NS-Krankenmord und kommunale Gesundheitspolitik: Forschungsbilanz, neue Fragen und die Zukunft der Erinnerung

NS-Krankenmord und kommunale Gesundheitspolitik: Forschungsbilanz, neue Fragen und die Zukunft der Erinnerung

Organisatoren
Fachbereich Kultur und Wissenschaft der Stadt Braunschweig; Geschichtsverein Braunschweig e. V.; Institut für Braunschweigische Regionalgeschichte und Geschichtsvermittlung, Technische Universität Braunschweig
Ort
Braunschweig
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2018 -
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Von
Jannik Brinkmeyer, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Auch wenn die Opfer des nationalsozialistischen Krankenmords nicht dem öffentlichen Vergessen unterliegen, so bestehen doch regionale Unterschiede des Gedenkens. Es existieren öffentliche Erinnerungsformen, während das analytische Wissen aber kaum entwickelt ist und nur wenige Nachkriegsprozesse gegen das medizinische Personal dienen als wesentliche Quellen, sodass die regionale historische Forschung auf dem Stand der 1980er-Jahre verharrt.

In Braunschweig, der damaligen Hauptstadt des ab 1931 von der NSDAP regierten Freistaats Braunschweig, war beispielsweise zuletzt auf Initiative des Vereins „Gedenkstätte Friedenskapelle Braunschweig“ am 31. Mai 2018 ein Mahnmal auf dem Braunschweiger Stadtfriedhof zur Erinnerung an die achtzehn dort beigesetzten, namentlich bekannt gemachten „Euthanasie“-Opfer enthüllt worden. Die Erinnerung bezieht sich also auf die wenigen, während die vielen anderen Getöteten, die anderswo begraben wurden oder deren Grabstätten längst eingeebnet wurde, ohne sichtbares Zeichen bleiben. Die Erinnerung an die einen belässt somit die Namenlosen im Dunkeln. Darüber hinaus fehlt den Arbeiten zu im Rahmen nationalsozialistischer „Rassenhygiene“ erfolgter Zwangssterilisierungen und Krankenmorden eine umfassende Analyse der Vernetztheit der einschlägigen Einrichtungen, wie Neuerkerode oder die auch als Durchgangsstation der T4-Aktion dienende Landes-Heil- und Pflegeanstalt Königslutter, mit dem kommunalen Gesundheitswesen.

Nach einem ersten Vernetzungstreffen der regionalen Akteure wie Gedenkstätten, Kliniken, Gesundheitsamt, Universität oder bürgerschaftlichen Vereinen sollte die im Altstadtrathaus durchgeführte Fachtagung einen Blick über die Region hinaus ermöglichen, um eine Kontextualisierung der örtlichen Befunde zu ermöglichen und Forschung und Erinnerung zusammenzubringen.

Den Auftakt machte HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) mit seinem Vortrag zur ‚Aktion T4’, in dem er zunächst die wellenartigen und mit unterschiedlicher Intensität unternommenen Forschungsanstrengungen der letzten Jahrzehnte skizzierte. In letzter Zeit erfolgt die umfassende Auswertung von Krankenakten, die belegen, dass es bereits in der Anfangsphase der „Euthanasie“ nicht zu wahllosen, sondern durchaus systematischen Tötungen kam. Auch in geographischer Hinsicht sah Schmuhl Nachholbedarf, da zwar Frankreich, Belgien sowie das Rheinland, Westfalen, das Saarland, Bayern oder Wien als relativ gut erforscht gelten, während die Krankenmorde in den besetzten Ländern Osteuropas weitgehend im Dunkeln liegen. Denn die ältere Forschung stützte sich lediglich auf Prozessunterlagen und ließ deshalb außer Acht, dass sich das Morden auch nach dem „Euthanasie“-Stopp vom August 1941 anderorts und in veränderter Form fortsetzte. Beispielsweise ließ die Aktion Brandt in der Praxis eine Übergangszone zwischen tödlicher Vernachlässigung und geplantem Mord entstehen, in der viele Psychiatrieinsassen starben. Schmuhl riet dazu, die stark quantifizierende Forschung zur Zwangssterilisation durch einen biografischen Zugang zu den Opfern zu ergänzen. Die Einbindung von Amtsärzten und kirchlichen Krankenhäusern in die „Aktion T4“ müsste überdies durch weitere Arbeiten aufgeklärt werden.

ANNEMONE CHRISTIANS (München) wies in ihrem Vortrag zur rassenhygienischen Selektion durch kommunale Ämter auf das frühe Einsetzen der nationalsozialistischen Rasseideologie als Kernziel der NS-Gesundheitspolitik hin, die zwischen den Polen Unterstützung und Ausmerzung changierte. Denn gleich 1933 fand im Gesundheitsbereich eine Abkehr von der bisherigen Fürsorgepolitik der Weimarer Zeit hin zu einer gewünschten Kontrolle von Vererbung und Fortpflanzung statt. Infolgedessen entstand eine Art erbbiologisches Fahndungsnetzwerk aus verschiedenen Akteuren wie Gesundheitsämtern oder nazifizierten Gesundheitsarbeitern, zum Zwecke der Zwangssterilisation der aus NS-Sicht erbkranken Personen. Christians machte auf das Fehlen einer synthetisierenden Zusammenschau der diversen lokalgeschichtlichen, professions- oder institutionsbezogenen Untersuchungen zu den Zwangsterilisationen als auch zu den Krankenmorden aufmerksam. Als weitere Desiderata nannte sie die Strukturen und Bedingungen zur Umsetzung der zentralen Vorgaben sowie den nach Kriegsbeginn einsetzenden Paradigmenwechsel. Bei der Zwangssterilisationspraxis verdienen aus ihrer Sicht die Möglichkeit der Einsprucherhebung von Opfern und Verwandten gegen Diagnosen und deren Folgen nähere Untersuchung. Zum Abschluss ihres Vortrages warnte Christians davor, dass aus Einzelbeobachtungen oder biografischen Annäherungen gewonnene individuelle Perspektiven die rassistischen Motive der Nationalsozialisten als Ganzes verwässern könnten.

OSKAR DOHLE (Salzburg) sprach über die „Landesheilanstalt Salzburg“ und gewährte Einblicke in ein noch laufendes Projekt, mit dem das Landesarchiv Salzburg circa 50.000 historische Patientenakten dauerhaft übernimmt, erschließt und durch eine aus Historikern und Ärzten bestehende Arbeitsgruppe auswertet. Obgleich die Schaffung einer quantitativen Faktenlage zur Rolle das Krankenhauses in der NS-Politik und der medizinischen Behandlung in dieser Zeit ein wesentliches Ziel darstellt, umfasst der Untersuchungszeitraum aber den gesamten, durch die vorliegenden Akten abgedeckten Zeitraum. Hierdurch ergibt sich einerseits ein Blick auf die volle Krankengeschichte von Patienten, die bereits vor der NS-Zeit in der Klinik behandelt worden waren. Andererseits kann durch eine Erweiterung des Zeithorizonts untersucht werden, wie die Landesheilanstalt abseits der „Aktion T4“ funktionierte. Dohle wies auf die unterschiedlichen Patientengruppen hin, darunter Wehrmachtsdeserteure oder ausländische Zwangsarbeiter, die in die Heilanstalt aufgenommen wurden, ohne der Aktion T4 oder dem Hungertod zum Opfer zu fallen. Abschließend machte Dohle auf das erst durch Durchsicht aller Patientenakten möglich gewordene Buch „…Trotl bin ich nicht“ aufmerksam, das das kreative Schaffen einiger Insassen der Landesheilanstalt aufzeigt und die Selbsttätigkeit von üblicherweise stigmatisierten Patienten leistet.

MANFRED GRIEGER (Göttingen) erläuterte den Forschungsstand und die Desiderata der nationalsozialistischen Gesundheits- und Vernichtungspolitik in der Region Braunschweig. Der kurze Überblick offenbarte die im Gegensatz zu anderen Regionen bestehenden Lücken, auch wenn die frühe Forschung ein Bewusstsein für die geschehenen Krankenmorde schaffen wollte. Die bisherigen Studien zu Königslutter oder Neuerkerode bleiben dem institutionellen Einzelblick verhaftet, der die Kooperationsstrukturen der verschiedenen Beteiligten ebenso außerhalb der Betrachtung belässt wie die wünschenswert schärfere zeitliche Abgrenzung der Entwicklungsstufen zwischen Zwangssterilisation, „Aktion T4“ und Hunger-„Euthanasie“. Da die Studien durch eine Depersonalisierung der NS-Medizinverbrechen geprägt sind, die anstatt einzelner Handelnder Institutionen oder Kliniken benennen, rief Grieger zu einem stringenten Akteurs-Konzept nicht nur für Täter auf, sondern auch für die Opfer. Die „vergessenen Opfer“ bräuchten ihre Namen und ihr Geschlecht. Er appellierte mit Blick auf das Vorhaben in Salzburg, die Lücke in der Forschung anhand von Untersuchungen verschiedener Einzelschicksale zu schließen.

JENS-CHRISTIAN WAGNER (Celle) richtete den Blick auf Aufgaben und Problemfelder zukünftiger Vermittlung und skizzierte zunächst die deutsche Erfolgsgeschichte der Gedenkstätten seit den 1980er-Jahren. Zuvor hatte in der Bundesrepublik das Bedürfnis nach Vergessen und Verdrängen bestanden, während in der DDR die politische Instrumentalisierung der NS-Verbrechen dominant war. Dies drückte sich in der Personalausstattung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald aus, die 1987 etwa 200 Mitarbeiter beschäftigte, während auf bundesdeutscher Seite in Bergen-Belsen lediglich ein Angestellter, der Friedhofsgärtner, arbeitete. Der nach 1989 deutschlandweit einsetzende Ausbau der Gedenkstätten ging mit einer Professionalisierung der allgemeinen Standards einher, was eine gute Bilanz ziehen ließe, wenn Wagner nicht einige Felder der deutschen Erinnerungskultur mit wachsenden Unbehagen betrachtete. Die gerade auf politischer Ebene ritualisierten und pathoshaften Formulierungen und Bekenntnisse vom „Nie wieder“ ersetzen nach Ansicht von Wagner ebenso wenig wie die alleinige Erinnerung die kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur. Die politische Beliebigkeit des Gedenkens ermöglicht in seiner Perspektive eine wohlfeile Identifikation mit Opfern und vermittelt das Gefühl moralischer Erhabenheit, solange keine Fragen zu den Hintergründen der NS-Verbrechen, der Mittäterschaft und der Nutznießerschaft der deutschen „Volksgenossen“ gestellt werden. Wagner wies auch auf die Problematik des unscharfen Opferbegriffs hin, der manchmal nur Tote einschließe und Emigrierte außen vorlasse. Mit Blick auf die Gruppe der Kapos betonte er deren ambivalente Rolle: KZ-Häftlinge und damit Opfer, übten viele Gewalt aus und nahmen die Rolle als kriminelle Erfüllungsgehilfen der SS-Macht ein. Gedenkstätten müssten gerade bei der Relativierung von NS-Verbrechen klar Position beziehen, da sie demokratische Erziehungsanstalten zur Vermittlung eines historischen Urteilsvermögens wären. Die Frage nach den Auswirkungen von Rassismus, Indoktrination und Gruppendruck auf die damaligen Akteure, lade dazu ein, für unsere Gesellschaft einen Aktualitätsbezug herzustellen und Schlüsse für das eigene Handeln zu ziehen.

In der abschließenden Diskussion ging es unter anderem um die unterschiedliche Quellenlage etwa bei Patientenakten oder Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht, deren Lücken nicht immer eine biografische Bearbeitung zulassen. Drängende Nachfragen bestanden auch zum datenschutzrechtlichen Umgang mit personenbezogenen Daten, wenn Patientenakten genutzt oder in einer Veröffentlichung Klarnamen von Opfern, Klinikpersonal oder ausgewiesenen Tätern genannt werden. Auch interessierte der Umgang mit Angehörigen. Einigkeit bestand, dass Geschichte nicht nur nettes Beiwerk seien dürfe, sondern als störendes, disruptives Element auftreten müsse, um erkenntnissteigernde Wirkungen zu entfalten. Wagner appellierte, den Blick der Forschung wieder vermehrt auf die 1930er-Jahre und die dem Massenmord vorausgehenden Ausgrenzungsstrukturen zu richten, um für unsere Gesellschaft und das eigene Verhalten in Übergangszeiten Orientierung zu gewinnen. Ob die Fachtagung die erinnerungspolitischen Maßnahmen und die regionale Forschung anzuregen vermag, wird sich zeigen.

Konferenzübersicht:

Annette Boldt-Stültzebach (Braunschweig): Begrüßung und Themeneinführung

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld): Jenseits der „Aktion T4“: Perspektiven der Forschung zu den NS-Medizinverbrechen

Annemone Christians (München): Fördern UND Verfolgen. Die rassenhygienische Selektion durch kommunale Ämter – Grenzen und Potentiale der regionalen Perspektive auf die NS-Gesundheitspolitik

Oskar Dohle (Salzburg): Ein psychiatrisches Krankenhaus in der NS-Zeit – nicht nur aus dem Fokus der Forschungen zur NS-Zeit betrachtet. Die „Landesheilanstalt Salzburg“ und die Gesamt-Auswertung der historischen Krankenakten der Jahre 1849-1969

Manfred Grieger (Göttingen): Nur Königslutter und Neuerkerode? Desiderata einer Geschichte der nationalsozialistischen Gesundheits- und Vernichtungspolitik in der Region Braunschweig

Jens-Christian Wagner (Celle): Über die opferzentrierte Erinnerung hinaus? Aufgaben und Problemfelder zukünftiger Vermittlung von nationalsozialistischen Massenverbrechen


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Deutsch
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