Oral History und die historische Forschung zur frühen Kindheit. Quellen, Methoden, interdisziplinäre Perspektiven

Oral History und die historische Forschung zur frühen Kindheit. Quellen, Methoden, interdisziplinäre Perspektiven

Organisatoren
Verbundprojekt „Frühe Kindheit im 20. Jahrhundert“, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2018 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Jakob Fesenbeckh / Maximiliane Nietzschmann, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Der Workshop stand im Zeichen der Reflexion zur interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen den Geschichtswissenschaften und der Entwicklungspsychologie sowie dem gemeinsamen Arbeiten mit Quellen der Oral History. Hierzu luden die Verbundprojekte „Frühe Kindheit im 20. Jahrhundert“ des Historischen Seminars in Heidelberg unter der Leitung von KATJA PATZEL-MATTERN (Heidelberg), ein. Dieser Anlass des Workshops wurde in der Begrüßung durch MAX GAWLICH (Heidelberg) hervorgehoben: Die Interdisziplinarität sollte den Austausch zum Themenkomplex der Frühen Kindheit befördern und die Ausarbeitung neuer methodischer Herangehensweisen an diesen ermöglichen. Fragen nach dem gegenseitigen Nutzen der Zusammenarbeit verschiedener Fachrichtungen sowie das Ausloten von Möglichkeiten und Grenzen standen dabei im Vordergrund. Während der Vormittagssitzungen wurden erste Ergebnisse interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Forscherinnen des Historischen Seminars und des Psychologischen Instituts in Heidelberg vorgestellt. Diese fand im Rahmen des interdisziplinären Marsilius-Projekts „Frühe Kindheit im Wandel. Herausforderungen für Eltern, Kinder und die Gesellschaft“ statt.

Die Historikerin LAURA MOSER (Heidelberg) und die Entwicklungspsychologin WIEBKE EWERS (Heidelberg) präsentierten während des ersten Vortrags ihre Forschungen zum Themenkomplex der Frühen Kindheit sowie ihre jeweilige Arbeitsweise, um Möglichkeiten und Schwierigkeiten des interdisziplinären Arbeitens aufzuzeigen. In ihrer Forschung zum Thema Bindung in der Frühen Kindheit stützte Laura Moser sich auf Oral History, um den Mangel an schriftlichen Quellen von Kleinkindern und über Kleinkinder zu umgehen. In halboffenen Interviews mit Zeitzeuginnen aus dem „Modellprojekt Tagesmütter“ (1974-1979), in welchem das Betreuungsmodell der Tagesmutterschaft erprobt wurde, setzte sich Laura Moser mit der Debatte um die Kinderbetreuung im Kontext zunehmender Frauenberufstätigkeit auseinander. Ziel der Analyse der Interviews war es zudem, den in den 1970er-Jahren beschleunigten Wandel familiärer Beziehungen zu erforschen. Am Beispiel eines Interviewausschnitts analysierte sie die Bindungswahrnehmung einer Tagesmutter im Umgang mit dem ihr anvertrauten Kind. Wiebke Evers untersuchte ebenfalls frühkindliche Bindungssituationen: sie arbeitete mit Daten, Methoden und Instrumenten der Entwicklungspsychologie, um Einflussfaktoren auf die frühkindliche Entwicklung zu erschließen. Dabei stellte sie die Untersuchungsmöglichkeiten der kognitiven Entwicklung, der sozialen und emotionalen Fähigkeiten sowie des Bindungs- und Beziehungsaufbaus zu Bezugspersonen durch Verhaltenstests, Experimente, Fragebögen und Beobachtungen vor. Gelingende Bindung, so Evers, stelle die Basis für die Stabilität des Kindes sowie der Förderung von dessen späterer Unabhängigkeit dar. Somit ist die Erforschung von gelingenden Bindungen zwischen Kind und Mutter, oder Kind und Betreuern, sowie von Bindungsqualitäten, für die Entwicklungspsychologie ein zentrales Anliegen. Der gegenwärtige Untersuchungsgegenstand der Entwicklungspsychologie sei somit ein anderer, als der der Geschichtswissenschaften. Auch der quantitativ-statistische Zugang entspreche nicht der historischen Erkenntnisweise. Die Geschichte böte allerdings die Möglichkeit, diese Arten des Bindungsaufbaus und die Entwicklung des Bindungscharakters über einen längeren Zeitraum zu verfolgen.

Im anschließenden Kommentar von LINDE APELT (Hamburg) wurden die Fragen nach der Verwendung von Oral History-Quellen wieder aufgenommen. Sie betonte dabei die komplexe Kommunikationssituation, welche im Rahmen geleiteter Interviews entsteht. Sie stellte heraus, dass die Ergebnisse von Oral History nicht notwendigerweise in der Faktizität der Antworten liegen, sondern vor allem in subjektiven Wahrnehmungen sowie deren Veränderungen. In der anschließenden Diskussion zur Interdisziplinarität wurde das wachsende Verständnis für die jeweils unterschiedlichen Methoden und Erkenntnisinteressen hervorgehoben. Dabei wurde der Gegensatz eines enthistorisierten quantitativen Erkennens auf Seiten der Entwicklungspsychologie und eines intersubjektiven historischen Verstehens herausgestellt. Im zweiten Vortrag des Tages, den die Psychologin LEYLA KIRRSTETTER (Heidelberg) und die Historikerin KATHRIN KIEFER (Heidelberg) hielten, stand die Kind-Betreuer-Interaktion in Oral History-Quellen im Vordergrund. Die Methodik der Geschichtswissenschaften wurde am konkreten Beispiel Kind-Betreuer-Interaktion in einem Interview einer Tagesmutter, die am „Modellprojekt“ teilgenommen hat, erläutert. Hierbei wurde als Leitthese der Wandel in der Übergabesituation zwischen Mutter, Kind und Betreuerin, aufgestellt. Leyla Kirrstetter interpretierte das Interview aus psychologischer Sicht, um das Verhältnis von psychologischer und historischer Arbeitsweise zu problematisieren. Sie ging in ihrer Analyse der Frage nach der multiplen Beziehungsfähigkeit von Kleinkindern nach. Kirrstetter zeigte am präsentierten Interviewabschnitt auf, wie die Beziehung, die das Tageskind in der bindungstechnisch schwierigen Betreuungssituation zu den Kindern der Tagesmutter aufgebaut hat, als sichere Basis für Exploration dienen kann.

In ihrem anschließenden Kommentar schlug CLAUDIA MOISEL (München) vor, die Oral-History-Interviews für eine Erforschung der Professionalisierung im Bereich der Pflege zu nutzen. Sie betont zudem den gesellschaftspolitischen Kontext des „Modellprojektes Tagesmütter“: Die sozial-liberale Koalition ersann im Zugzwang der Systemkonkurrenz ein Alternativmodell zur in der DDR üblichen Krippe. Moisel betonte auch den Wert der während des Workshops präsentierten Quellen für andere Forschungsbereiche, wie etwa die Migrationsgeschichte. Die Diskussion setzte zwei Schwerpunkte: erstens auf die Neuordnung der Kernfamilie während der 1970er-Jahre durch das Hinzutreten neuer Figuren und zweitens auf die Öffnung von Generationengrenzen über die Einfügung des Kindes in ein größeres Beziehungsgefüge. Der unterschiedliche Blick auf die gleichen Quellen wurde als Potential des interdisziplinären Arbeitens hervorgehoben, gemeinsame Definition der Kernkonzepte, Quellen und Fragestellungen als Grundlage der Fortführung des Arbeitens betont.

BIRGIT NEMEC (Heidelberg) rekonstruierte das Aufkommen und den Wandel von medizinischer Vorsorge und wissenschaftlicher Risikoprävention im Bereich der Schwangerschafts- und Mutter-Kind-Begleitung in den 1960er- bis 1980er-Jahren. Sie bezog ihre Forschungsergebnisse hierbei im Wesentlichen aus der Analyse zweier Quellenbestände: Der erste Quellenbestand bestand aus Akten und Informationsmaterial des Forschungsprojektes „Schwangerschaftsverlauf und Kindesentwicklung“, welches zwischen 1963 und 1977 durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Für Nemec stand diese Praxis beispielhaft für eine neue Verwissenschaftlichung, Risikokalkulation und qualifizierte Begleitung der Eltern-Kind-Beziehung. Der zweite Quellenbestand stammte aus dem Archiv der „Stiftung für das behinderte Kind“, welche Ende der 1960er Jahre gegründet wurde. Sie sollte erstens den Thalidomid-Geschädigten Hilfe zukommen lassen und zweitens, durch genetische Prävention und pränatale Diagnostik, an der „Verhinderung von Behinderungen“ arbeiten. Durch die Stiftung warben Experten für den umfassenden Einsatz humangenetischer Methoden. Für Nemec stand die Tätigkeit der Stiftung beispielhaft für eine neue „Phase der Herausbildung eines humangenetischen Dispositivs“. Die Tätigkeit der Stiftung sei symptomatisch für eine neue Form des Managements von „Risikokindern“, der Subjektivierung von Risikovorsorge in einer Zeit der Ausweitung von Handlungslogiken der Finanzmärkte auf andere gesellschaftliche Sphären zu Beginn der siebziger Jahre. Während in den 1960er-Jahren in der bundesdeutschen Elternschaft Verunsicherung geherrscht habe, sei man in den 1970er-Jahren in eine „kritische Phase“ qualifizierter und expertengeführter Elternschaft eingetreten.

Im zweiten Vortrag des Nachmittags stellte MAX GAWLICH (Heidelberg) Fragestellungen und Perspektiven im Hinblick auf die Erforschung der frühen Kindheit zur Debatte. Der wissenschaftliche Blick auf die frühe Kindheit durchlebte seit den späten 1960er-Jahren einen Wandel, den Max Gawlich in seinem Vortrag durch die Analyse bundesdeutscher Familienpolitik und Familien-, bzw. Kindheitsforschung nachzeichnete. Dem zweiten Familienbericht ging 1974 die Initiation des „Modellprojekts Tagesmütter“ voraus, die damit auf die zunehmende Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und den Wertewandel in der bundesrepublikanischen Gesellschaft reagierte. Ziel des Projektes war es, Wege der Kindesbetreuung und Pflege für Familien zu erproben, in denen die Mütter erwerbstätig waren. Die Entwicklung der Kinder in Tagespflege sollte wissenschaftlich von SozialpsychologInnen und PädagogInnen begleitet und erforscht werden. Insgesamt konstatierte Max Gawlich den Übergang von einer hygienischen, bindungstheoretischen Sichtweise auf die frühe Kindheit während der 1960er-Jahre zu einer Entwicklungs- und sozialpsychologischen Sichtweise in den 1970er-Jahren, welche multiple Beziehungen in den Blick nahm. Diese Verwissenschaftlichung im Umgang mit Kleinkindern wird von Tagesmüttern in den Interviews des Forschungsprojektes „Tagesmutter oder Krippe“ bemängelt. Die Frauen beklagen den Verlust von Intuition in der Erziehungspraxis. Max Gawlich betonte, dass die Reflexivität und Problematisierung während der 1970er-Jahre „Affektivität, Sexualität und Familie“ erfasst habe.

FRANK HENSCHEL (Kiel) stellte in seinem Kommentar Berührungspunkte beider Vorträge dar. In beiden Fällen ging es um die Frage nach der Subjektivierung beziehungsweise Objektivierung der Kindheit. Beide nähmen Akteure von Verwissenschaftlichung in den Blick. So habe Max Gawlich Beispiele für die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ dargestellt, einer „Diskursverschiebung“ von einer Bindungs- zu einer Beziehungstheorie, deren Vorsprecher Sozialwissenschaftler und Entwicklungspsychologen gewesen seien. In Birgit Nemecs Vortrag sei es mehr um Normalisierung, Risikobewusstsein und Kostenreduzierung im Kontext einer neoliberalen „zweiten Moderne“ gegangen, im Sinne Ulrich Becks, um eine neue Gouvernementalität im Umgang mit Risiko.

Während der Debatte im Anschluss an Vorträge und Kommentar wurde von den anwesenden ForscherInnen insbesondere die strikte Trennung der wissenschaftlichen Kontexte, der Genetik und der Sozialwissenschaften, und ihrer spezifischen Praxis, angemerkt. Diese käme etwa in der völligen Abwesenheit der behinderten Kindes in Konzepten des „Modellprojektes Tagesmütter“ zum Ausdruck. Zudem wurde der Kontext der Umweltdiskurse und Bewegungen der 1970er-Jahre hervorgehoben.

In ihrem Schlusswort stellte Katja Patzel-Mattern zwei Perspektiven für weitere interdisziplinäre Forschungen im Bereich der „Frühen Kindheit“ in Aussicht. Zunächst benötige Interdisziplinarität langfristige Fördermittel, da gemeinsame Grundparameter zwischen den Disziplinen erst erarbeitet werden müssten. Die gemeinsame Arbeit sei im Falle der interdisziplinären Projekte des Marsilius-Kollegs noch im Anfang begriffen. Die zweite Perspektive sei die Frage, wie Materialien der Einzeldisziplinen allen Disziplinen der Forschungsprojekte zugänglich zu machen seien. Hierbei ginge es einerseits um Archivierung und Aufbereitung, aber auch um die gemeinsame Analyse von Quellen sowie die Definition von Kernstücken und Kernbegriffen. Ein gemeinsames Setting interdisziplinärer Projektentwicklung müsse entwickelt werden. Besonders deutlich würde diese Notwendigkeit an den in erster Linie quantitativ-objektiven Aussagen der heutigen Bindungspsychologie und dem qualitativ-intersubjektiven Erkenntnisinteresse der HistorikerInnen. Die Konturierung eines gemeinsamen Forschungsinteresses müsse einer zukünftigen Forschung voran gehen. Das besondere Potential der Interdisziplinarität liege in der Historisierung sozialpsychologischer Kategorien, der historischen „Demaskierung von Effizienzerwartungen“ und in der Möglichkeit die geschichtliche Entwicklung von Bindungssituationen abzubilden.

Im Zuge des Workshops wurde deutlich, dass das interdisziplinäre Arbeiten in den vorgestellten Projekten noch am Anfang steht. Die Definition eines für alle Teilprojekte verbindlichen Kindheitsbegriffs, der konzeptuelle Ansätze zur Erforschung der Konstitutionsweise frühkindlicher Subjektivität bereitstellen kann, sollte hier als die Voraussetzung für die methodische Grundorientierung eines solchen interdisziplinären Projektes gewertet werden. Der Workshop konnte in eine solche Richtung erste Weichen stellen.

Konferenzübersicht:

Laura Moser (Heidelberg) / Wiebke Evers (Heidelberg): Audio(-visuelle) Methoden und Quellen – zur frühen Kindheit in der Geschichtswissenschaft und Entwicklungspsychologie
Kommentar: Linde Apel (Hamburg)

Leyla Kirrstetter (Heidelberg) / Kathrin Kiefer (Heidelberg): Interdisziplinäre Forschungsmethoden. Kinder-Betreuer-Interaktionen in historischen Quellen und sozialwissenschaftlichem Material. Bilder / Interviews / Videos
Kommentar: Claudia Moisel (München)

Geschichte der frühen Kindheit als Beziehungsgeschichte?
Max Gawlich (Heidelberg) / Birgit Nemec (Heidelberg)
Kommentar: Frank Henschel (Kiel).

Getrennt forschen, gemeinsam interpretieren? Konzeptuelle und pragmatische Fragen der Interdisziplinarität. Abschlusskommentar und Diskussion
Leitung: Katja Patzel-Mattern (Heidelberg)


Redaktion
Veröffentlicht am