation und zukünftigen Herausforderungen mittels eines konsequent-interdisziplinären und anwendungsorientierten Ansatzes zu diskutieren. So begreife er Geschichte als Dialog der Gegenwart mit der Vergangenheit über die Zukunft.
CHRISTOPH RASS (Osnabrück) gab in seiner Keynote einen Überblick zu aktuellen und künftigen Herausforderungen mit Big Data innerhalb der Wissenschaft im Allgemeinen sowie der Wissenschaftsgeschichte im Speziellen. Bezugnehmend auf das Institutsjubiläum erinnerte Rass an die Veränderungen, die sich in den vergangenen 50 Jahren – epochal auch und gerade durch die Digitalisierung – vollzogen haben. Zukünftig sehe er besonders in der Digitalisierung von Quellenbeständen eine herausfordernde Aufgabe für (historische) Forschung, die, wie alle Herausforderungen, eine Chance für Fortschritt und Weiterentwicklung böte. Seine Keynote wollte er auch als Plädoyer für eine Inklusion qualitativer und quantitativer Methoden verstanden wissen.

GABRIELE GRAMELSBERGER (Aachen) adressierte in ihrem Vortrag die tiefgreifende Transformation von Mensch und Technik, die durch Machine Learning hervorgerufen wird und deren Folgen heute kaum absehbar seien. Sie erinnerte an die historischen Anfänge dieser Entwicklung, die in ein weltweites Forschungsprogramm mündeten, welches Douglas Engelbart im Jahr 1963 als Augmenting Human Intellect bezeichnete. Der Vision Engelbarts folgend und darüber hinausschauend, zeichnete sie die Entwicklung von künstlichen neuronalen Netzen bis hin zu heutigen Deep Learning Artificial Neural Networks sowie deren Automatisierungspotenzialen auf.

MICHAEL SCHNEIDER (Düsseldorf) widmete sich in seinem Beitrag einem Forschungsfeld, das sowohl aus wirtschaftshistorischer als auch wissenschaftshistorischer Perspektive neuer Erkenntnisse bedürfe, nämlich der Frage nach der Wissensproduktion und deren Einfluss auf die ökonomische Sphäre. Schneider thematisierte dabei u. a., dass die Herstellung von Wissen in der Geschichte ökonomischen Einflüssen und Zwängen unterworfen war. Er verwies illustrierend darauf, dass in Laboratorien privatwirtschaftlicher Unternehmen Wissen generiert wurde, welches aufgrund ökonomischer Zwänge der (akademischen) Wissenschaft nicht zwangsläufig zugänglich gemacht werden konnte. Erkenntnisgewinn auf diesem Gebiet, so folgerte er, sei nur durch disziplinübergreifende Forschung zu erlangen, die wechselseitig Theorien und Methoden ernst zu nehmen und zu prüfen habe. DAVID CHEMATA (Straßburg/Potsdam) griff in seinem Vortrag eine bekannte Diskussion zur Integration naturwissenschaftlicher Prinzipien und Methoden in den Sozialwissenschaften auf. Er ging dabei unter anderem auf die Ansätze von Rein Taagepera (2007; 2008) ein. Chemata zog die vielfach diskutierte Frage auf, was beide disziplinären Sphären methodisch trennt beziehungsweise vereint und inwiefern mathematische Methoden stärker ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Forschung gerückt werden sollten.

In der zweiten Sektion widmete sich zunächst Martin BARTELMUS (Aachen) aus literaturwissenschaftlicher Perspektive dem Fallbeispiel „Space Force“. Unter dieser Überschrift hatte US-Präsident Donald Trump 2018 angekündigt, eine militärische Initiative in Ergänzung der Land-, See- und Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten ins Leben zu rufen und damit den Weltraum als Gebiet militärischer Aktivitäten zu erschließen. Ausgehend von Bruno Latours Akteurs-Netzwerk-Theorie (ANT) untersucht Bartelmus den Begriff „Space Force“ als Narrativ innerhalb des Beziehungsdreiecks von Mensch, Technik und Wirtschaft. Dieses stelle den aktiven Versuch dar, neben Implikationen von wirtschaftlicher Prosperität in Folge verstärkter Technologieforschung auch aktuelle wissenschaftliche und politische Debatten über den Klimawandel zu umgehen.

KATHARINA LOEBER (Kassel) beschäftigte sich mit dem Einfluss gesellschaftlicher Voraussetzungen und Prozesse auf Technikforschung. Am Fallbeispiel des Projektes „Cybersyn“ (1971–1973), einem frühen Datenverarbeitungsnetzwerk, mit dem man die Vision eines „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus in Chile realisieren wollte, analysierte Loeber das Beziehungsgeflecht zwischen Mensch, Umwelt und Technik. In einem zweiten Teil des Beitrages nutzte Loeber das Fallbeispiel Cybersyn zur Diskussion der Resilienz sozial-ökologischer Systeme (SES).

DIETRICH LOHRMANN (Aachen) gab zum Abschluss der zweiten Sektion Einblicke in die am 2. Mai 2019 erscheinende Aachener Internet-Edition des Codex Madrid I von Leonardo da Vinci, die anlässlich des 500. Todestages da Vincis herausgegeben wird. Lohrmann stellte Auszüge des Codex vor, der insgesamt mehr als 1500 Zeichnungen und Skizzen enthält. Er analysierte anhand des 1965 wiederentdeckten Dokumentes die Arbeitsweise da Vincis und zeichnete die Entstehungsgeschichte der historisch bedeutsamen technologischen Studien nach. Dabei zeigte Lohrmann auch Verbindungslinien der ein halbes Jahrtausend zurückliegenden Studien da Vincis zu modernen Concentrated Solar Power (CSP) Systemen auf.

Die Dritte Sektion eröffnete MERAL AVCI (Aachen) mit ihrem Habilitationsprojekt. Es ist Teil eines interdisziplinären Gemeinschaftsprojektes von Wissenschaftler/innen der Universität Marburg, der RWTH Aachen, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und des Deutschen Apotheken-Museums Heidelberg. Letzteres stellt eine umfassende Sammlung von Arzneimittelrezepten zur Verfügung, die u. a. hinsichtlich der Entstehung der Informationsinfrastruktur des Gesundheitssystems und deren Entwicklung über einen Zeitraum von vier Jahrhunderten analysiert werden. Das Projekt soll auch einen Beitrag zum Verständnis für das heutige Gesundheitssystem leisten. Nach Abschluss des Projekts sollen die digital erschlossenen Dokumente langfristig in das Digitale Archiv NRW überführt und so der Forschung zugänglich gemacht werden.

Der Beitrag von WOLFGANG MERX und ADJAN HANSEN-AMPAH (beide Aachen) folgt der These, dass die digitale Transformation (Industrie 4.0) – im Gegensatz zu den vorhergegangenen Wellen der Industrialisierung – eine „angesagte Revolution“ sei. Ausgehend von der Entwicklung der Textilindustrie, interpretierten Merx und Hansen-Ampah die gegenwärtige Debatte über die Entwicklung in ein neues, digitales Industriezeitalter mittels des Strategic Science & Technologies (SST)-Ansatzes nach van Lente und Rip (1998). Auf Basis dieses Konzeptes zeigen sie auf, dass Industrie 4.0 als ein „rhetorical space“, sprich als Projektionsraum, aufgefasst werden kann, in dem bekannte technologische Entwicklungslogiken und techno-optimistische Zukunftsszenarien kulminieren.

Den inhaltlichen Abschluss der Tagung bildete der Vortrag von INGO KÖHLER (Göttingen). Auf Basis eines holistischen Ansatzes untersucht er das komplexe Beziehungsverhältnis zwischen Produzent und Konsument sowie zwischen Mensch, Markt und Technik anhand der Geschichte des Automobils. In Zeiten intensiver Debatten über die Zukunft des Verkehrsträgers Automobil stellte Köhler die 1970er-Jahre ins Zentrum seines Beitrages und interpretiert diesen Untersuchungszeitraum als Phase ähnlich intensiver wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. Der Beitrag liefert die Grundlage für ein zukunftsgewandtes Verständnis eines neuen „Managements of Change“, in dem er anhand des historischen Falls untersucht, wie organisationsintern Wissensressourcen erschlossen, selektiert und systematisiert wurden und wie Innovations- und Managementprozesse in die seinerzeitigen gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen eingebettet waren.

Die Beiträge vermittelten einen Einblick in aktuelle Forschungsfelder und zukünftige Chancen, sowie auch dominierende Herausforderungen der technik-, wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung. In den Vorträgen und anschließenden Diskussionen wurde insbesondere die Relevanz und Notwendigkeit von interdisziplinarer Forschung betont und darauf hingewiesen, dass diese zukünftig noch stärker forciert werden müsse. In mehreren Vorträgen wurde daher gefordert, dass Forscher/innen für „fachfremde“ (Lösungs-)Strategien offen sein müssen und dass der Austausch zwischen den Disziplinen hinsichtlich Denkweisen und Methoden essenziell ist – gerade auch vor dem Hintergrund der aktuellen und künftigen Herausforderungen im Umgang mit Datenmassen und Digitalisierungen. In diesem Zusammenhang wurde insbesondere auch die Verbindung von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsperspektiven in der Wissenschaft gefordert. Zukünftige Forschung müsse auf allen Gebieten auch die historisch gewachsenen Erfahrungen miteinbeziehen, um dem Anspruch an holistische Wissenschaft gerecht zu werden.

Konferenzübersicht:

Einführung: Paul Thomes (RWTH Aachen)

Keynote: Christoph Rass (Osnabrück): Next Stop: Big Data?

Sektion I
Chair: Paul Thomes (RWTH Aachen)

Gabriele Gramelsberger (RWTH Aachen): „Augmenting Human Intellect“ mit Hilfe der Maschinen

Michael C. Schneider (Düsseldorf): Ökonomische Dimensionen des Wissens

David Chemeta (Straßburg/Potsdam): Making social sciences more scientific? Gedanken zur Zukunft der Sozialwissenschaften

Sektion II
Chair: Ingo Köhler (Göttingen)

Martin Bartelmus (RWTH Aachen): Auf den Spuren von Mediatoren. Die Akteur-Netzwerk-Theorie und ihre Implikationen für die Technik-, Wirtschafts- und Sozialforschung am Fallbeispiel ´Space Force´

Katharina Loeber (Kassel): Technikgeschichte als Verflechtungsgeschichte? Interdisziplinarität, globale Interpretation und gesellschaftliche Diskussion als Methoden der Erforschung technischen Fortschritts

Dietrich Lohrmann (RWTH Aachen): Was hat der Ingenieur Leonardo da Vinci uns heute noch zu sagen? Zugang, Verständnis, Perspektiven

Sektion III
Chair: Michael Schneider (Düsseldorf)

Meral Avci (RWTH Aachen): Durch das Artefakt zur infra structura – Das Arzneimittelrezept als Zugang zur Gestaltung gesellschaftlicher Infrastruktur (ArlS)

Wolfgang Merx/Adjan Hansen-Ampah (beide RWTH Aachen): Industrie 4.0 – die angesagte Revolution?

Ingo Köhler (Göttingen): Historische Pfade des Design Thinking. Der moderne Automobilbau zwischen Technik- und Konsumentenorientierung


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